Kapitel 33

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(Sicht Leon)

Ich rannte aus dem Haus. Mein Herz pochte so stark, ich dachte, es würde mir aus der Brust springen. War Anna hinter mir? Ich vergeudete keine Sekunde damit, mich umzuschauen. Im Garten hinter dem Haus suchte ich den Boden nach den Schlüsseln ab. Nichts. Im Unkraut? Ich kniete nieder, riss es zur Seite, meine Hände voller Erde. Ich musste hier weg. Da!
Ich hatte sie! Triumphierend hielt ich die Schlüssel in der Hand.
Plötzlich hörte ich es. Klick.
„Lass die Schlüssel fallen!", sagte eine Stimme hinter mir.
Eine kalte Stimme. Ich sah langsam über meine Schulter, selbst wenn ich die Bestätigung nicht gebraucht hätte. Anna stand hinter mir und hielt das Jagdgewehr in der Hand. Sie zielte auf meinen Kopf. Ich ließ die Schlüssel fallen.
„Aufstehen."
Ich gehorchte ohne Widerworte.
„Geh ins Haus."
Ich ging Richtung Haustür, meine Gedanken rasten. Konnte ich sie überwältigen? Ihr die Waffe abnehmen? Aber sie war verrückt. Würde sie schießen, wenn ich versuchen würde, sie ihr abzunehmen? Meine Hände waren kalt, obwohl die Sonne heiß glühte. Als ich im Haus stand, traute ich mich endlich, mich umzudrehen. Anna stand vor mir, das Gewehr in der Hand. Doch sie sah nicht so kalt und gelassen aus, wie ihre Stimme klang. Sie schien sogar nervös zu sein! Sie schwitzte und sah hektisch hin und her, so als würde sie nicht wissen, was sie machen sollte. Das war meine Chance!
„Setz dich auf den Stuhl", sie nickte zu einem der Wohnzimmerstühle.
Ich setzte mich. Anna ging zum Flurschrank, ohne auch nur einmal ihre Augen von mir abzuwenden. Die Waffe fest in der Hand. Sie kramte im Schrank, ohne hineinzuschauen. Ihr Blick blieb auf mich gerichtet. Würde ich es schaffen, zum Schlafzimmerfenster zu rennen? Aus dem Fenster zu springen? Und dann? Wohin sollte ich? Scheiße. Selbst wenn, das Gartentor war verschlossen. Das funktionierte doch alles nie im Leben. Nicht, wenn sie eine Waffe hatte. Und ich war mir sicher, dass sie sie benutzen würde. Fuck. Meine einzige Chance war, ihr die Waffe abzunehmen. Sie warf mir ein Seil zu.
„Festbinden."
„Ich soll mich selbst festbinden? Wie soll das denn funktionieren?", versuchte ich, Zeit zu schinden.
Ich musste nachdenken.
„Festbinden oder ich muss dir ins Bein schießen. So oder so. Du bleibst."
Ich versuchte umständlich, mich festzubinden, was kein leichtes Unterfangen war. Aber es war auch meine Chance. Ich schwang das Seil hinter mich, danach machte ich mich so breit wie möglich und band den Strang vorne zu einem Knoten. Es sah fest aus, aber wenn ich ausatmete, könnte ich es locker über meinen Kopf ziehen und ihr die Waffe wegschnappen!
Leider war Anna ebenfalls nicht zufrieden. Sie sah mich skeptisch an, ihre Stirn in Falten gelegt.
„Anna. Du musst das nicht tun."
Keine Reaktion von ihr. Als würde sie mich gar nicht wahrnehmen.
„Anna. Mein Engel. Du musst das nicht tun. Lass uns doch reden. Binde mich los", sagte ich mit einer hoffentlich beruhigenden Stimme, auch wenn ich merkte, dass sie zitterte.
Sie lachte.
„Ich bin nicht Anna. Ich bin Liv. Und keine Sorge, wir reden gleich."
Was? Wie meinte sie das, sie sei nicht Anna, sondern Liv? Sie wühlte wieder im Flurschrank. Die Zeit, in der sie kurz von mir wegsah, würde nicht reichen, um das Seil über den Kopf zu ziehen und sie zu entwaffnen.
Sie warf mir Kabelbinder zu.
„Um deine Fußgelenke. Festziehen."
„Wie ... wie meinst du das? Du seist nicht Anna?"
„Wir können gleich reden. Erstmal musst du den Kabelbinder umlegen."
„Anna ... Liv, bitte."
Sie starrte auf meine Hand, die den Kabelbinder fest umschloss, keine Regung war in ihrem Gesicht zu sehen. Also gab ich vor mich ungeschickt ans Werk zu machen.
