Kapitel 32

16 2 0
                                    

Sicht Liv, Heute

Ich öffnete meine Augen, blinzelte. Als ich mich zur Seite drehte, sah ich Leon – er war wach. Sein Kopf aufgestützt auf seiner Hand, sein Ellbogen auf dem Bett sah er mich mit zusammengekniffenen Augen und einem nicht deutbaren Blick an. Unter seinen geröteten Augen waren Schatten, er sah fertig aus, so als hätte er die ganze Nacht nicht geschlafen. Trotzdem war sein Blick klar und starrte geradezu in mich hinein. Irgendetwas stimmte nicht. Gestern war doch noch alles in Ordnung gewesen? Okay, er hatte nicht sonderlich Lust gehabt, mit mir im Weiher zu schwimmen, aber irgendwie musste ich doch Spaß in unsere Beziehung bringen. Oder in die von ihm und Anna.
Anna war schwach. Sie verkroch sich und fing an zu weinen, wenn irgendetwas nicht so lief, wie sie es wollte. Als würde die Rumheulerei helfen. Als würden ihre Tränen dazu führen, dass sich unsere Situation verbesserte. Das hatte es nicht. Das hatte es noch nie. Leon wollte uns verlassen, ich wusste es. Ich musste eingreifen. Als wir das erste Mal verlassen worden waren – damals von unserem Vater – war alles den Bach herunter gegangen. Hätte er uns oder eher Anna nicht verlassen, hätte es mich zwar nie gegeben, aber Anna wäre glücklich gewesen. Sie hätte mich nie gebraucht, jemanden, der sie beschützte. Jemand, der uns beschützte. Ich hatte sie, uns, schon einige Male beschützen müssen, seit wir mit Leon hier im Urlaub waren. Gut, als er trotz ihres Unbehagens mit ihr Sex am Weiher haben wollte, hätte ich ihn nicht so zerkratzen müssen. Da hatte ich etwas überreagiert. Aber ich hatte Angst, dass ihre Erinnerungen an die damaligen Vergewaltigungen durch die Situation hochkommen würden. Ich wollte nicht, dass sie sich daran erinnerte, was damals mit ihrem Onkel geschehen war. Die Erinnerungen hütete doch ich, einzig und allein ich. Nicht sie. Von uns beiden war ich diejenige, die härter war und nicht so prüde. Ich war sexuell freier als sie. Außerdem war ich diejenige, die Leon die beste Nacht seines Lebens bereitet hatte. Und er? Er wandte sich von uns ab. Er durfte uns nicht verlassen. Anna brauchte ihn doch. Wir brauchten ihn.
Leon stand plötzlich wortlos auf und ging ins Badezimmer. Ich musste mit ihm reden. Ich folgte ihm und drückte die Türklinke herunter. Nichts. Sie ließ sich nicht öffnen. Er hatte abgesperrt. Seit wann sperrte er ab?
„Leon?", rief ich betont sorglos.
Er sollte nicht wissen, dass ich seine seltsame Stimmung bemerkt hatte. Dass ich wusste, dass er uns verlassen wollte. Erst hatte er die Beziehung zwischen Anna und ihm hinterfragt, sie sei vielleicht ‚zu überstürzt' gewesen. Und dann schlief er auch noch mit dieser Schlampe, Sascha. Rief ihr hinterher, bettelte, dass sie bleiben sollte.
Es kam keine Antwort von ihm. Er musste mich gehört haben – ich stand immerhin direkt vor der Badezimmertür. Ignorierte er uns?
Nervös ging ich in der Wohnung umher – irgendwann lief ich zurück ins Schlafzimmer und setzte mich auf das Holzbett. Ich wartete. Früher oder später musste er ja aus dem Bad kommen. Ich blieb so beherrscht, wie ich konnte, mein Blick auf die Tür geheftet. Nach ein paar weiteren Minuten öffnete sie sich langsam und quietschend. Leon lugte hinter der Tür hervor und blieb wie erstarrt mitten in der Bewegung stehen, als er mich sah.
„Leon, mein Liebling? Ist alles in Ordnung?", fragte ich betont heiter.
„Morgen", grummelte er nur.
Er setzte sich auf das Bett und stützte seinen Kopf in die Hände.
„Ist alles ok? Hast du irgendwas?"
