Kapitel 23

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Ich blinzelte. Langsam gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit und ich konnte die Leiter erkennen. Die Stufen knarrten unter meinem Gewicht, als ich sie emporstieg. Oben drückte ich gegen die Falltür, um sie zu öffnen – ohne Erfolg.
„Fuck!"
Ich drückte erneut gegen die Tür, sie bewegte sich aber keinen Millimeter.
„Anna!" Meine Fäuste hämmerten gegen die Tür. „Anna!"
Es kam kein Ton von der anderen Seite der Tür. Moment. Kann Anna mich von hier aus überhaupt hören?
„Scheiße."
Resigniert stieg ich die Stufen hinab, setzte mich auf den Boden, nur um direkt wieder aufzuspringen. Es war eiskalt hier unten – trotz der sommerlichen Temperaturen am Tag. Mein Blick fiel auf die Einmachgläser, und auf die alten Tücher, auf denen sie standen. Ich sammelte alle Stoffe, die im Keller zu finden waren und breitete sie auf dem Boden aus. Seufzend ließ ich mich darauf nieder und stützte meinen Kopf an einer der Regale. Wie konnte ich nur so dumm sein? Ich hätte die Tür absichern müssen. Aber wer wäre auch auf die Idee gekommen, dass sie zufallen würde? Einen Luftzug gab es da oben ja nicht. Nicht, dass ich eines der Fenster aufgelassen hätte. Oder ... hatte ich eines offengelassen? Ich runzelte die Stirn, ich konnte mich nicht erinnern.
„Ist ja auch egal", murmelte ich vor mich hin.
So oder so würde ich vermutlich bis morgen warten müssen, bis Anna aufwachte und mich hier rauslassen würde. Außer sie wachte noch in der Nacht auf und würde merken, dass ich nicht neben ihr lag. Einen unruhigen Schlaf hatte sie allemal.
Fuck! Ich hatte die Haustür noch nicht abgesperrt. Ich atmete tief durch. Das wäre schon ein sehr großer Zufall, würde sie genau heute wieder schlafwandeln und in den Wald wandern. Das Bild von ihr in der verlassenen Hütte schoss mir in den Kopf. Wie ihre weiße Haut in der Dunkelheit zu leuchten schien. Komisch, dass mir ihr Schlafwandeln vorher nie aufgefallen war. Aber ich kannte sie wohl generell nicht gut. So vieles hatte ich bis zu diesem Urlaub nicht bemerkt. Auch ihre seltsame Art manchmal. So ... wütend irgendwie. So ... impulsiv. Ihr Verhalten am Weiher, im Wald und bei den Spieleabenden – als würde sich bei ihr ein Schalter umlegen und sie wurde von der naiven Anna zu einer durchtriebenen Frau. Selbst ihre Sprache änderte sich - normalerweise benutzte sie nie ein auch nur annähernd vulgäres Wort und von jetzt auf gleich warf sie damit um sich. Sie brachte selbst in mir einen gewalttätigen Mann zum Vorschein. Ich hatte vorher nie jemandem körperlichen Schaden zugefügt. Ich war ja selbst nie in einer Schlägerei verwickelt gewesen. Geschweige denn, dass ich Gewalt gegen eine Frau angewandt hätte. Bei Sascha war mir das in den sieben Jahren nicht passiert, in denen wir zusammen gewesen waren, obwohl sie mich oft zur Weißglut gebracht hatte. Aber immer nur innerlich, nach außen hin war ich gefasst geblieben – der verständnisvolle Freund. Wäre es anders gekommen, hätte ich mal auf den Tisch gehauen, etwas gesagt? Wäre sie mir nicht fremdgegangen? Wäre ich noch mit Sascha zusammen? Wäre ich mit ihr hier anstatt mit Anna?Ich schüttelte den Kopf. Die zwei Jahre, seit wir getrennt waren, kamen mir gleichzeitig wie eine Ewigkeit vor, aber auch so, als wäre es erst vor kurzem gewesen. Es machte keinen Sinn, darüber nachzudenken. Nichts machte mehr Sinn. Nicht, seit Sascha weg war. Ich seufzte und fuhr mir durch mein Haar. Anna! Ich sollte mich lieber auf das Hier und Jetzt konzentrieren. Die Vergangenheit war vergangen. Ich konnte sie nicht ändern. Anna war im Gegensatz dazu die Gegenwart. Hier konnte ich etwas bewirken ... oder?
