Kapitel 7

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„Lust auf Geocaching?"
Leon und ich lagen draußen auf den Liegen und sonnten uns.
„Was ist denn Geocaching?"
„Das ist wie eine Schatzsuche für Erwachsene. Überall auf der Welt sind sogenannte Caches – also die Schätze – versteckt und wir können sie mit Hilfe einer App suchen. Na, was denkst du?"
„Hmm ... und wo wären die dann?"
„Keine Ahnung, aber vermutlich irgendwo im Wald. Ich lad' schnell die App herunter."
Ich nickte, auch wenn ich gerade die Stille und die Nachmittagssonne auf der Haut genoss. Doch Moment, wie spät ist es genau? Die Sonne geht zwar nicht allzu früh unter, aber wie lange würden wir im Wald sein? Gänsehaut lief über meinen gesamten Körper bei dem Gedanken an das letzte Mal, als wir so spät unterwegs waren.
„Hier sind sogar mehrere Caches!", ertönte Leons Stimme.
Ich blickte zu ihm und in sein Handy, das er mir vor das Gesicht hielt. Viel konnte ich nicht erkennen, die Sonne blendete mich und das Smartphone war zu dunkel.
„Und wie finden wir diese Caches?"
„Ja! Ich wusste, du willst mitmachen!"
Leon sprang schon von der Liege und lief Richtung Haus.
„Mit GPS", warf er noch über die Schulter, bevor er darin verschwand.
Seufzend folgte ich ihm. Im Schlafzimmer suchte ich nach meinen besten waldtauglichen Klamotten – für eine ausgiebige Wandertour war ich nicht ausgestattet, also mussten die Yogaklamotten wieder herhalten. Ich zog die rosa-türkise Yogahose und das türkisfarbene, enge Top an. Im Gegensatz zu mir trug Leon eine Wanderhose und Wanderschuhe.
„Na, verloren gehen kannst du so auf keinen Fall", sagte er, als er mein Outfit sah.
Wir marschierten los, er mit dem Handy in der Hand, ich einen Meter hinter ihm.
„So, unser erstes Ziel ist einen Kilometer von hier entfernt. Das sollten wir finden."
Er sah aus wie ein Junge, der ein Spielzeug bekam, von dem er schon lange geträumt hatte. Manchmal wünschte ich mir, ich hätte ein wenig mehr von seiner Begeisterungsfähigkeit.
Der Wald begrüßte uns mit dem gewohnten Blätterrauschen und Vogelgezwitscher.
„Hier, wir müssen bloß quer durch." Leon zeigte nach vorne auf die Bäume.
„Können wir nicht über den Waldweg zum Cache? Das dauert zwar länger, aber wir wissen nicht, was uns erwartet, wenn wir hier querfeldein laufen."
„Ach was, was soll uns schon erwarten? Ein paar umgefallene Bäume und Eichhörnchen? Lass es uns doch wenigstens versuchen. Zurückgehen können wir ja immer noch."
Ich hatte nicht wirklich Lust dazu, wollte Leon jedoch nicht enttäuschen. Als ich meinen Blick vom Weg abwandte und auf ihn richtete, sah er mich mit gerunzelter Stirn an, sagte allerdings kein Wort.
„Na gut, wenn der Weg zu gefährlich wird, gehen wir aber zurück", gab ich nach.
„Ja. Machen wir. Auf eine erfolgreiche Expedition!" Leon riss die Faust in die Luft und packte mich bei meiner Hand, um mich Richtung Wald zu ziehen.
Ich hatte sogar Spaß dabei, obwohl ich immer wieder über Steine oder größere Äste stolperte. Aber Leon war jedes Mal sofort bei mir und reichte mir die Hand, wenn wir über umgefallene Baumstämme klettern mussten.
„Fast geschafft. Jetzt sind es nur noch einhundert Meter", sagte Leon mit einem Blick auf sein Handy.