Er nickte, schien mich aber nicht wirklich wahrzunehmen.
„Ich merke doch, dass etwas nicht stimmt, Leon! Lass uns reden!"
Meine Stimme wurde unkontrollierter. Ich kniete mich vor ihn und nahm seine Hände in meine, sodass er den Kopf anheben musste. Sein Blick war leer. Ich wurde wütend. Anna hatte uns in die Situation gebracht. Wäre sie stärker, lebensfroher, hätte sie doch ein wenig etwas von dem Flittchen Sascha, hätte Leon seine Ex ganz schnell vergessen. Aber sie, sie war so passiv. Und sie war schwach. Er durfte uns nicht verlassen. Sie würde es nicht verkraften, wenn Leon sich von uns trennen würde.
„Sollen wir gemeinsam wandern gehen? Geocaching vielleicht? Das machst du doch so gerne!"
Die Worte stolperten nahezu aus mir heraus.
Leon sah mich nicht mehr an. Er sah in die Ferne. So, als wäre er gar nicht richtig hier.
„Leon, rede doch mit mir! Ist etwas passiert?"
Mein Herz pochte. Warum redete er nicht mit mir? War es wegen der Schlampe, Sascha? So ein billiges Flittchen. Folgte ihrem Ex sogar bis in den Urlaub, nur um unseren Freund zu vögeln. Sie hatte es nötig. Aber sie würde garantiert nicht mehr zu Leon gerannt kommen. Niemand würde unsere Beziehung zerstören.
Auch bei Kai hatte ich immer nur das Beste gewollt. Anna hatte ihn geliebt. Ich musste Kai die Stirn bieten, damit er sich ihr gegenüber besser verhalten würde. Kai mochte das überhaupt nicht – er war ja der Mann. Deshalb hatte er sich vermutlich Anna ausgesucht. Sie hatte ja immer alles gemacht, was er gesagt hatte – wie seine Marionette. Das hatte ihm gefallen. Als ich ihm aber mal gezeigt hatte, dass er so nicht mit Anna umzugehen hatte, kam er überhaupt nicht damit klar. Und wurde sogar handgreiflich. Na gut, unschuldig war ich auch nicht. Aber das konnte man nicht vergleichen. Wenn ich ihn manchmal geschlagen hatte, hatte er es ja kaum gemerkt, so muskulös, wie er war. Aber für sein Ego war es zu viel und er musste es mir zeigen. Dann meinte er, ich wäre bösartig und verrückt und würde mit meinem Verhalten jeden Mann zur Weißglut bringen. Ha! Ich brachte niemanden zur Weißglut, ich passte bloß auf Anna und mich auf! Hätte er sich angemessen benommen, hätte ich ihn nie in die Schranken weisen müssen.
Ich hatte uns aber zur Sicherheit eine Erinnerung geschrieben, dass es nicht mehr so ausarten durfte wie damals mit Kai, „GIB ACHT!", auf sein Foto. Wir durften nicht vergessen, was damals passiert war und dass uns das nicht mehr passieren durfte.
Blöd nur, dass Anna doch immer wieder versucht hatte, die Kontrolle über unseren Körper, zurückzugewinnen und mitbekommen hatte, was für ein Mensch Kai sein konnte. Anna wollte immer die Kontrolle über unseren Körper haben, auch wenn sie mich nie wahrzunehmen schien. Damals als wir noch Kinder waren und bei Friedrich lebten, wusste sie noch von mir. Doch irgendwann hatte sie so getan, als würde es mich überhaupt nicht geben. Als wäre ich eine imaginäre Freundin gewesen. Ich war mehr als das gewesen und war es heute noch. Wir waren ein Team. Sie verstand nicht, dass sie nicht jeder Situation gewachsen war. Dass ich sie doch beschützte. Das machte ich schon, seit sie ein Kind war. Als das Schwein von Onkel sie mit seinem Kumpel vergewaltigt hatte, war ich da. Und hatte sie beschützt, oder nicht? Würde sie überhaupt leben, wäre ich nicht gewesen?
Heute brauchte Anna mich nicht mehr so oft wie damals. Sie merkte gar nicht, dass ich da war. Und was ich alles für sie machte. Ich rief sie manchmal, aber sie hörte es nicht.Leon stand unvermittelt auf und nahm seinen Koffer unter dem Bett hervor.
„Leon? Was machst du da! Rede mit mir!"
