Kapitel 13

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Leon rückte geräuschvoll den Stuhl zurück, stand auf und verschwand auch schon in den Garten, während ich mir gerade einen Löffel voll Haferflocken und Erdbeeren in den Mund schob. Wir hatten uns zwar die letzten zehn Minuten angeschwiegen, trotzdem hätte er ja auf mich warten können, bis ich fertig mit Frühstück war.
Ich seufzte. So wichtig war das ja nicht. Wir hatten uns vertragen und das war das Einzige, was zählte. Vielleicht würde Leon doch der Mann sein, mit dem ich mir mein Leben aufbauen würde – Haus mit Garten, liebender Ehemann, Kinder und ein Labrador.
Ich folgte Leon und sah, dass er die Äste absägte, die zu weit von den Bäumen in den Garten hingen. Mein Blick schweifte zum Gartentor – da, wo ich gestern noch jemanden gesehen hatte. Oder etwas? Gemütlich schlenderte ich durch die Grünfläche und hielt am Tor inne. Leon sollte nicht merken, dass ich wirklich daran glaubte, dass jemand vor dem Tor gestanden hatte. Nach dem Schlafwandeln und meiner Angst im Dunkeln würde er mich auch noch für paranoid halten.
Aber am Tor war tatsächlich nichts. Nur die Gitterstäbe, ein paar Bäume und der Waldweg, der dahinter lag. Vielleicht wurde ich wirklich verrückt.
Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass ich nichts übersehen hatte, legte ich mich auf einer der Gartenliegen, um mich zu sonnen. Nicht, dass es bei mir viel bringen würde, aber immerhin einen Ton dunkler als kreidebleich wollte ich in diesem Sommer schon sein. Manchmal konnte ich nicht anders und beobachtete Leon. Er schien so normal. Wir schienen so normal. Reagierte ich über? Jeder verlor mal die Fassung. Wenn sich ein Mann bei einer Frau nicht mehr zusammenreißen konnte, wurde es direkt schlimmer wahrgenommen, als umgekehrt.
Schnaufend schüttelte ich den Kopf – es war auch etwas anderes. Wenn ich Leon gegenüber gewalttätig würde, konnte er mich fest- und davon abhalten. Andersrum eher weniger. Die Gedanken in meinem Kopf rasten – als würden zwei Stimmen durcheinanderreden und diskutieren. Ich versuchte, die Gedanken zu sortieren und die warnenden Stimmen zu ignorieren. Leon war nicht Kai und ich sollte nicht direkt überreagieren, nur weil ich schlechte Erfahrungen gemacht hatte. Sicherlich war ich einfach nur paranoid und interpretierte zu viel in seine Stimmungsschwankungen hinein. Das war ja kein Wunder bei meiner Vorgeschichte. Aber nichts sollte sich meinem Ziel – unserem Ziel – der glücklichen Familie, in den Weg stellen. Beziehung war doch auch Arbeit, oder nicht? Zumindest sagten das immer alle.Ich sprang voller neuer gefasster Entschlossenheit von der Liege auf und lief zu ihm rüber.
„Kann ich dir helfen?", fragte ich, meine Stimme so entspannt, wie mir möglich war.
Leon sah von seiner Leiter zu mir herunter.
„Ja, wenn du möchtest, kannst du alles, was herunterfällt, sortieren und entsorgen. Die großen Äste müssen von den kleinen getrennt werden. Und dann kommen sie neben das gesammelte, gehackte Holz und dem Baumstumpf, den ich zum Holzhacken verwende. Das können wir im Winter für den Kamin benutzen und ansonsten zum Grillen. Der Rest des Grünschnitts kommt in den Kompost. Am besten zerkleinerst du es vorher aber noch etwas."
Wir arbeiteten schweigend. Schweiß lief mir den Rücken herunter, dennoch bereitete es mir Spaß. Es war außerdem eine gelungene Ablenkung und besser, als mit meinen Gedanken allein zu sein. Die Bedenken über Leon ließen mich trotz der Abwechslung nicht in Ruhe. Wie viel wusste ich über ihn? Wieso war er überhaupt mit dreißig Single? Wann war seine letzte Beziehung und warum ist sie in die Brüche gegangen? War er da ebenso aufbrausend und launisch wie bei mir gewesen?
Ich war ihm schon nach drei Monaten in ein Häuschen in den Wald gefolgt. Einem Mann, den ich eigentlich kaum kannte. Das war vielleicht auch nicht die beste Entscheidung gewesen.
„Wie lange warst du denn vor mir Single?", schoss es aus mir heraus.
Leon sah mich überrascht an. Wir hatten bisher während der Gartenarbeit kein Wort gewechselt.
Er schien darüber nachzudenken.
„Ich denke so zwei Jahre, warum fragst du?"
„Aus welchem Grund ist es denn damals zwischen euch zu Ende gegangen?"
„Ist das wichtig für dich?"
„Ich möchte es gerne wissen. Schließlich habe ich dir auch von meiner letzten Beziehung erzählt."
„Es hat irgendwann einfach nicht mehr gepasst. Sascha und ich waren doch zu unterschiedlich. Sie war eine Lebefrau, nahm das Leben überhaupt nicht ernst. Hat sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten, nachdem sie ihr Lehramtsstudium beendet hatte, anstatt mit dem Referendariat zu beginnen. Sie war oft gereist – immer allein - manchmal war sie zwei Monate weg, bevor sie wiederkam. Das hat alles nicht gepasst. Ich wollte mir ein Leben aufbauen, einen festen Job, Frau, Haus, Kinder und am liebsten auch einen Hund. Das ganze Paket eben. Sascha wollte reisen, feiern, leben und alles an Spaß und Erlebnissen mitnehmen, was möglich war. Einem richtigen Job nachzugehen oder Geld zu sparen, kam ihr gar nicht in den Sinn."