Ein Druck in meiner Blase schreckte mich aus meinen Gedanken. Ich musste pinkeln. Scheiße. Die ganze Nacht würde ich nicht einhalten können. Ich erhob mich von meinem Tücherhaufen und ging zur Leiter. Meine Augen hatten sich mittlerweile vollständig an die Dunkelheit gewöhnt. Oben an der Tür hämmerte ich dagegen.
„ANNA!"
Ich rief so laut, das musste man doch auf der anderen Seite hören!„ANNA!", schrie ich, gefolgt von den hämmernden Lauten meiner Fäuste.
„Ah", ein stechender Schmerz durchzog mich. Scheiße. Ich stoppte in der Bewegung und sah mit zusammengekniffenen Augen auf meine Hand. War das Blut? Ich leckte über die meine Knöchel und hatte einen metallischen Geschmack auf der Zunge. Jap, Blut.
„Anna ...", meine Stimme war mittlerweile so leise, kaum ein Flüstern. Ich seufzte und hangelte mich die Stufen hinab. Dann blickte ich mich in meinem neuen Nachtquartier um. Viel war hier nicht, abgesehen von den mehreren Dutzend Gläsern mit eingelegten Pilzen, Tomaten, Gurken und anderem in den hölzernen Regalen. Ich schnappte mir eines der Einmachgläser und drehte am Deckel, der sich keinen Millimeter bewegte. Meine Kräfte schienen mich verlassen zu haben und meine Blase brannte. Ich nahm all meine Kraft zusammen und versuchte, den Deckel zu öffnen. Dieses Mal gab er nach und ein Essiggeruch stieg mir in die Nase. Die eingelegten Tomaten kippte ich auf den Boden aus – gegenüber von meinem provisorischen „Bett". Hastig zog ich die Hose samt Boxershorts runter und pinkelte in das Gefäß und das brennende Gefühl verebbte endlich. Erleichtert zog ich die Jeans hoch und schraubte den Deckel auf das nun halbvolle Glas.
In eine Ecke gekauert schloss ich die Augen. Je schneller ich schlafen würde, desto schneller würde die Zeit vergehen und ich hier rauskommen. Meine Gedanken rasten jedoch und der unbequeme Boden half auch nicht gerade zu einem ruhigen Schlaf. Letztlich landeten meine Gedanken wie so häufig bei Sascha und dem schlimmsten Tag in meinem Leben. Dieses Bild wurde ich nie los. Saschas Kopf zwischen den Beinen der Frau und der Mann hinter ihr.Als ich zu Markus gezogen war, hatte ich mich zusammenreißen müssen, auch wenn er sich wirklich rührend um mich gekümmert hatte. Am Anfang hatte ich versucht, eine Routine beizubehalten, um das Gefühl zu haben, ich hätte alles unter Kontrolle. Aber dann hatte es mich immer weniger gekümmert. Irgendwann war Markus in ‚mein' Zimmer gekommen und sagte, ich solle mich nicht mehr selbst bemitleiden und endlich rausgehen. In der Zeit war ich nicht mal zur Arbeit gegangen. Ich hatte dort gesagt, ich würde mir eine Auszeit nehmen, bevor ich in Vollzeit als Steuerberater beginne. Zum Glück hatte ich einige Rücklagen, das Geld, das ich eigentlich für Sascha und mich gespart hatte. Für unsere Hochzeit. Für das Haus.Als ich gemerkt hatte, dass Markus' Geduld mit mir zu Ende gegangen war, hatte ich beschlossen, mir doch etwas Eigenes zu suchen. Obwohl er sich nie beschwert hatte, dass ich so lange bei ihm gewohnt hatte. Ich brauchte meine Ruhe. Niemand der mir sagte, ich solle endlich etwas essen. Oder der mich fragte, warum ich schon wieder Bier trank, ich sollte doch auf den Alkoholkonsum achten. Als mein Erspartes immer knapper geworden war, hatte ich zurück ins Leben finden müssen. Also war ich zur Arbeit gegangen und hatte mich ab und zu mit Freunden getroffen. Aber alles war wie in Trance gewesen.