Ich griff nach dem Koffer, zog ihn von Leon weg, der so überrascht war, dass ich ihm ihn ohne Probleme abnehmen konnte. Anschließend öffnete ich das Schlafzimmerfenster und warf ihn aus dem Fenster.
„Erst reden wir!"
Meine Worte kamen lauter und forscher heraus, als ich geplant hatte. Leon zuckte zusammen, aber sah mich endlich an. Sein Blick war wütend.
„Ich fahre nach Hause. Mit oder ohne dich. Ich muss hier raus!", spuckte er mir entgegen.
Ich schnaufte. Nach Hause? Wohl eher zu Sascha!
Leon ging Richtung Haustür. Ich hinterher und gerade, als er die Tür öffnen konnte, knallte ich sie vor seiner Nase zu.
„Wir reden erstmal. Du gehst nirgendwo hin. Du kannst unsere Beziehung doch nicht einfach so wegschmeißen. Und warum? Wegen Sascha?"
Leon zuckte zusammen und nun sah ich etwas anderes in seinen Augen. Angst.
Dachte er wirklich, ich hätte die beiden nicht gesehen? Wie er sie angebettelt hatte zu bleiben? Wie sie behauptet hatte, sie hätte sich geändert? Dass ich nicht lache! Sie war die gleiche Egoistin, die sie damals schon war. Kam hierher und will uns unseren Freund wegschnappen.Leon sah mich an, als würde er mir etwas sagen wollen. Seine Lippen öffneten sich. Dann schlossen sie sich wieder. Er sah aus wie ein Fisch, der nach Luft schnappte, das war ja schon fast niedlich. Aber egal wie naiv er war, Anna liebte ihn. Und er tat ihr gut. Zwar war sie zwischenzeitlich etwas irritiert wegen Falk gewesen, aber das können wir geradebiegen. Das zwischen dem Nachbarn und ihr wäre doch von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen. Er war achtzehn Jahre älter als sie. Ich dachte, das zwischen Anna und ihm wäre eher eine einmalige Sache für ihn. Ich dachte, er würde von ihr ablassen, nachdem ich ihn einmal rangelassen hatte. Ich wusste direkt, er wollte uns, nachdem er uns beim Yoga beobachtet hatte. Und wie er uns angesehen hatte, als wir aus der Dusche gekommen waren – es war eindeutig. Nicht, dass es mir keinen Spaß gemacht hätte, mit ihm zu schlafen, attraktiv war er ja schon. Aber leider hatte ich den Mann doch etwas unterschätzt. Danach war er ja nur umso schärfer auf Anna geworden und hatte überhaupt nicht mehr lockergelassen. Die Arme wusste gar nicht, was sie tun sollte, und war komplett überfordert. Gott sei Dank hatte er es irgendwann sein lassen mit seinen ‚zufälligen' Besuchen und das Problem hatte sich von allein erledigt.
Leon stand vor mir und sah etwas dumm aus der Wäsche. Er war definitiv ein kleineres Kaliber als Kai. Womöglich kann ich es doch anders lösen. Ich nahm sein Kinn in meine Hand und küsste ihn. Er regte sich nicht. Seine Lippen halb geöffnet. Meine Zunge fand ihren Weg in seinen Mund. Das schien ihn aus seiner Trance zu wecken. Er riss sich von mir los.
„Es reicht! Es reicht mir mit dir!", er griff nach der Türklinke und ging in den Garten.
Ich lief ihm hinterher.
„Leon, warte!"
Er soll mir doch nur zuhören!
„Du bist so eine Memme! Kaum gibt es Probleme, rennst du zurück nach Hause! Ich mache wenigstens alles für unsere Beziehung! Und was machst du? Du willst direkt aufgeben!"Leon blieb mitten im Garten stehen, so wie ich gehofft hatte. Er drehte sich zu mir um.
„Ich erkenne dich überhaupt nicht. Du bist nicht die Anna, in die ich mich verliebt habe. Ich habe mich in dir getäuscht. Das hat alles keinen Sinn mehr."
Oh nein! So leicht würde ich es ihm nicht machen. Er würde schon verstehen, wenn ich es ihm erkläre. Kai hatte es nicht verstanden, aber Kai war nicht gerade die hellste Leuchte auf der Torte gewesen. Leon nahm den Koffer, den ich eben in den Garten geworfen hatte, und ging zurück zum Haus, ins Schlafzimmer. So als wäre nichts gewesen, packte er seine Sachen in aller Ruhe.
