„Leon? Was machst du da unten?"
Erleichtert atmete ich aus, als ich Annas Stimme hörte.
„Ich ... ich wollte gestern noch die eingelegten Pilze runter bringen, als auf einmal die Tür ins Schloss fiel und ich nicht mehr rauskam."
„Oh mein Gott! Du hast die Nacht da unten verbracht?"
Wortlos erklomm ich die Stufen der Leiter und verharrte vor Anna, die mir immer noch den Weg zwischen Keller und Freiheit versperrte. Für einen kurzen Moment glaubte ich, sie würde die Tür vor meiner Nase ins Schloss fallen lassen. Doch sie ging zur Seite und so war ich es, der die Falltür mit einem Rums hinter sich zufallen ließ. So schnell würde ich da nicht noch einmal reingehen. Okay, einmal musste ich wohl oder übel nochmal herunter, um das Glas mit dem Urin zu entsorgen.
„Ist dir denn irgendetwas aufgefallen gestern Nacht?", fragte ich Anna, immer noch verstört von meinem unfreiwilligen Schlafquartier.
„Nein. Was soll mir denn aufgefallen sein? Dass du nicht neben mir lagst, habe ich erst heute Morgen gemerkt."
„Na ja, irgendwas. Vielleicht war das Ganze ja gar kein Unfall."
Anna lachte. Als ich sie weiterhin ernst ansah, hörte sie aber abrupt auf.
„Wenn es kein Unfall war, dann muss dich ja jemand eingesperrt haben. Aber wir sind hier ganz allein, schon vergessen?"
„Ganz allein nicht." Ich sah sie mit hochgezogener Augenbraue an.
Sie schnaubte.
„Ich weiß, du bist nicht gerade ein Fan von Falk, aber das ist nun wirklich zu weit hergeholt. Was hätte er überhaupt davon, dich da unten einzusperren?"
Ich seufzte. Recht hatte sie. Doch wieder schlich sich ein Bild von Falk in meinen Kopf. Wie er die Tür ins Schloss fallen ließ und sich dann über die schlafende Anna hermachte. Ich schüttelte den Kopf – es war wirklich verrückt.
„Hey, mach dir keine Gedanken. Falk ist keine Gefahr. Spring doch erstmal unter die Dusche, ich mach uns Frühstück."
Anna berührte mich sanft an meinem Arm und lächelte mich liebevoll an. Ich nickte und begab mich Richtung Bad. Vor der Schlafzimmertür blieb ich stehen und drehte mich wieder um. Sie stand immer noch an der gleichen Stelle und sah mich fragend an.
„Was ist ... Was ist, wenn es nicht Falk war. Was ist, wenn es Kai war?"
Anna zog ihre Augenbrauen zusammen und antwortete eine ganze Weile nicht. Die Uhr tickte laut, während sie nachzudenken schien. Dann sagte sie leise aber bestimmt: „Kai ist nicht hier. Er ist im Ausland."
„Aber, was ist mit dem Bild? Du hast doch selbst gesa-"
Doch Anna hörte mir schon gar nicht mehr zu, sondern schritt in die winzige Küche, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen. Ich wandte mich Richtung Schlafzimmer und lief ins Bad. Als ich das Wasser anstellte, waren meine Gedanken immer noch bei Kai. Wie konnte sie sich so sicher sein? Vielleicht war er ja wieder hier? Vielleicht war er nie weg gewesen? Es war zwecklos, jetzt mit Anna darüber zu diskutieren und der Gedanke, dass mich Kai im Keller eingesperrt hatte, ergab auch wirklich keinen Sinn. Warum sollte er mich einsperren, nur um dann wieder zu gehen?