Schließlich war der Brief von Sascha gekommen und ich hatte Angst gehabt. Furcht davor, wieder in dieses Loch zu fallen. Und ich war zu stolz gewesen. Sie hatte mich hintergangen. Andererseits hatte sie gesagt, sie hätte sich geändert und sie hätte sich nur so verloren gefühlt. Ich hätte mich an dem Tag mit ihr treffen sollen. So wie sie vorgeschlagen hatte. Ich war auch dort gewesen, aber zwei Stunden zu früh. Ich wusste nicht, warum. Ich war das Bild von ihr und ihrem befreundeten Paar nicht los geworden. Schließlich war ich doch wieder gegangen. War das die richtige Entscheidung gewesen? Hätte ich ihr die Chance geben sollen, sich zu erklären? Die Tage waren vergangen und ich war wieder in mein altes ich verfallen. Alles war auf Autopilot. Auf Partys war ich ein gern gesehener Gast. Ich riss die richtigen Witze in den passenden Momenten. Stellte ab und zu Fragen, wenngleich ich oft gar nicht zugehört hatte. Das war den Menschen aber egal. Sie wollten reden. Sie wollten, dass sich jemand für sie interessierte, dass sie wichtig und bedeutsam waren. Ich gab ihnen das Gefühl.
Ich hatte so vor mich hingelebt, bis ich sie gesehen hatte – in einem Buchladen. Anna. Wie sie mit ihrem weißen Kleid und dem gewellten blonden Haar dagestanden hatte. Sie hatte wie ein Engel ausgesehen. Gleichzeitig hatte sie einen schüchternen Blick, so als wäre sie am liebsten unsichtbar. Ich hatte sie angesprochen und sie war rot geworden. In dem Moment hatte ich wirklich gedacht, dass alles nochmal gut würde. Ich hatte die mir unbekannte Frau direkt zu einem Kaffee eingeladen. Das erste Date seit Sascha. Sie hatte „ja" gesagt und ich hatte gemerkt, wie aufgeregt sie gewesen war. Das hatte mir Selbstsicherheit gegeben.
Beim Kaffee hatte ich sie direkt zu einem Date für den nächsten Samstag eingeladen – zu einem Trampolinpark ganz in der Nähe. Dort hatte ich zum ersten Mal ihre Figur in ihren engen Sportsachen gesehen. Das blonde Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden und das stand ihr mindestens genauso gut, wie es offen zu tragen. Sie war so nervös und scheu gewesen, das hatte direkt meinen Beschützerinstinkt geweckt. Danach waren wir auf drei weitere Dates gegangen, bis ich Tages gefragt hatte, ob sie mit mir zusammen sein möchte. Warum hatte ich das so früh gefragt?
Ich schüttelte den Kopf. Die Gedanken führten zu nichts. Vor allem nicht dazu, dass ich endlich einschlafen würde. Warum hatte ich überhaupt mit Anna über meine Zweifel gesprochen? Moment. Vielleicht war es gar kein Versehen, dass die Tür zugefallen ist? Vielleicht hatte sie mich hier eingesperrt? Weil sie nicht wollte, dass ich sie verließ? War sie so verrückt?Nein, sie war zwar anders, als ich bisher gedacht hatte, aber kriminell war sie nicht. Vielleicht war es Falk? Damit er Anna für sich allein hatte? Bei dem Gedanken lief es mir eiskalt den Rücken herunter. Der Mann war mir von Anfang an nicht geheuer gewesen. Erschrocken sprang ich auf. Was, wenn Kai sie gesucht und hier gefunden hatte? Mich sperrte er hier ein und sie entführte er?
„Anna!", rief ich in die Dunkelheit gegen die geschlossene Tür. Ich seufzte. Es hatte doch keinen Zweck. Ich wurde schon paranoid. Kai, Falk, Anna, sie hatten alle nichts mit meiner Situation zu tun. Es war einfach ein dummer Zufall. Ich nahm ein paar der Tücher unter mir hervor und legte sie zwischen meinen Kopf und das Regal. Ein anderes, etwas größeres legte ich als „Decke" über mich - auch wenn sie kaum etwas verdeckte.

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Schritte weckten mich aus meinem Schlaf. Anna! Sie war wach. Ich sprang auf und sackte direkt wieder zusammen. Mein rechter Fuß war eingeschlafen. Ich humpelte die zwei Meter zur Leiter und kletterte umständlich hoch. Oben angekommen hämmerte ich gegen die Tür.
„Anna! Ich bin hier unten! Anna!"
Die Schritte kamen näher. Ja! Bald war ich wieder frei! Zum Glück. Als die Schritte genau über mir waren, verstummten sie. Und dann war kein Geräusch mehr zu hören, abgesehen von meinem schnellen Atem. Mein Fuß kribbelte, aber ich konnte ihn nun endlich ebenso benutzen, um meinen Halt auf der Leiter zu stabilisieren. Sekunden verstrichen und nichts passierte.
„Anna! Ich bin hier unten! Im Keller! Du musst die Tür aufmachen."
Quietschend öffnete sich die Falltür und das plötzliche Licht blendete mich. Reflexartig hielt ich die Hand vor meine Augen.

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