„Leon! Rede mit mir! Was ist los? Warum willst du unbedingt gehen?"
Keine Reaktion. Er packte seelenruhig seine Klamotten weiter ein.
„Leon bitte! Ich erkläre dir alles. Geh nicht."
Leon ließ sich von mir nicht stören. Es war so, als hätte ich gar nichts gesagt. Als wäre ich gar nicht da.
„Weißt du, damals, als ich zu meinem Onkel kam ... ich habe dir nicht alles erzählt. Aber jetzt bin ich bereit. Ich erzähle es dir. Dann wirst du es verstehen. Dann wirst du alles verstehen! Fahr noch nicht. Wenn ich es dir erst erzählt habe, wird alles wieder gut. Du wirst mich verstehen."Leon hörte nicht auf zu packen! Panik stieg in mir auf. Und Wut! Wie er, ohne zu zögern, unsere Beziehung wegschmiss! Sascha musste ihn erst mit zwei ihrer Freunde betrügen, damit er sie verlassen hatte. Und bei uns? Ein paar kleine Streitigkeiten, und er packte seine Sachen? Mit jedem Shirt, das er in den Koffer legte, stieg meine Wut.
„Leon!", ich versuchte es wieder.
Keine Reaktion! So ein Arschloch! Er sollte doch nur mit mir reden!
„Ahhhhhh!"
Ich merkte erst, wie laut ich aufschrie, als Leon aufhörte zu packen und mich ansah. Endlich! Ich schnappte mir den Koffer und leerte den gesamten Inhalt auf dem Schlafzimmerboden aus. Dann warf ich den Koffer gegen die Wand.
„Du hörst uns jetzt verdammt noch mal zu!"
Die Worte spuckte ich Leon förmlich entgegen.
„Uns?", fragte er dümmlich.
Ich rollte mit den Augen. Das war doch jetzt nicht wichtig!
„Warum sagst du ‚uns'?", wollte Leon wissen.
Sein Gesicht weiß. Bevor ich antworten konnte, fragte er – fast emotionslos: „Hast du Kai umgebracht?"
Ich stockte.
„Kai ist im Ausland. Von was redest du?", entgegnete ich ihm.
„Ich habe mit seinem Bruder telefoniert, ich weiß, dass er tot ist. Du brauchst mich nicht mehr anlügen. Ich will nur wissen, ob du es warst. Ob du ihn umgebracht hast."
„Ich ... Keine Ahnung, was mit Kai ist. Woher soll ich das wissen?", fragte ich genervt und schüttelte irritiert den Kopf. Darum ging es doch jetzt gar nicht. Es ging um uns! Um Leon und Anna. Kai war Vergangenheit.
„Anna ... Lüg mich nicht an. Wenn du reden willst, musst du wenigstens ehrlich sein. Was bringt es denn, zu reden, wenn du mich nur anlügst?"
Jetzt hatte er einen Tonfall, den man sonst bei psychisch labilen Menschen nutzte. Als wäre ich verrückt.
„Anna?" Leon hörte nicht auf zu drängen.
„Ja ok. Ich habe Kai umgebracht. Es war aber ein Unfall! Ich wollte es nicht. Es sollte nicht passieren! Ich habe Anna nur beschützt - wie ich sie immer beschützt habe!"Leons Gesicht wurde komplett weiß, seine Augen weiteten sich und seine Lippen öffneten und schlossen sich. Süß, wie schnell er aus dem Konzept zu bringen war. Er legte seine Hand auf den Nachttisch, als würde er sich daran festhalten.
„Was ... was ist mit Sascha? Hast du sie ...?"
Er beendete den Satz, ohne auszusprechen, was er fragen wollte.
„Leon, jetzt hör mir doch zu. Kai, Sascha, das ist alles nicht wichtig! Es geht um uns! Um unsere Beziehung!", sagte ich.
Er konzentrierte sich nicht!
Sein Blick wanderte im Raum umher. Plötzlich sprang er nach vorne und wollte nach dem Autoschlüssel greifen. Ich war schneller. Ich packte den Schlüssel und warf ihn aus dem Fenster. So weit ich konnte.

EntzweitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt