Kapitel 20

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„Anna ...?", sagte ich zögerlich.
Keine Reaktion von ihr.
„Anna?"
Dieses Mal war meine Stimme lauter, sie schallte in dem leeren Raum. Anna zeigte keine Reaktion. Es war so, als wäre sie allein hier, als wäre ich gar nicht da. Ich näherte mich ihr zögerlich und berührte sie an der Taille. Sie reagierte nicht darauf, als würde sie meine Berührung nicht wahrnehmen. Ich drehte sie sachte zu mir um. Sie starrte mich mit weit aufgerissenen, angsterfüllten Augen an.
„Anna? Was machst du hier?", fragte ich.
Sie hob ihren Zeigefinger zu ihrem Mund und bewegte kaum merkbar ihre Lippen.
„Pssssst ... hier kann er uns nicht finden. Wir müssen aber leise sein."
„Wer kann uns hier nicht finden?", fragte ich verwirrt.
„Er darf uns nicht mehr wehtun, wir müssen uns verstecken", flüsterte Anna.
Ihr Blick schweifte durch die dunkle Hütte.
„Kai? Redest du von Kai?", meine Stimme bebte.
Sie stand regungslos da, so als würde sie mich nicht hören.
„Falk? Ist es Falk, vor dem du dich versteckst?"
Anna legte ihren Finger auf meine Lippen und raunte: „Wir müssen leise sein, er darf uns hier nicht finden. Er darf uns nicht mehr wehtun. Das nächste Mal werden wir nicht überleben."
„Anna? Du machst mir Angst, was ist los?", fragte ich nun mit ebenfalls gedämpfter Stimme.Sie schüttelte den Kopf, sah mich traurig an. Eine ihrer Tränen tropfte auf meine Hand. Ich schluckte und sagte so selbstsicher, wie ich konnte: „Hey, ich kenne sogar ein viel besseres Versteck. Da wird er uns niemals finden!"
„Wo?", fragte sie.
„Komm mit, ich zeige es dir. Wir müssen schnell sein, so bemerkt er uns nicht."
Anna nickte entschlossen. Sanft nahm ich ihre Hand. Sie zuckte kurz zusammen, aber ließ ihre Hand in meiner. Ich führte sie aus der übelriechenden Hütte ins Freie. Erleichtert atmete die frische Waldluft ein.
Wir liefen los. Anna trottete neben mir her, ohne zu reden. Ihr Blick war abermals leer und emotionslos. Wir gingen so eine ganze Weile durch den Wald, ab und zu schaute ich nach hinten.
„Wo sind wir? Was machen wir im Wald?", hörte ich auf einmal eine Stimme neben mir.
Ich schreckte aus meinen Gedanken auf. Anna sah an ihrem Nachthemd herunter, runzelte die Stirn und blieb stehen.
„Leon, was ist los?", ihre Stimme zitterte.
Was sollte ich denn sagen? Wie erklärte ich ihr, dass sie schlafend in den Wald gelaufen war?
„Leon?"
Ihre Arme waren vor der Brust verschränkt, sie schien im dünnen Nachthemd zu frösteln, das Haar zerzaust. Ich strich ihr über eine abstehende Strähne und legte meine Jacke um sie.
„Ich bin wach geworden und du lagst nicht mehr neben mir. Du warst auf einmal weg. Ich hab' dich überall gesucht und konnte dich nicht finden."
Anna schluckte. Ihr Gesicht leuchtete noch weißer als sonst.
„Ich ... ich bin einfach los. In den Wald. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Schließlich habe ich dich hier gefunden, in einer alten Hütte. Kannst du dich an nichts erinnern?"
Anna sah mich fassungslos an und schüttelte den Kopf.
„Ich ... Wie kam ich dahin?"
„Lass uns erstmal nach Hause gehen. Es tut mir leid. Ich habe wohl vergessen, den Schlüssel zu verstecken. Deshalb konntest du raus."
Anna schien in Gedanken versunken. Ich nahm ihre Hand in meine und zog sie mit mir. Sie erwachte aus ihrer Starre und lief schweigend neben mir her.
„Anna ...?"
Ihr Kopf bewegte sich ruckartig nach oben.
„Du hast davon gesprochen, dass wir uns vor jemanden verstecken müssten. Jemand, der uns nicht finden darf. Wen hast du da gemeint? Kai?"
Anna schüttelte den Kopf.
„Ich kann mich an nichts erinnern. Ich weiß nicht, warum ich das gesagt habe."Ihr Blick wurde leer, sie sah in die Ferne.
„Aber hast du dich mal vor Kai versteckt? Vielleicht hast du es im Traum wieder erlebt? Du sagtest, dass er uns nicht mehr wehtun darf und dass wir das nächste Mal nicht überleben werden."
Anna schluckte.
„Oh ... das war sicherlich nichts weiter als ein Alptraum. Ich habe ja öfter Alpträume. Kai war zwar gewalttätig, aber ich habe mich nie vor ihm versteckt. Und ich habe nie gedacht, dass er mich umbringen würde."
Den restlichen Weg schien sie in Gedanken vertieft zu sein. Dieses Mal sperrte ich die Haustür ab, versteckte den Schlüssel und prüfte noch einmal, ob die Tür auch wirklich abgeschlossen war. Anna lag schon im Bett, ihre Augen geschlossen. Das Nachtlicht brannte. Ich krabbelte neben sie und küsste sie auf die Stirn. Ihr blondes Haar fiel über die Bettdecke, die sich sanft hob und senkte. Sie schlief tief und fest. So, als wäre nie etwas passiert.

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