Als wir an der Stelle ankamen, suchten wir erst noch eine Zeitlang, bis wir den Cache gefunden hatten. Es war eine Röhre mit einem Zettel drin, auf dem wir unsere Namen und das heutige Datum eintragen konnten.
„Unser erster gemeinsamer Cache!" Leon strahlte mich an.
„Sollen wir noch einen suchen? Es gibt einen, der ist sechs Kilometer von hier. War doch spaßig, hierher zu kommen, oder?"
Schmunzelnd sah ich ihn an – er wirkte zehn Jahre jünger, bereit für ein Abenteuer.
„Ja, warum nicht?"
Dieses Mal stellte sich der Weg als hindernisreicher heraus. Wir mussten ewig bergauf laufen und ich rutschte bei jedem zweiten Schritt mit meinen kletteruntauglichen Schuhen ab.
„Wir sollten doch zurück zum Weg", merkte ich an. „Ich glaube, es wird bloß steiler und schwieriger voranzukommen."
„Wir sind in ein paar Minuten oben. Dort sehen wir, wie der Weg weiter verläuft. Fast drei Kilometer haben wir schon geschafft. Wenn wir zurückgehen, müssen wir die gleiche Strecke nochmal hinter uns bringen."
Als wir auf der Bergspitze ankamen, sahen wir, dass es nun bergab ging und es keine Hindernisse mehr gab.  Wir tranken beide einen großen Schluck aus unserer Wasserflasche.
„Bist du bereit oder willst du erst eine kurze Pause einlegen?"
Leon sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen schnaufend an. Obwohl ich sein Angebot gerne angenommen hätte, wollte ich nicht mehr im Wald sein, wenn es dämmerte. Schließlich mussten wir später noch zurück zum Ferienhaus.
„Nein, das ist schon in Ordnung. Wir können ja eine Pause beim Cache machen und anschließend nach Hause gehen."
Wir spazierten weiter und kamen nun um einiges zügiger voran. Ich hatte Spaß an der Sache und freute mich über Leons gute Laune. Er marschierte vor, sah aber wiederholt grinsend zurück.
In der Ferne erklang plötzlich ein Rauschen.
„Hörst du das auch?", fragte ich besorgt.
„Was denn? Ich höre nichts."
Wir wanderten weiter und das Rauschen wurde immer lauter.
„Hörst du das nicht? Es hört sich an wie ein Fluss."
„Oh du hast recht, jetzt höre ich es."
„Sollen wir zurück? Der Weg ist vielleicht durch den Fluss versperrt?"
„Ach komm, lass uns doch erstmal nachschauen. Wir werden schon einen Weg finden."
Widerwillig nickte ich und wir setzten die Schnitzeljagd still fort, bis Leon das Schweigen brach.
„Hattest du Sophie eigentlich noch vor unserem Urlaub treffen können, so wie du gesagt hattest? Du wolltest ihr doch bei etwas helfen? Irgendetwas mit ihrer Arbeit?"
„Ich hatte mit ihr eine Präsentation für den neuen Klienten geübt. Sie war aber sowieso klasse! Sie hätte es gar nicht nötig gehabt, es mit mir durchzugehen. Es ist bewundernswert, wie selbstbewusst und gelassen sie bleibt. Ich habe nur ihre Folien noch etwas ausgebessert", sagte ich, während ich mir den Weg hinter meinem Freund zwischen den Bäumen bahnte.
„Ausgebessert oder erstellt?", Leon blieb stehen und sah mich mit einer hochgezogenen Augenbraue an.
„Hey, sie kann das nicht so gut mit PowerPoint. Aber im Präsentieren ist sie dafür ein Ass! Außerdem mach' ich so was ja eh gerne!"
„Na da hat sich seit eurer Unizeit ja nichts geändert. Was würde sie nur ohne dich machen?"