„Ich glaube, das schaffe ich nicht. Du musst mir helfen!"
Sie lachte.
„Mein Angebot steht. Entweder du schaffst es oder ich schieße dir ins Bein. Dieses Mal werde ich die Beziehung nicht wieder kaputt machen. Dieses Mal werde ich die Beziehung retten. Für Anna. Selbst wenn es bedeutet, dass du dich erstmal selbst fesseln musst. Du wolltest mir anders ja nicht zuhören."
Die Beziehung für Anna retten? Von was redete sie da? Ich schluckte und zog mit zittrigen Händen den Kabelbinder fest.
„Noch fester!"
Ich zog ein weiteres Mal. So schnell würde ich doch nicht mehr hier rauskommen.Anna oder auch ‚Liv' schnappte sich ebenso einen Stuhl und setzte sich mir gegenüber. Ich sah sie schweigend an.
„Mein Name ist Liv. Anna und ich, wir kennen uns schon, seit sie acht Jahre alt ist. Sie ... Sie hat viel durchgemacht und ich bin für sie da. Damals schon gewesen und heute auch noch. Das mit Kai ... Kai war ein Arschloch! Er war zwar manchmal romantisch, aber meistens hat er sie behandelt wie Dreck! Und Anna? Sie hat es mit sich machen lassen. Hauptsache, sie wird geliebt. Ich musste eingreifen. Ich habe immer wieder versucht, ihn zur Gesinnung zu bringen. Ihm klarzumachen, dass er Anna endlich mit Respekt behandeln soll. Und nicht wie seinen Hund, der ihm immer hinterher dackelt. Er fand das aber überhaupt nicht gut. Ist ausgerastet. Anna hat es leider immer wieder mitbekommen. Sie gibt nicht gerne die Kontrolle über unseren Körper ab. Und wenn sie es tut, dann will sie sie schnell wiederhaben. Es war nicht leicht, ihr zu helfen." Sie stockte.
Fassungslos folgte ich ihren Worten. Ich hatte schon einmal von so etwas gehört. Es war nicht Schizophrenie. Eine dissoziative Persönlichkeitsstörung? Wenn mehr als eine Identität im selben Körper ‚wohnte'? Aber war das nicht Humbug? War man nicht ganz einfach verrückt und schob es auf verschiedene Persönlichkeiten?
Ich musste so tun, als würde ich es glauben. Anders käme ich hier nie raus und würde nie erfahren, ob Sascha lebte. Doch dann beschlich mich ein anderer Gedanke. Das Blut wich aus meinem Kopf.
„Hast du ... hast du mich im Keller eingesperrt?"
Sie seufzte.
„Du wolltest es mit uns beenden. Du hast auf einmal an unserer Beziehung gezweifelt. Als ich aus dem Schlafzimmer kam und du gerade im Keller verschwandst, ging alles so schnell. Ich weiß auch nicht. Auf einmal habe ich die Tür ins Schloss fallen lassen. Und dann stand ich einfach nur da. Du hast gegen die Tür gehämmert und ich wusste, wenn ich dich jetzt herauslassen würde, würde ich verdächtig wirken. Also schlich ich mich ins Bett und habe versucht, deine verzweifelten Schreie auszublenden."
„Aber ... aber dann hast du mich doch am nächsten Tag sowieso wieder herausgelassen. Warum das Ganze?"
„Anna hat dich befreit, nicht ich."
„Aber trotzdem. Was hat es dir gebracht?"
Abrupt sprang sie vom Stuhl auf und begann auf und ab zu laufen.
„Das ist doch überhaupt nicht wichtig! Ich habe überreagiert. Klar, dass Anna oder ich dich irgendwann da wieder rausgeholt hätten."
„Und was hast du mit Kai gemacht? Warum hast du ihn umgebracht?", versuchte ich betont sachlich zu fragen - ich wollte sie nicht noch mehr aufregen.
„Ich habe ihn nicht töten wollen!", brüllte sie mir entgegen.
Eine Vene an ihrer rechten Schläfe pochte.
„Er wurde handgreiflich, ich habe mich verteidigt. Ich habe ihn von uns gestoßen. Auf einmal lag er auf dem zerbrochenen Glastisch im Wohnzimmer. Ich wollte ihm helfen. Habe die Splitter aus ihm rausgezogen. Da war so viel Blut. Schließlich hat er aufgehört zu atmen."
Ich schluckte. Meine Fußgelenke pochten unter dem Kabelbinder.
„Wie ... wie hast du ihn beseitigen können? Er war sicherlich viel zu schwer? Und was war mit der Polizei?"
