Kapitel 29

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Anna, 17 Jahre zuvor

(ab hier wechselt die Sichtweise zur jungen Anna, auch in den weiteren Kapiteln)

„Zum Geburtstag viel Glück, zum Geburtstag viel Glück, zum Geburtstag, liebe Anna, zum Geburtstag viel Glück!"
Mama und Papa kamen in unser Esszimmer und trugen einen riesengroßen, pinken Kuchen auf einem Teller. Ich saß mit dem weiß-rosa Kleid, dass mir Mama extra für den Geburtstag gekauft hatte, auf meinem Stuhl und freute mich auf die Feier. Mama stellte den Kuchen ab und küsste mich auf meine Wange.
„Alles Gute, mein Engel!"
Mama war diejenige, die aussah wie ein Engel. Sie hatte langes, blondes, gewelltes Haar und ein sanftes Gesicht.
Doch dann sah ich es.Mein Kuchen hatte ja gar keine Kerzen, obwohl ich heute acht Jahre alt wurde. Es fehlten acht Kerzen. Hatten Sie es vergessen?
„Mama? Papa? Warum hat mein Kuchen keine Geburtstagskerzen?"
„Tut uns leid Anna, wir haben die Kerzen ganz vergessen. Aber ist doch auch so ein wunderschöner Kuchen, oder nicht?"
Ich schluchzte. Ohne Kerzen war es gar kein richtiger Geburtstagskuchen. Ohne Kerzen hatte ich auch gar keinen Geburtstagswunsch. Dabei wünschte ich mir sooo sehr einen Hund. Das wollte ich mir heute wünschen und jetzt konnte ich es nicht. Mein Hals schnürte sich zu. Ich wollte aber nicht weinen. Immerhin war ich ja jetzt schon acht und schon lange kein kleines Kind mehr.
„Alles okay, Anna?", fragte mein Papa.
Ich wollte antworten. Öffnete den Mund und wollte sagen, dass alles okay war. Und dann konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten.
„-na? Anna? Hey, Schatz, schau mich an."
Mein Vater kniete sich zu mir, strich mir sanft über die Wange. „Hör zu, Mama fährt nochmal los und holt die Kerzen. So lange essen wir keinen Kuchen. Wir warten, bis sie zurück ist, dann zünden wir die Kerzen an, singen dir nochmal dein Geburtstagslied und du darfst dir etwas wünschen."
Ich nickte und wischte mir die Tränen mit der Rückseite meiner Hand weg. Mama verließ das Esszimmer.
„Hast du Lust, noch eine Runde ‚Memory' zu spielen, bis sie wieder zurück ist?" Papa sah mich fragend an. Ich nickte bloß, fest entschlossen, ab jetzt tapfer zu sein. Papa und ich spielten eine Runde ‚Memory' und ich gewann mit ganz vielen Karten. Bei ‚Memory' war ich immer die Beste. Wir spielten noch eine Runde und noch eine. Papa war aber ganz komisch. Er fluchte und ging immer wieder an sein Handy.
„Scheiße."
„Scheiße darf man nicht sagen, Papa."
Papa reagierte nicht. Sonst wusste er, dass man solche Wörter nicht sagen durfte.
„Wann kommt Mama denn wieder?", fragte ich.
Mama war schon ganz schön lange weg. Schon drei Runden Memory. Papa wollte auch nicht mehr spielen. Er ging nur noch auf und ab, so als würde er etwas suchen. Ich schaute auf die Uhr im Esszimmer. Ich konnte schon die Uhr lesen - zumindest ein bisschen. Der kleine Zeiger stand auf der acht und der große Zeiger auf der sechs. Dann war es halb acht. Oder halb neun? Auf jeden Fall war es schon spät. Wo war Mama? Und wann würden wir meinen Kuchen essen und meinen Geburtstag feiern können? Ich wollte mir doch meinen Hund wünschen. Bald musste ich aber schon ins Bett. Das war ein schlimmer Geburtstag, obwohl ich so oft gewonnen hatte.
„Papa, mir ist langweilig. Sollen wir noch eine Runde spielen bis Mama kommt? Wann kommt denn Mama?"
Papa reagierte nicht. Er lief immer noch auf und ab und raufte sich die Haare. So, als wolle er sie sich rausreißen. Das tat doch bestimmt weh. Ich spielte allein mit den Karten. Das war auf jeden Fall der langweiligste Geburtstag, den ich je hatte. Ich gähnte. Ich war schon sooo müde. Als ich wieder auf die Uhr sah, war der kleine Zeiger auf der neun und der große auf der drei.
„Anna, am besten gehst du schon ins Bett, es ist schon spät", sagte mein Papa streng.
„Aber was ist mit meinem Geburtstag? Wo ist Mama?"
„Geh jetzt ins Bett, Anna!", sagte Papa ganz schön laut.
Ich wollte keinen Ärger bekommen. Also ging ich nach oben ins Badezimmer. Ich putzte meine Zähne, weil Mama sonst immer schimpfte. Auch wenn sie heute Abend nicht da war. Sie wusste ja doch immer, ob ich meine Zähne geputzt hatte. Danach zog ich mir mein Nachthemd an und legte mich ins Bett. Heute war mein schlimmster Geburtstag. Erst hatten Mama und Papa die Geburtstagskerzen vergessen und dann kam Mama nicht wieder. Wo war sie so lange?
Es klingelte an der Tür. Mama? Warum klingelte sie? Ich stand auf und öffnete meine Zimmertür ein wenig. So konnte ich aber nichts erkennen. Also schlich ich mich an das Geländer. Geduckt sah ich zwischen den Pfosten hindurch Richtung Haustür. Papa stand an der Tür und redete mit jemandem. Mama konnte das nicht sein, sie würde doch hereinkommen oder nicht? Plötzlich schrie Papa ganz ganz laut auf und fiel zu Boden. So hatte ich ihn noch nie schreien hören. So hatte ich noch nie jemanden schreien gehört. Es war kein richtiges Schreien, mehr ein sehr lautes, komisches Geräusch. Und dann Stille. Vor Angst rannte ich in mein Zimmer und versteckte mich unter der Decke.