Während des Studiums war Sophie oft chaotisch gewesen, hatte Abgaben vergessen oder sie nur kurz vorher fertiggestellt, oft mit meiner Hilfe. Wir haben zusammen gelernt, was meistens darauf hinauslief, dass ich ihr den Stoff erklärte.
„Warum hat ihr Freund ihr eigentlich nicht geholfen? Tim oder so?", riss mich Leon aus meinen Erinnerungen.
„Er ist schon Vergangenheit. Und das war sowieso keine Beziehung zwischen den beiden. Seit Fabian hat sie niemandem mehr eine richtige Chance gegeben. Okay, vor ihm auch nicht unbedingt. Aber er hat ihr jeglichen Glauben an die Monogamie geraubt."
Ich seufzte.
„Oh, stimmt ja! Er ist immer noch auf Bali? Mit seiner indonesischen Freundin?"
Ich nickte.
„Ich glaube, er arbeitet bei einer amerikanischen Firma, aber macht 100% Homeoffice. Die beiden haben eine Villa zusammen. Sophie hatte mir letztens erst wieder Fotos auf Insta gezeigt."
„Oh Mann, sie kommt echt nicht von ihm los!"
„Leider nicht ... als er damals Schluss gemacht hat, um ‚allein zu reisen'", ich male mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft, „war sie wirklich am Boden zerstört. Wir verbrachten zwei Monate nur in ihrem Bett, haben Netflix geschaut und Süßes in uns reingestopft. Bis sie beschlossen hat, es ist Zeit, in ihrem Leben weiterzumachen . Den Abend werde ich nie vergessen", meine Stimme verdüsterte sich.
„Was ist denn passiert?"
„Sie wollte sich ablenken und was war besser dafür geeignet als ein Mann?"
Ich lachte und fuhr fort.
„Eigentlich hat mir ihre offene Art auch nie etwas ausgemacht, aber ... Sie war natürlich innerhalb der ersten Stunde erfolgreich. Die Männer stehen ja sowieso Schlange bei ihr."
Leon kletterte über einen umgefallenen Baumstamm und griff nach meiner Hand, um mir rüber zu helfen.
Ich setzte fort: „Mir blieb nichts anderes übrig, als den Abend mit seinem Kumpel zu verbringen. Das war schlimm genug, doch dann wurde er auch noch übergriffig. Ich war wie erstarrt, konnte mich gar nicht wehren. Zum Glück hat Sophie es mitbekommen und dem Mann die Leviten gelesen", bei dem Gedanken daran lief es mir eiskalt den Rücken runter.
„Na, immerhin hat sie dir das eine Mal geholfen und nicht umgekehrt."
„Wie meinst du das?", fragte ich verwundert.
„Ach, nicht so wichtig."
Leon legte einen Arm um mich und drückte mich an ihn. „Lief ihre Präsentation denn gut?"
„Ja, glaub schon. Zum Glück gehört so etwas nicht zu meinen Aufgaben auf der Arbeit. Ich habe Präsentationen in der Uni gehasst."
Dann fügte ich hinzu: „An solchen Tagen war ich so aufgeregt, dass ich den ganzen Tag nichts anderes machen konnte, als daran zu denken. Es war der reinste Horror! Aber zum Glück legte sich ein Schalter um, sobald ich vorne stand. Ich war wie in einem Tunnel. Meist konnte ich mich gar nicht erinnern, was ich überhaupt gesagt hatte. Sophie hat aber immer verkündet, ich sei spitze gewesen, selbstbewusst sogar."
„Vielleicht lerne ich ja auch noch die selbstsichere Anna kennen", Leon zwinkerte mir zu.
„Und was ist mit dir? Redest du gerne vor Menschen?", fragte ich eilig, um das Thema von mir abzuwenden.
„Hmm ... ich weiß nicht. Es macht mir nichts aus, aber so eine Rampensau wie Sophie bin ich sicherlich nicht. Witzig, dass genau sie deine beste Freundin ist. Ihr seid euch so gar nicht ähnlich."