„Die Bullen haben nie gesucht. Vor allem nicht an seinem Todestag. Noch in der Nacht habe ich ihn in den Wagen geschafft. Im Anschluss bin ich in den Wald gefahren, bis ich nur noch zu Fuß weiter konnte. Ich zog ihn so weit, bis mich meine Kraft verlassen hat. Letzten Endes habe ich ihn vergraben. Niemand, selbst Anna hätte im Traum nicht daran gedacht, dass er tot sein könnte. Lediglich sein Bruder, Robert, machte Anstalten, mir auf die Schliche zu kommen. Aber er wäre nie auf die Idee gekommen, dass sein Bruder, nach dem er immer wieder gefragt hat, schon wochenlang tot war."
Livs Stimme war sachlich, dennoch stand sie mit geschwollener Brust und hoch erhobenem Kopf vor mir.
„Aber wie ... wie kann das niemand gemerkt haben?"
„Ich schrubbte alles mit Bleiche sauber. Ich habe sogar einen neuen Wohnzimmertisch gekauft und einen Teppich. Zwei Wochen lang tat ich so, als wäre Kai noch da. Ich kannte seine Handy-Pin und konnte so sein Leben aufrecht erhalten. Ich reagierte nicht nur auf Nachrichten, die an ihn gesendet wurden, sondern schrieb selbst welche an seine Kontakte. Selbst auf seinen sozialen Medien war er aktiv. Auf der Arbeit meldete ich ihn krank. Ein gefälschtes Attest sandte ich per Post. Nach zwei Wochen war es an der Zeit, den letzten Schritt in die Tat umzusetzen."Ich sah sie an, aber meine Gedanken rasten. Ich musste hier raus.
Liv fuhr mit ihrer Erzählung fort: „Eines Abends verpasste ich mir selbst ein blaues Auge, schmiss mich gegen die Wand. Schrie und bettelte ‚Kai, bitte, tu das nicht'. Danach trank ich eine Flasche Wodka. Es sollte uns komplett aus dem Leben schießen, damit alles glaubhaft war. Als Anna am nächsten Morgen wach wurde und die Schmerzen ihres Lebens hatte, hat sie eins und eins zusammengezählt. Sie konnte sich zwar nicht erinnern, aber ihr war direkt klar, was passiert sein musste. Sie sah die leere Wodkaflasche neben sich. Voller Angst und halb benommen ist sie zum Spiegel gelaufen und erlitt sie einen Schock. Sie ging zur Polizei und zeigte Kai an. Da Annas Alkoholpegel extrem hoch war, erklärte das, dass sie sich an die Erlebnisse des vergangenen Abends nicht erinnern konnte. Zusätzlich gab es ihre Verletzungen und Lärm der Nacht, was der Polizei von den Nachbarn erzählt wurde. Alles passte, so wie es passen sollte."
Ungläubig starrte ich sie an, während ich an meine Flucht dachte. Sie fuhr fort: „Kai wurde nie gefunden und die Polizei äußerte die Vermutung, er hätte sich im Ausland abgesetzt. Die Bullen meinten zwar, sie würden sich kümmern, aber von denen kam nicht mehr viel."
Die mir nun fremd wirkende Frau stoppte mit ihren Erzählungen und lächelte triumphierend.
„Robert meinte, es wäre nasse Wäsche in der Waschmaschine gewesen?"
„Ach ja, mit Robert hast du ja gesprochen."
Liv lachte.
„Die Waschmaschine hatte ich extra gestartet. Mit Kais und Annas Kleidung. Es sollte so aussehen, als wäre er im Affekt gegangen. Außerdem kam so niemand auf die Idee, dass er schon seit zwei Wochen tot war."
„Und ... und hattest du hier in unserem Urlaub auch öfter die ‚Kontrolle' über Anna? Habe ich schonmal mit dir geredet und nicht mit ihr?"
Ich schluckte – bei dem Gedanken daran, dass ich sie geküsst haben könnte, wurde mir schlecht.
Liv schnaufte.
„Ich musste doch immer wieder die Kontrolle über unseren Körper übernehmen! Was hast du dir dabei gedacht, als du mit ihr so spät noch im dunklen Wald warst? Da musste ich sie nach Hause führen. Sie wollte unbedingt zurück! Das hat sie dir von Anfang an gesagt! Und du? Du hast nur an dich und dein Vergnügen gedacht!", gab sie wütend zurück.
„Deshalb bist du gegangen! Ich habe kurz weggesehen und konnte dich nicht mehr finden. Und dann hast du mir auch noch gesagt, ich hätte dich stehen lassen!"
