Kapitel 1

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„Ich liebe diesen Song!", sagte Leon und drehte das Radio auf – es lief „In The Air Tonight" von Phil Collins. Ich streckte mich auf dem Beifahrersitz aus und ließ den rechten Arm aus dem Fenster hängen. Mein Haar wehte im Wind. Der frische Duft des Waldes und der von feuchter Erde, erfüllte meine Nase. Leons wärmende Hand lag auf meinem nackten Knie. Rechts und links bahnten Bäume den engen, mit großen Steinen übersäten Waldweg, durch den wir nur langsam und holprig vorankamen. Lächelnd sah ich zu Leon herüber.
„Zwei einhalb Wochen lang werde ich dich ganz für mich allein haben!", verkündete er und zwinkerte mir dabei zu.
Unser erster gemeinsamer Urlaub, dachte ich, während ich mich zufrieden auf dem Beifahrersitz zurücklehnte. Dafür ließ ich selbst den Geburtstag meiner besten Freundin in sechs Tagen sausen. Sophie war jedoch niemand, der einen Groll hegte. Und nach dem, was ich durchgemacht hatte, freute sie sich genauso wie ich darüber, dass ich wieder Vertrauen zu einem Mann fassen konnte. Und vielleicht würde Leon sogar derjenige sein, mit dem ich mir die langersehnte Familie aufbauen konnte. Davon träumte ich schon, seit ich klein war: Hochzeit in Weiß, ein liebevoller Ehemann, zwei Kinder - ein Junge und ein Mädchen – und einen Labrador.
Grinsend lehnte ich mich zu meinem Traummann herüber. Gerade als ich ihm einen Kuss auf die Wange geben wollte, drehte er den Kopf und ich küsste ihn auf seine vollen Lippen. Er lachte.„Hey, pass auf!", rief ich.
Circa zehn Meter vor unserem Auto tauchte ein grau-brauner Wolf auf. Mit aufgerichtetem Kopf starrte er uns an. Leon bremste ruckartig und der Wagen kam zum Stehen. Ich drehte das Radio leiser und sah stirnrunzelnd zu ihm rüber: „Und jetzt?"
„Keine Ahnung, vielleicht geht er ja gleich von allein weg", murmelte Leon.
Das Tier schien uns anzuvisieren.
„Sollen wir hupen?", fragte ich.
„Und wenn er aggressiv wird?", gab mein Freund zurück.
Der Wolf starrte uns weiterhin an.
„Ahhh!!!", schrie Leon auf einmal auf und packte mich dabei an den Schultern. Mein Herz setzte aus.
Dann lachte er los.
„Leon!" Ich schlug ihm spielerisch auf den Arm. „Tu das nie wieder!"
„Tut mir leid, Schatz, aber es war zu verlockend! Du hättest dein Gesicht sehen sollen." Schmollend verschränkte ich die Arme vor der Brust.
„Ach komm schon, Anna. War doch nicht so gemeint."
Leon gab mir erst einen Kuss auf meine Wange, dann auf das Ohr und zum Schluss auf den Mund.
„Bist du sauer?", fragte er mit geschürzten Lippen.
Bei seinem Anblick konnte ich nicht anders und prustete los.
„Ha! Du kannst mir nicht lange böse sein!", stellte er triumphierend fest. „Aber es sieht so aus, als müssten wir ein wenig länger warten." Er machte eine Kopfbewegung in Richtung des Wolfs.
Recht hatte er. Das wilde Tier stand seelenruhig auf dem Waldweg und ließ sich nicht von uns beirren.
„Hmm ... gibt es denn keinen anderen Weg zum Ferienhaus deiner Eltern?", erkundigte ich mich.
„Nein, leider nicht. Bloß der. Und er führt an Mr. Wolf vorbei, der uns erst die Durchfahrt gewähren muss. Vielleicht solltest du ihn nett fragen, ob er uns den Weg freigibt. Soll bei Kühen helfen." Leon sah mich an und wackelte verschwörerisch mit den Augenbrauen.
„Du kannst ja aussteigen und mit ihm reden. Du solltest dich mit Tieren besser auskennen als ich. Immerhin bist du hier das Landkind."
„Oh ... warte! Sieht so aus, als würde er von allein gehen. Schau!", gab Leon zurück.
Der Wolf bewegte sich von der Straße weg, blieb immer wieder kurz stehen, um am Boden zu schnüffeln. Daraufhin sah er erneut nach oben. Zu uns. Doch nach ein paar weiteren Sekunden lief er fort.
„Sooo, weiter geht's!" Leon gab mir einen Schmatzer auf die Wange, drehte das Radio auf und gab Gas. Der kühle Fahrtwind vertrieb die Hitze des Juninachmittags. Es war friedlich hier, weit weg von dem ganzen Lärm und Smog der Stadt. Eine Auszeit vom Alltag – genau das Richtige für mich. Leon hatte recht. Die Zeit fernab von allem würde mir guttun. Es würde uns guttun! Nur wir beide, niemand weit und breit und keinen Kontakt zur Außenwelt. Danach würden unsere Akkus definitiv wieder aufgeladen sein. Und ich würde hoffentlich Frieden finden.

