Kapitel 21

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Leon, 6 Jahre zuvor

Sascha zerkleinerte das Gras im Grinder und ließ es in das Zigarettenpapier fallen, das sie auf den Gartentisch gelegt hatte. Sie nahm ihren Tabak und füllte den Rest des Papiers auf, rollte es, leckte einmal über den Rand und klebte es zusammen. Schließlich stand sie kurz auf, um ihr Feuerzeug aus der Hosentasche ihrer Hotpants zu nehmen. Sie steckte sich den Joint in den Mund, zündete ihn an, hustete lachend.
„Hier. Ich glaube, ich habe ihn etwas zu stark gemacht."
Ich zog ein paar Mal daran und gab ihn ihr zurück.
„Als ich klein war, hatte Mama mir eine Geschichte erzählt von einer alten Frau, die immer wieder auf ihrem Schulhof auftauchte", sagte Sascha und zog am Joint.
„Das Krasse war, dass sie nie jemandem anderem aufzufallen schien. Bloß meiner Mama. Irgendwann hat sie ein Foto von dieser Frau entdeckt. Sie war schon seit Jahren tot!"
Sascha wackelte verschwörerisch mit ihren schmalen Augenbrauen. Ich lachte.
„Sicher, dass du dir das nicht in diesem Moment ausgedacht hast?"
„Vielleicht. Vielleicht auch nicht", scherzte sie.
Plötzlich sah sie geschockt über meinen Kopf hinweg und hob ihre Hand. Sie zeigte mit einem zitternden Finger hinter mich.
„Da ... da ... da ist sie!"
Ihre Lippen bebten. Ich drehte mich um.
Natürlich stand niemand hinter mir. Sie lachte. Sie zog am Joint, ihr Gesicht halb erleuchtet von der warmen Glut im Grill und dem Vollmond.
Ein Regentropfen landete auf meiner Wange. Dann ein weiterer auf dem Arm. Es war erfrischend nach dem heißen Tag heute und der immer noch warmen Nacht.
„Lass uns besser reingehen", sagte ich zu Sascha.
Doch sie schüttelte den Kopf, legte ihn zurück, schloss die Augen und ließ die Tropfen auf ihr Gesicht prasseln. Ihr dunkles, glattes Haar wallte über die Kopflehne.
Auf einmal stand sie auf und fing an, sich rhythmisch zu bewegen – ihre Augen geschlossen. Wie als würde sie zu einer Musik tanzen, die ausschließlich sie hören konnte. Dann griff sie mit beiden Händen an das untere Ende ihres Tops und zog es über ihren Kopf, um es sorglos auf den Boden zu werfen. Sie öffnete ihre Jeanshotpants und zog sie ebenso aus. Sie landete neben ihrem Top. Der Regen prasselte auf ihre Haut, die braun gebrannt und nass im Mond glänzte. Einzelne Tropfen liefen an ihrem Körper herab. Sie tanzte in ihrer Unterwäsche weiter. Sekunden verstrichen, ohne dass einer von uns etwas sagte. Sie halbnackt im Regen tanzend, ich wie angewurzelt auf dem Gartenstuhl.
„Bist du glücklich?", fragte sie plötzlich ernst.
Ihre Augen nach wie vor geschlossen.
„Ja ... ja klar, warum fragst du?", erwiderte ich stutzig.
„Nein, das meine ich nicht. Bist du wirklich glücklich? Mit allem? Mit deinem Leben?"Ihre Augen waren nun offen. Sie hatte aufgehört zu tanzen, starrte mich an.
„Ja, ich bin glücklich!", sagte ich nachdenklich.
Es stimmte. Ich war es. Warum sollte ich es nicht sein? Ich arbeitete in einer renommierten Steuerberatungskanzlei, die mir schon einen Job zugesichert hatte, sobald ich die Prüfung erfolgreich bestanden hatte. Ich war mit der Frau hier, die ich irgendwann heiraten wollte und die die Mutter meiner Kinder sein würde. Ich hatte Freunde, unsere Freunde, die ehrlich und treu waren.
„Ja, ich bin rundum glücklich mit meinem Leben", sagte ich mit Nachdruck.
Ich blickte nach oben und sah, dass sie wieder angefangen hatte zu tanzen, ihre Augen geschlossen. Ihr dunkles Haar glänzte feucht im Mondlicht.
„Bist du denn glücklich?", fragte ich.
Sie tanzte langsam weiter, antwortete nicht. Nach ein paar Minuten der Stille redete sie.
„Weißt du manchmal, wenn ich über eine Brücke laufe, denke ich, was wäre, wenn ich jetzt springen würde? Wie würde es sich anfühlen? Würde es wehtun? Würde ich es merken, wenn ich auf dem Boden aufschlage?"
Was sollte ich dazu sagen? Wovon redete sie? Ich selbst kannte solche Gedanken nicht. Sie war schon immer anders als andere Menschen gewesen. Aber genau dafür liebte ich sie so sehr. Sie öffnete ihre Augen, lächelte, lief zu mir hinüber, setzte sich auf meinen Schoss und küsste mich.

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