Kapitel 12

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„Hey Anna, tut mir leid. Ich dachte ... ich dachte nach dem, was passiert ist, dass du ... ich-"
„Mach das Gartentor auf!", unterbrach ich Falk.
Er seufzte. „Ich hole den Schlüssel."
Kurze Zeit später kam er wieder, den Schlüssel in der Hand, doch die verharrte über dem Schloss, ohne es zu öffnen.
„Ich geb' dir meine Nummer. Falls etwas sein sollte - falls Leon sich wieder aus dem Staub macht, melde dich bei mir, okay? Ich lass' auch die Finger von dir, versprochen." Dabei hob er beide Hände in die Luft, wisch einen Schritt von mir zurück und fügte hinzu: „Ich will mich nicht zu sehr bei dir einmischen, aber Leon-"
Er brach mitten im Satz ab und sah mich nachdenklich an. „Ruf mich einfach an, falls du jemanden brauchst, okay?"
Ich nickte.
„Gibst du mir kurz dein Handy? Ich speichere meine Nummer ein."
Wortlos griff ich in die Tasche und reichte es ihm.

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Als Leon endlich wiederkam, dämmerte es schon. Er kam rein und sagte kein Wort zu mir. Er packte einen Fisch auf die Arbeitsplatte in der Küche und nahm die Innereien aus ihm. Ich las mein Buch weiter, ich wollte nicht diejenige sein, die den ersten Schritt machte. Er war immer noch derjenige, der es gestern eindeutig übertrieben hatte.
„Wir sollten morgen zurückfahren", sagte er auf einmal.
Ich sah nach oben – Leon stand jetzt vor mir und schaute auf mich herab.
„Das bedeutet für uns?", fragte ich mit monotoner Stimme.
„Ich weiß es nicht."
Wir schwiegen uns an.
„So eine Scheiße!", fluchte er plötzlich.
Überrascht sah ich auf. Er schimpfte selten, zumindest nicht im nüchternen Zustand. Womöglich gab es ja eine Chance? Wollte er uns doch nicht aufgeben? Als Leon nicht weiter redete, versuchte ich, auf ihn zuzugehen.
„Lass es uns noch einmal versuchen, okay? Wir können das hinbiegen. Wenn wir es jetzt hinschmeißen, werden wir es vielleicht bereuen", sagte ich. Leise und fast mehr zu mir selbst als zu Leon, aber ich sprach es aus.
Er starrte zu mir, ohne was zu sagen. Ich wich seinem Blick aus. Als ich wieder zu ihm sah, konnte ich seinen Gesichtsausdruck nicht deuten. Traurig? Enttäuscht? Was es war, es war immerhin keine Wut. Leon und ich sahen uns lange in die Augen. Ich legte mein Buch zur Seite – ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich es nach wie vor aufgeschlagen in der Hand hielt - und stand auf. Er blieb stehen. Ich bewegte mich langsam auf ihn zu. Er verharrte, beobachtete jede meiner Bewegungen genau. Dann war ich vor ihm. So eng, dass sich unsere Fußspitzen berührten. Ich umarmte ihn - er versteifte sich, seine Arme hingen schlaff an seinem Körper herunter. Doch schließlich drückte er mich an sich. Erst leicht, nach ein paar Sekunden fester.
„Es tut mir leid, was gestern passiert ist. Ich war betrunken und blind vor Eifersucht. Ich wollte dir keine Angst machen", flüsterte er.
„Versprochen, dass es nie wieder vorkommt? So etwas wie mit Kai möchte ich nicht noch einmal erleben."
Er nickte.
„Ich meine es ernst. Das, was gestern passiert ist, ging gar nicht. Ich hatte wirklich Angst vor dir."
Leon schluckte und sah mir in die Augen. Auch wenn er mich um mehr als einen Kopf überragte, wirkte er klein.
„Ich ... ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es tut mir leid. Ich wollte dir keine Angst machen."
Als Antwort gab ich ihm einen Kuss auf die Wange. Auch wenn ich es ihm verzieh, fühlte ich mich seltsam. Als wäre ich gar nicht ich, sondern würde einem anderen Paar zuschauen.