Auf einmal machte es Sinn. Auf einmal machten so einige Sachen Sinn.
„Dass du uns allein gelassen hast, habe ich nicht behauptet. Das war Anna! Sie hat leider die Kontrolle übernommen, bevor wir zuhause waren, und war in Panik verfallen. Hätte sie es sein lassen, wäre sie in Windeseile zurück am Haus gewesen und hätte keine Angst mehr haben brauchen. Du hättest ja folgen können. Letztendlich war es deine Schuld, dass sie in der Situation war."
Ihre Stimme klang trotzig, als würde sie sich vor mir rechtfertigen. Oder sogar vor sich selbst.
„Und ... und am Fluss im Wald? Das warst du? Du hast mich da extra mit ins Wasser gezogen, oder? Nachdem du nach oben getaucht bist und ich dir meine Hand reichte, um dir herauszuhelfen?", fragte ich zögerlich.
Ein höhnisches Lachen ertönte.
„Ja klar! Du warst an allem schuld, das hattest du verdient! Außerdem war es nur Spaß. Du hast danach echt überreagiert. Die beleidigte Leberwurst gespielt. Und die arme Anna wusste überhaupt nicht, was los war."
Sie rollte mit den Augen.
„Spaß? Ich habe mich dabei verletzt!"
Sie war verrückt.
„Ja und? Anna auch", sagte sie schnippisch.
„Und ... und das warst du, die mich so provoziert hat? Als wir zusammen Wein getrunken haben? Du hast mich beleidigt? Und du hast dich über Sascha lustig gemacht und sie beschimpft? Sascha immer und immer wieder eine Hure und eine Schlampe genannt? Bis ich ausgerastet bin und dich gewürgt habe?"
Sie zuckte mit den Schultern.
„Sascha ist ja auch eine Schlampe. Ich habe dir nur die Tatsachen vor Augen geführt. Sie ist dir fremdgegangen. Nicht mit einer Person, nein, mit zwei! Woher willst du wissen, dass sie es vorher nicht schonmal getan hatte? Nur, weil sie so einen blöden Brief geschrieben hat, sie hätte sich ja geändert? Ha!"
Hämisch grinsend schüttelte sie den Kopf.
„Und was macht sie dann? Zwei Jahre lang meldet sie sich nicht bei dir, kommt her und verführt dich direkt! Nachdem ihr euch zwei Jahre nicht ein einziges Mal gesehen habt! Obwohl du vergeben bist. Die Frau hat keine Scham. Sie hat nur Annas und deiner Beziehung geschadet", Livs Blick war grimmig.
„Was ist mit ...", meine Stimme versagte.
Sie konnte sie nicht umgebracht haben. Nein, Sascha lebte. Das konnte nicht sein. Das Wohnzimmer drehte sich vor meinen Augen, Livs Gesicht starrte mir mehrfach höhnisch entgegen. Ich bekam keine Luft mehr, als würden unsichtbare Hände mir die Luftröhre abdrücken. Ich schloss meine Augen, wollte sie nicht mehr sehen.
„Was ... Was ..."
Ich brachte es nicht übers Herz, es auszusprechen.
„Was ... Was ...", imitierte mich Liv lachend. „Immer wenn es um Sascha geht, scheint es dir die Sprache zu verschlagen, was? Hast du nicht gehört, was ich über sie gesagt habe? Die Frau ist ein Flittchen!"
„Geht es ihr gut?", fragte ich leise und öffnete meine Augen.
„Ich habe ihr zu verstehen gegeben, dass sie sich dir nicht mehr nähern soll", sagte sie trocken.
„Also ... lebt sie?", meine Stimme brach.
Sie wurde laut.
„Du denkst, ich hätte Sascha umgebracht? Ich bin doch keine Killerin! Du hast mir nicht zugehört. Das mit Kai war ein Unfall! Ich wollte ihn nicht umbringen!"
„Anna, ich glaube dir! Ich habe nie gesagt, dass du eine Mörderin bist. Aber du hörst mir nicht zu. Ich denke, wir sollten beide ruhig bleiben. Dann können wir alles klären. Gemeinsam stehen wir das durch, Anna!"
Ich musste sie beruhigen. Sie war zu aufgebracht, um mit einer Waffe auf mich zu zielen.
„Ich bin nicht Anna. Ich bin Liv."
Ihre Stimme wieder beherrschter.
„Ok. Liv. Du wolltest Kai nicht umbringen. Er war ein Arsch und es war ein Unfall. Richtig?"
Sie nickte.