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Als ich am nächsten Morgen die Augen öffnete, war es schon hell. Ich stand vom Bett auf und lief runter in die Küche, auch wenn ich noch keine Pfannkuchen riechen konnte – normalweise machte Mama immer Pfannkuchen an Samstagen. Als ich in der Küche ankam, sah ich nur Papa. Er trank ein braunes Getränk. Ein Getränk nur für Erwachsene, das wusste ich schon. Es roch scheußlich. Genauso roch mein Papa heute Morgen. Außerdem sah er schrecklich aus, die Augen rot unterlaufen und er hatte schwarze Schatten darunter.
„Papa? Wo ist Mama?"
Papa lachte, obwohl ich doch gar keinen Witz erzählt hatte.
„Mama wird nie wiederkommen. Sie ist tot."
„Wie ... tot?"
„Tot. Sie ist gestorben."
Ich schluckte. Bedeutete tot, dass sie nie wiederkam? Wir hatten mal einen Hamster und als er tot war, sagte Mama, er kommt jetzt in den Himmel, dort würden wir uns wiedersehen.
„Ist sie im Himmel?", ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Ich bekam keine Luft.
Papa lachte.
„Nein. Einfach tot. Weil sie noch deine Kerzen holen wollte."
Aber warum war sie nicht im Himmel? Mama hatte gesagt, da kommen alle hin – alle lieben Menschen und Tiere zumindest. Papa musste sich irren. Vielleicht hatte sie ihm das nicht erklärt.
Würde ich Mama erst wiedersehen, wenn ich in den Himmel kam? War sie jetzt bei Cookie, unserem Hamster? Sie sollte noch nicht zu Cookie. Ich schluchzte und mein Blick verschwamm. Ich versuchte zu atmen, doch mein Hals war so eng. Papa saß weiterhin am Tisch und trank das Getränk für Erwachsene, sagte aber nichts mehr zu mir. Ich wusste nicht, wie lange ich da vor meinem Papa stand und weinte. Ich wusste nur noch, dass es sich irgendwann so anfühlte, als hätte ich keine Tränen mehr. Dann stand ich schweigend vor ihm, sah ihn an. Wartete auf irgendeine Reaktion von ihm. Was sollte ich denn machen? Als ich merkte, dass da nichts war, was ich tun könnte, um Mama aus dem Himmel zu zurückzuholen, konnte ich nicht atmen. Hilfesuchend blickte ich zu meinem Papa, der mich gar nicht wahrzunehmen schien. Als wäre ich ebenso nicht mehr hier. Aber ich war doch noch da. Warum ignorierte er mich? Warum nahm er mich nicht in seine Arme, wuschelte mir durch das Haar, wie er es so oft tat, und sagte mir, dass alles wieder gut wird? Aber er tat nichts von alldem. Starrte in die Leere. Ich musste atmen. Ein. Aus.
„Papa?", stieß ich hervor.
Er bewegte nicht einmal seinen Kopf, obwohl ich mir sicher war, dass er mich gehört hatte. Ich wartete und als er weiterhin nicht reagierte, ging ich wieder ins Bett und zog die Decke über meinen Kopf.

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