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Wir standen vor einem rostigen, alten Tor, hinter dem sich ein graues Haus befand, das im Wald unterzugehen schien. Das Blau, in dem es ursprünglich mal gestrichen wurde, leuchtete an manchen Stellen durch. Vor dem Häuschen erstreckte sich ein weitläufiger Garten – umringt von hohen Bäumen – der schon bessere Tage gesehen hatte. Darin wuchsen allerlei Pflanzen, auch verschiedenes Gemüse, die Tomaten konnte ich direkt erkennen. Trotz des verwucherten Zustandes hatte der Garten einen gewissen Charme. Nachdem wir zwei Stunden gefahren waren, dreißig Minuten davon durch den Wald, war ich froh, beim Ferienhaus von Leons Eltern angekommen zu sein. Kaum war ich aus dem Auto gesprungen, sah ich mich gespannt um. Vor dem Haus gab es eine Terrasse mit einem Tisch und drei Stühlen, die ebenso rostig waren wie das Tor. Ich folgte Leon, der mit aller Gewalt an der Eingangstür zog – ohne Erfolg.
„Verdammt!", fluchte er und rüttelte am Griff.
„Sicher, dass das der richtige Schlüssel ist?"
„Ja. Die Tür klemmt manchmal", Leon seufzte. Er drehte am Schlüssel, zog mit seinem ganzen Gewicht an der Türklinke und stolperte zurück.
„Na endlich! Meine Eltern wollten die Tür schon vor langer Zeit reparieren. Na ja, zumindest öffnet sie sich wieder!" Er schnappte sich das Gepäck und verschwand im Häuschen. Als ich ihm folgte, schlug mir ein modriger Geruch entgegen – als liefe ich gegen eine Wand. Ich hüstelte, ging einen Schritt zurück, atmete noch einmal die frische Waldluft ein und trat erneut über die Türschwelle. Nun stand ich in einem engen Flur, der lediglich mit einem geräumigen Schrank und ein paar Haken für Jacken ausgestattet war. Dahinter lag das Wohnzimmer, in dem sich eine alte, graue Couch, ein Tisch, eine Vitrine und ein schmaler, hoher Wandschrank befanden. Der Boden knarrte als ich auf den dicken, verstaubten Teppich trat. An der Wand hingen ausgestopfte Tierköpfe – Hirsche und Wildschweine - die mich mit leeren Augen anstarrten. Ich verharrte und blickte in das Gesicht eines Wildschweines, das zu lächeln schien. Nach ein paar Sekunden löste ich mich von ihm und riss das Wohnzimmerfenster auf – die frische Luft strömte in das beengte Zimmer. Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Dann ging ich in Richtung der weiteren Tür, hinter der Leon verschwunden war. Da bemerkte ich auf der rechten Seite den Durchgang zur schmalen Küche, in der gerade mal zwei Menschen Platz finden konnten. Sie war spärlich eingerichtet: ein Campingkocher, ein Vorratsschrank und eine Spüle.
Wieder im Wohnzimmer öffnete ich die einzige weitere Tür und stand nun in einem mit Möbeln aus den 90ern ausgestatteten Schlafzimmer. Auch hier schritt ich direkt zu den Fenstern, um sie aufzureißen. Eine geöffnete Tür in dem Zimmer verriet mir, dass sich dahinter das winzige Bad des Häuschens befand. Ich ging zurück ins Wohnzimmer und mein Blick blieb erneut beim lächelnden Wildschwein hängen. Wie hypnotisiert sah ich dem Tier in die Augen. Ob es gemerkt hatte, dass es nun starb? Oder war es direkt tot gewesen?
Eine Hand legte sich plötzlich auf meine Hüfte. Vor Schreck schrie ich auf, drehte mich um und sah in Leons Gesicht.
Er lächelte mir zu: „Na? Gefällt es dir?"
„Es ist bezaubernd. Schön, dass du uns hergebracht hast!", zirpte ich Leon entgegen.
„In dem Haus gibt es nur über Solarzellen Strom. Deshalb müssen wir damit sparsam umgehen. Das ist der Grund, warum wir hier keinen Kühlschrank haben. Aber wir werden die drei Wochen sicherlich ohne überleben."
Das Blut wich aus meinem Gesicht, mir wurde schwindlig. Halt suchend stützte ich mich an die Wohnzimmerwand. Bilder von schwarzen Schatten in der Finsternis jagten durch meinen Kopf.„Das heißt ... das heißt, ich kann das Nachtlicht nicht benutzen?"

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