„Aber warum fesselst du mich? Warum zielst du mit der Waffe auf mich? Was habe ich dir denn getan? Denkst du, so kannst du die Beziehung retten?"
Liv sah mich nachdenklich an.
„Du ... du wolltest mir nicht zuhören. Du wolltest es beenden. Du wolltest wegfahren."
Sie schien abermals verwirrt zu sein.
„Irgendetwas musste ich tun. Ich hätte dich nicht fahren lassen können."
Ihre Worte verstummten. Das war meine Chance. Ich atmete tief durch, das locker umgebundene Seil fühlte sich zu eng an. Mit gefasster Stimme versuchte ich, Liv zu überzeugen, mich loszubinden.
„Ich wollte einfach raus hier. Ich war von der Situation überfordert. Ich fahre mit Anna in den Urlaub und auf einmal sagst du mir, es ist nicht nur Anna. Du bist auch hier. Wie hättest du an meiner Stelle reagiert?"
Sie sah mich nachdenklich, aber misstrauisch an. Immerhin schien sie mir endlich zuzuhören! Ich sprach weiter, log sie an, um aus der Situation herauszukommen. Dazu gab es nur einen Weg.
„Ich liebe Anna. Aber das wurde mir zu viel. Sie, du. Der Unfall mit Kai. Das hat nichts mit uns zu tun. Wir müssen erstmal hier weg und zur Normalität zurückfinden. Wie sollen wir denn so eine normale Beziehung aufbauen?"
Ich konnte mit ihr reden. Das war mein einziger Weg hier raus. Sie wollte, dass ich mich mit alldem abfand. Dass ich mit Anna zusammen war. Das konnte sie haben – so lange, bis ich in Sicherheit war und ihr die Waffe abgenommen hatte!
„Liebst du sie wirklich?", fragte sie skeptisch.
„Das tue ich. Aber was ist mit mir? Bindet man den Menschen, den man liebt an einem Stuhl fest?"
Liv sah mich gedankenverloren an. Schließlich redete sie wieder.
„Bist du dir sicher, dass du alles verstanden hast? Bist du dir sicher, dass du bei Anna bleiben möchtest? Dass du sie liebst und sie nicht verlassen wirst? Sie nicht im Stich lassen wirst?"
Ich nickte. Mein Herz raste. Sie musste es mir glauben! Und ich musste so schnell wie möglich Sascha finden. Hoffentlich ging es ihr gut.
Liv lief zur Küche. Sie kam mit einer Schere zurück. Langsam näherte sie sich mir. Dabei starrte sie mir in die Augen. So, als könne sie meine Gedanken lesen, wenn sie mich mit ihrem Blick durchbohrte. Dann kniete sie sich vor mich hin und schnitt die Kabelbinder los. Zum Schluss entknotete sie das Seil.
Ich erhob mich mit zitternden Knien. Meine Fußgelenke juckten an den Stellen, an denen die ‚Fesseln' gewesen waren. Mein Blick wanderte zum Gewehr. Sie hatte es neben den Stuhl gestellt, auf dem sie eben gesessen hatte. Ich stand vor ihr und sah auf sie herunter.Auf einmal sah sie klein aus. Sie blinzelte.
„Leon? Alles in Ordnung?", ihre Stimme ängstlich, nahezu schüchtern.
Sie sah zu mir hoch, ihre Augen weit aufgerissen. So, als hätte sie nicht eben damit gedroht, mir in mein Bein zu schießen. So, als hätte sie nicht zugegeben, Kai getötet zu haben. Ich nickte und umarmte sie. Besser, sie würde sich nicht aufregen. Besser, sie würde nicht merken, wie meine Augen immer wieder zur Waffe schielten.
„Leon? Irgendetwas stimmt nicht, oder? Geht es dir gut?", fragte sie leise und wollte ihren Kopf zu mir nach oben heben. Ich drückte ihn weiterhin sanft aber entschlossen gegen meine Brust.
„Ich liebe dich", log ich.
Die Augen auf mein Ziel gerichtet.
Dann sprang ich förmlich nach vorne und bevor Liv reagieren konnte, schnappte ich mir das Jagdgewehr. Sie sah mich mit großen Augen an. Ging erst einen Schritt rückwärts, dann noch einen. Sie sah keine Sekunde vom Gewehr weg. Ihr Rücken zur Wand. Sie schien wie erstarrt.
„Bitte Leon, beruhige dich doch. Was auch immer passiert ist, wir können über alles reden. Du musst das nicht tun."
Ihre Stimme zitterte. Sie klang ganz anders als noch vor ein paar Minuten. Ich entschärfte das Gewehr und zielte.

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