„Anna?", hörte ich plötzlich eine Stimme von draußen rufen.
Ich sah aus dem Fenster, die Waffe auf Liv gerichtet, direkt in Falks Gesicht. Ein Knall ertönte.Ich sah runter zu meinen Händen. Rauch quoll aus dem Jagdgewehr. Mir wurde schlecht. Langsam wanderte mein Blick vom Gewehr weg, nach oben, zu Liv. Oder Anna. Alles passierte wie in Zeitlupe.
Sie sah mich mit weit aufgerissenen Augen an. Ihr weißes Sommerkleid färbte sich rot an ihrer Brust. Sie sackte zu Boden. Ich blieb stehen, als könne ich mich nicht fortbewegen. Habe ich auf sie geschossen?
Es polterte laut. Ich sah an mir herunter. Das Gewehr lag auf dem Fußboden, neben mir. Ich hatte es fallen lassen. Anna! Ihre Lippen waren leicht geöffnet. So, als würde sie etwas sagen wollen. Sie sagte aber nichts. Es schien, als würde sie mich direkt ansehen, selbst wenn ihr Blick leer war.
Mit einem Mal sah ich sie vor mir, im Bücherladen. Damals hatte sie auch ein weißes Kleid getragen. Wie sie mich schüchtern angelächelt und direkt wieder weggesehen hatte. Danach unser erster gemeinsamer Kaffee, unser erstes gemeinsames Date. War das alles echt gewesen? Konnte es echt gewesen sein, genau so wie die Erlebnisse hier? Wie Liv echt war?
„Anna!", rief die Stimme, die mich wieder in die Gegenwart beförderte.
Falk kniete bei ihr, nahm sie in den Arm, fühlte ihren Puls.
„Sie lebt noch!", schrie er.
Ich wusste nicht, ob er mit mir redete. Dann sprang er auf, griff nach seinem Handy.
„Du stellst dich an die Wand! Da wo ich dich sehen kann", schrie er mir wutentbrannt ins Gesicht.Ich nickte. Ich war wie gelähmt. Ein Dröhnen in meinen Ohren. War das vom Schuss? Falk telefonierte, legte wieder auf. Mehrmals. Ich sah, wie er sich zu Anna kniete, seine Hände gegen die Wunde presste.
„Hol Handtücher!", schrie er mich an.
Ich nickte. Lief zum Bad. Wie viele denn? Zwei, drei? Ich nahm drei Handtücher mit und rannte zurück zu den beiden. Kniete mich zu ihr und gab Falk die Handtücher. Er presste sie auf Annas Brustkorb. Ich saß tatenlos neben ihm. Was sollte ich tun?
Ich hatte geschossen. Ich hatte auf einen Menschen geschossen, auf Anna. Annas und Falks Gesichter drehten sich vor mir. Ich hielt mich mit meinen Händen am Boden fest. Das Drehen musste aufhören. Es roch metallisch, nach Eisen. Mir wurde schlecht. Ich würgte.
„Sie verliert so viel Blut!", sagte Falk verzweifelt.
Tränen liefen ihm über die Wangen.
„Halte durch!", beschwor er Anna.
Ob sie ihn hören konnte? Er sah abwechselnd von Annas Gesicht auf die Wunde – auf die rot gefärbten Handtücher in seiner Hand.
„Ich glaube, sie atmet nicht richtig! Anna, du musst atmen. Hörst du mich? Ganz ruhig bleiben. Tief ein- und ausatmen. Bald ist der Krankenwagen da. Alles wird gut. Du musst atmen", seine Stimme voller Schmerz.
„Bis der Krankenwagen hier in den Wald kommt, dauert es mindestens eine halbe Stunde", sagte ich wie gelähmt.
Ich weiß nicht, warum ich das gesagt hatte. Falk ignorierte mich.
„Anna, halte durch. Du musst atmen!", schrie er sie an.
So, als würde er sie am liebsten schütteln wollen. So, als würde sie das retten. Anna schüttelte den Kopf. Nur leicht.
„Was? Anna? Was ist los?" Falks Stimme war schon wesentlich beherrschter. Vermutlich war er froh, dass sie überhaupt reagiert hatte. Annas Lippen öffneten sich.
„Ich bin bei ihr", krächzte sie so leise, dass man es kaum hören konnte.
„Bei wem, Anna? Bei wem?"
„Mama."
Ich hätte schwören können, dass sie lächelte. Vielleicht habe ich es mir auch nur eingebildet. Es war die letzte Gesichtsregung, die ich von Anna sah.
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Entzweit
Mystery / ThrillerAnna kann ihr Glück kaum fassen: Ihr Traumleben mit Bilderbuchfamilie ist zum Greifen nah. Leon ist der Richtige für sie, daran besteht kein Zweifel. Doch der romantische Urlaub in der Waldhütte seiner Eltern entwickelt sich mehr und mehr zu einem A...