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Leon und ich spielten Schach, das Wohnzimmer von einer Stehlampe erleuchtet. Er hatte die weißen Figuren und ich die schwarzen. Er war ein guter Schachspieler, konnte lange über verschiedene Züge und mögliche danach nachdenken. Ich langweilte mich dabei. Aber es war sein Lieblingsspiel und eine Gelegenheit für mich, unsere Situation in Ruhe zu reflektieren. Für Leon schien die Welt wieder in Ordnung zu sein. Er sah konzentriert auf das Schachbrett, eine winzige Falte bildete sich zwischen seinen Augenbrauen.
Sophie hatte ich nach seiner Rückkehr eine kurze Whatsapp Nachricht geschickt, damit sie sich keine Sorgen machte. Von ihr kamen drei Herzen zurück und die Botschaft, dass ich mich melden solle, wenn etwas war. Die zweite Person, die darauf bestand. Falk hatte ich nicht geschrieben. Zur Sicherheit hatte ich den Namen seines Kontaktes zu ‚Tabea' geändert – eine Arbeitskollegin. Nur, falls Leon mein Handy in seiner Eifersucht durchsuchen würde, die nicht einmal zu Unrecht bestand. Der Nachbar hatte tatsächlich Gefallen an mir gefunden. Das war spätestens seit seinem heutigen Versuch mich zu küssen, klar. Das störte mich allerdings nicht so sehr. Das, was mich am meisten störte war, dass es mir gefiel. Es gefiel mir, dass er von mir angetan war. Das passte überhaupt nicht in meinen Lebensplan. Er war sowieso viel zu alt für mich und geschieden. Leon. Leon war derjenige, mit dem ich mir meine Familie aufbauen würde. Die, die ich schon immer wollte. Vor allem, seit Mama gestorben war, und mein eigenes Familienglück zerstört wurde. Aber war Leon wirklich der richtige Mann? Immerhin hatte er gestern eine ganze andere Seite von ihm preisgegeben. Eine Seite, die ich nicht wieder sehen möchte. Bei der Erinnerung lief mir ein eiskalter Schauer über den Rücken.
Plötzlich war da ein Knacksen – es schien von draußen zu kommen. Ich versuchte, aus dem Wohnzimmerfenster zu schauen, konnte aber nichts sehen. Es war zu dunkel und auf unserer Terrasse brannte kein Licht mehr. Ich kniff meine Augen zusammen, um so etwas ausmachen zu können. Dann hörte ich ein Rascheln. Ich sah zu Leon. Er schien nichts zu hören, er war weiterhin fokussiert auf das Schachbrett. Kamen die Geräusche durch den Wind? Ich stand auf, ging zum Fenster und stellte mich so nah wie möglich daran, um besser sehen zu können. Schemenhaft konnte ich unseren Garten ausmachen. Mein Blick schweife über ihn - da waren der Tisch, die Stühle, die Bäume, die ihn umgaben, und die Gartenliege, die nach wie vor mittendrin stand. Aber was war das? Angestrengt kniff ich die Augen zusammen.
Ein Schatten!
Direkt hinter dem Gartentor. Er war etwas höher als das Tor und schmal. Er erinnerte mich an eine menschliche Gestalt – so als würde jemand vor unserem Tor stehen.
Ich nahm mein Handy, schaltete die Taschenlampe ein und leuchtete nach draußen. Doch da war nur die Spiegelung des Lichtstrahls und die des Wohnzimmers. Also öffnete ich das Fenster, um in den Garten leuchten zu können. Alles, was ich schon im Dunkeln ausmachen konnte, war zu sehen. Nur nichts vor dem Gartentor. Hatte mein Gehirn mir einen Streich gespielt? Ich drehte mich um und ließ schreiend das Handy fallen.
Leon stand direkt hinter mir.
„Leon! Warum schleichst du dich so an!"
Er sah mich besorgt an.
„Alles in Ordnung?"
„Ich dachte, ich hätte etwas gehört und dann habe ich einen Schatten am Gartentor gesehen. Da ist aber niemand."
Mein Freund sah mich an, sein Blick ernst.
„Ich geh in den Garten und schaue nach." Er nahm sein eigenes Handy, schaltete ebenso die Taschenlampe ein und lief Richtung Haustür. Ich wartete, wagte es nicht mehr, aus dem Fenster zu sehen. Mein Atem schwer, mein Herz raste. Leon kam nach ein paar Minuten wieder ins Wohnzimmer.
„Im Garten war niemand. Aber sag mal, warst du heute Abend noch an der Tür? Als ich vom Angeln wiederkam, hatte ich sie auf jeden Fall geschlossen. Sie stand gerade sperrangelweit auf!"

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