Ich zuckte mit den Schultern. Sie war meine erste richtige Freundin und bis heute die einzige. Sie hatte mich direkt gemocht, mich aufgenommen. Ich hatte so viel mit ihr erlebt, ich liebte sie mehr als jeden anderen Menschen. Wenn es nötig wäre, würde ich alles für sie tun, wirklich alles. In der Schulzeit hatte ich kaum Freunde und war froh, wenn mich die anderen Kinder in Ruhe ließen.

Wir standen mittlerweile vor der Quelle des Rauschens - einem Fluss, etwa drei Meter breit.
„Jetzt lass uns doch zurückgehen. Hier kommen wir niemals auf die andere Seite", klagte ich.
„Vielleicht finden wir eine Stelle, die nicht so tief ist, dort können wir rüber", gab Leon zurück, seine Stimme voller Tatendrang. Als ich nicht antwortete, reichte er mir seine Hand. Gemeinsam wanderten wir am Fluss entlang, bis wir eine Stelle fanden, die etwas schmäler und nicht so tief zu sein schien. Breite Steine lagen im Flussbett.
„Hier können wir rüber. Ich geh vor und prüfe, ob die Steine nicht wegrutschen. Und du kommst dann nach."
„Leon, eventuell sollten wir doch lieber zurück. Es ist zu gefährlich. Ich will nicht ins Wasser fallen."
„Wir sind fast beim Cache! Wenn wir jetzt den Weg zurückgehen, kommen wir nie rechtzeitig an. Wir müssen auch ein paar Kilometer zurück nach Hause laufen."
Ich wollte zwar nicht über den Fluss, aber noch weniger im Dunkeln im Wald sein. Und am allerwenigsten Leon enttäuschen, weil wir gar nicht mehr zum Cache gingen. Er hatte sich doch so gefreut.
„Na gut, aber falls du merkst, dass die Steine beim Auftreten nachgeben, lassen wir es für heute bleiben. Dann kehren wir um und gehen nach Hause!"
Er gab mir einen Kuss auf die Stirn.
„Machen wir, versprochen."
Er prüfte jeden Stein erst mit seinem rechten Fuß, bevor er das komplette Gewicht darauf verlagerte.
„Ahhh", schrie Leon plötzlich auf und wackelte gefährlich.
„Leon!"
Er drehte sich um und lachte.
„Die Steine sind richtig fest, hier passiert nichts."
Er prüfte den Nächsten mit seinem Fuß, indem er versuchte, ihn zu bewegen. Als er nicht nachgab, kletterte er weiter.
„Okay, jetzt du. Ich reiche dir die Hand."
Langsam setzte ich einen Fuß auf den ersten Stein, verlagerte aber mein Gewicht weiterhin an Land. Ich versuchte, nach Leon zu greifen - ohne Erfolg.
„Deine Hand ist zu weit weg, ich schaffe das nicht."
„Doch, du packst es! Nur noch den anderen Fuß und sobald du auf dem Stein bist, erreiche ich dich und kann dich festhalten."
Ich nahm all meinen Mut zusammen, verlagerte das Gewicht auf den Stein und setzte den zweiten Fuß daneben. Leon packte mich rasch und hielt mich fest. Eine Welle von Adrenalin durchfuhr mich. Als ich einen sicheren Stand hatte, ließ Leon meine Hand los und balancierte selbst zum nächsten Stein. Er reichte mir seine Hand, die ich dankend nahm, und ihm folgte. So balancierten wir von Stein zu Stein, bis Leon das andere Ufer erreichte.
Bald hatte ich es auch geschafft!
Ein Gefühl des Triumphes überkam mich. Voller Vorfreude stieg ich auf den nächsten Stein. Und rutschte aus. Das Wasser war kalt. Ein ekliger Geschmack in meinem Mund - ich hatte Wasser geschluckt. Als ich um mich griff, konnte ich nichts anderes fassen als Gestein und Wasser. Kaltes Wasser.

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