Leon seufzte und sah gedankenverloren in die Ferne.
„Oh und deshalb habt ihr Schluss gemacht, weil ihr Verschiedenes vom Leben wolltet?"
„Deswegen nicht. Ich wollte nicht so schnell sieben Jahre Beziehung wegwerfen. Also habe ich ihre unzuverlässige und impulsive Art lange mitgemacht. Als wir uns kennenlernten, hatten wir solche Probleme nicht. Wir haben beide studiert, aber auch gemeinsam oft getrunken, einen geraucht und über das Leben philosophiert. Wir haben immer gesagt, dass wir uns einen Wohnwagen kaufen und durch die Welt reisen würden, nie lange an einem Ort sein. Unsere Kinder wollten wir selbst unterrichten. Letzten Endes würde man doch sowieso viel mehr lernen, wenn man die Welt sieht und sie erlebt und nicht immer nur in ein und derselben Stadt, im selben Klassenzimmer festsitzt. Was waren wir naiv."
Leon schnaubte. Ich sagte kein Wort, um seinen Redefluss nicht zu unterbrechen.
„Uns kam aber das Leben dazwischen. Ich wollte Steuerberater werden. Nach dem Bachelor arbeitete ich in einer Steuerberatungskanzlei, um mich für das Examen zu qualifizieren. Ich stand kurz davor. Einen Großteil meiner Zeit verwendete ich dafür, mich für die Prüfung vorzubereiten. Das hat mich fast vollständig eingespannt. Es war nicht möglich, das Leben in dem Ausmaß wie früher zu genießen. Das ständige Ausgehen und Betrinken mit unseren Freunden. Abends einen rauchen und stundenlang über Gott und die Welt diskutieren. Ich entwickelte mich weiter, wollte ‚erwachsen' werden, Sascha nicht. Während ich am Abend am Laptop und vor meinen Unterlagen saß, war sie draußen unterwegs. Oder sie war komplett high und hat sich den ganzen Tag laut lachend YouTube Videos angesehen. Das hat mich alles so wütend gemacht! Irgendwann waren die Freunde, mit denen sie ausging, nicht mehr unsere Freunde. Sie hatte neue, die ich kaum kannte."
Er verstummte, sägte einen weiteren, dickeren Ast ab, den er dann neben mich warf. Dann setzte er fort: „Für den Prüfungstag hatten wir ausgemacht, dass sie mich abholen würde und wir erst zusammen schick essen - ich hatte extra reserviert - und danach feiern gehen. So wie früher. Den Abend genießen. Nach der Prüfung habe ich vor dem Gebäude auf sie gewartet. Sascha kam nicht. Ich wartete eine Stunde lang, bis ich aufgab. Ich konnte es nicht glauben. Für mich war die Prüfung so ein Meilenstein. Wie konnte sie es vergessen? Ich habe sie, während ich gewartet hatte, mehrfach angerufen - ohne Erfolg. Schließlich rief ich meinen besten Freund, Markus, an und fragte ihn, ob er Lust auf ein schickes Essen hätte und danach gemeinsam die Prüfung feiern wollte. Er hatte glücklicherweise Zeit und so war der wichtige Tag für mich wenigstens nicht vollständig versaut."
Leons Augen glänzten, während er gedankenverloren in die Ferne starrte.
„Irgendwann rief Sascha an und fragte, ob alles okay sei, ich hätte sie so oft angerufen. Weißt du, was das Schlimmste war? Sie klang besorgt. Sie hatte es komplett vergessen und konnte sich nicht erinnern, was wir geplant hatten. Ich sagte ihr, dass alles in Ordnung sei. Dass ich mit meinem besten Kumpel unterwegs bin und dass ich bei ihm schlafen werde. Sie brauche nicht auf mich zu warten. Ich hatte keine Lust, ihr zu begegnen. Aber im Laufe des Abends und je mehr Alkohol floss, desto mehr wollte ich sie zur Rede stellen. Also beschloss ich - gegen drei Uhr nachts – nach Hause zu gehen."
Seine Stimme zitterte. Ich schluckte. Sollte ich etwas sagen? Die Minuten vergingen, es schien, als würde Leon um Fassung ringen und seine nächsten Worte suchen. Mucksmäuschenstill blieb ich stehen. Wagte es nicht einmal, laut zu atmen. Zu sehr wollte ich wissen, was passiert war, und hatte Angst, dass jegliches Geräusch ihn von der Geschichte in die Gegenwart versetzen könnte und er sie dann doch nicht mehr erzählen würde. Er räusperte sich und strich sich eine Träne weg.
„Ich ... hey tut mir leid, lass uns einfach weiterarbeiten! Ich denke, es ist keine Story, über die ich mit dir sprechen sollte", sagte er nach längerem Warten.
„Du kannst mir alles erzählen! Das gleiche, was du zu mir gesagt hast, kann ich dir nur zurückgeben. Ich will alles über dich wissen. Dazu gehört auch deine Vergangenheit."
„Wir reden ein anderes Mal über Sascha, lass uns lieber weitermachen, wir wollen heute ja noch fertig werden."
Als Leon ihren Namen sagte, spürte ich einen Stich im Herzen. Mein Magen zog sich zusammen.
Ähnlich, wie damals, als er mit der Kellnerin geredet hatte. Es störte mich, dass die Geschehnisse ihn nach so langer Zeit immer noch mitnahmen. Er konnte nicht einmal darüber reden. Liebte er sie immer noch?

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