Nach dem Frühstück legte sich Anna in den Garten. Sie hatte wieder einmal Kopfschmerzen und meinte, es ginge ihr nicht gut. Wir beschlossen, den Tag zuhause zu verbringen. Die Zeit nutzte ich, um aufzuräumen. Um das Spannbettuch ordentlich anzubringen, warf ich Decken und Kissen zur Seite und zog das Tuch richtig. Griff in an die Seiten und steckte es wieder um die Matratze. Auf einmal hatte ich etwas kleines, kaltes in der Hand, das zwischen meinen Fingern knisterte. Ich zog es hervor – eine aufgerissene Kondompackung? Wo kam die her? Anna und ich verhüteten nicht mit Kondomen, da sie die Pille nahm. War es von meinen Eltern? Bei dem Gedanken schauderte es mir. Daran wollte ich nicht denken. Außerdem glaubte ich nicht, dass ein Paar, das seit fünfunddreißig Jahren verheiratet war, Kondome nutzte. Geschwister habe ich keine. War es von Anna? Sie und ... wer? Falk? Gelegenheiten hätte sie genug gehabt.Aber meine unschuldige Freundin? Eine Fremdgeherin? Andererseits wusste ich mittlerweile, dass sie gar nicht so unschuldig war. Sie konnte auch anders. Aber wenn die Kondompackung von Anna war, dann konnte es doch nur mit Falk gewesen sein. So viele Männer gab es hier ja nicht und ihm hatte ich von Anfang an nicht getraut. Er wollte sie, das war offensichtlich. War er es doch gewesen, der mich eingesperrt hatte, um ... Ein Bild von den beiden in dem Holzbett schlich sich in meinen Kopf. Wütend stürmte ich in den Garten. Ich musste Anna zur Rede stellen. Sie schlief friedlich auf einer der Gartenliegen. Langsam näherte ich mich ihr, doch als ich sie wecken wollte, hielt ich inne. Was sollte ich denn sagen? Das war doch absurd. Unser Nachbar hatte mich eingesperrt, um in Ruhe mit ihr Sex haben zu können. Sie würde mich doch einfach nur für verrückt erklären. Zu Recht.
Ich lief zurück ins Haus und warf noch einmal einen Blick auf Anna. Sie schlief und atmete gleichmäßig. Gut. Ein Problem nach dem anderen. Kai, Falk, ihr Verhalten, mein Verhalten. All das sollten wir nicht ignorieren. Wir sollten darüber sprechen und wir sollten die Probleme zur Seite schaffen. An einem Strang ziehen. Hätte das die Beziehung zu Sascha retten können?Mir schwirrte der Kopf. Ich musste mich konzentrieren. Und ich musste aufhören, so oft an meine Ex-Freundin zu denken. Ich dachte, Anna würde helfen und ich würde weniger über Sascha nachdenken. Das Gegenteil war der Fall. Ich verglich alles an ihr mit meiner Verflossenen. Selbst wenn sie redete, dachte ich manchmal darüber nach, was Sascha an ihrer Stelle gesagt hätte. Oder wenn wir gemeinsam auf einer Feier waren. Anna sagte nie ein Wort und wartete darauf, zu gehen. Sascha wäre als Erstes an die Bar und hätte uns Shots geholt. Wir wären einer der letzten Gäste gewesen und wären zu Fuß nach Hause. Sie barfuß, weil sie nicht mehr in ihren hohen Schuhen stehen, geschweige denn laufen konnte.
Anna hatte im Gegensatz dazu nicht viel getrunken, das machte sie nie in der Öffentlichkeit. Und schließlich hatte sie nach zwei Stunden ein Taxi für uns bestellt. Wir waren einer der Ersten, die gegangen waren.
Ich nahm mein Handy zu Hand und klickte auf Kais Profil. Atmete tief durch und tippte auf ‚Nachricht schreiben'. Das Tippen des Handys war der einzige Ton, in dem sonst geräuschlosen Haus. Kai hatte nicht nur noch die Bilder mit Anna auf seinem Profil sondern es gab auch das mysteriöse Foto von ihm, welches hier aufgetaucht ist. Und wenn ich ihn darauf ansprechen würde? Dann würde er doch sowieso nicht antworten – oder es im besten Fall leugnen? Immerhin die Sache mit den ganzen Bildern mit meiner Freundin sollte ich ein für alle mal klären. Ich würde auch noch mit Anna sprechen. Aber zunächst wollte ich wissen, wie er reagierte. Ob er reagierte.Hallo Kai,
ich bin Leon, Annas neuer Freund.
Ich weiß, ihr wart zusammen, aber das ist einige Monate her. Ich denke, es wird Zeit, dass du die Bilder mit ihr löschst, vor allem dein Profilbild.Grüße,
LeonIch überflog die Nachricht und drückte anschließend auf „Senden", bevor ich es mir anders überlegen konnte. Kurz und knapp, dennoch sagte es genug aus.
Erneut schoss ein Bild von Anna mit Falk in meinen Kopf. Dann mit Kai. Und schließlich doch wieder Sascha. Sascha, wie sie da lag. Das befreundete Paar in unserem Schlafzimmer mit ihr. Was waren die letzten Worte, die ich zu ihr gesagt hatte? Wann war der letzte Kuss?
Hätte ich gewusst, dass es der Letzte sein würde, hätte ich ihn mehr genossen. Ich hätte daran festgehalten. Niemals hätte ich Schluss gemacht. Sie hatte mir keine Wahl gelassen. Alles hätte ich in Kauf genommen, um mit ihr zusammen zu sein. Das ständige Ausgehen, ihr übertriebener Graskonsum, ihre Unzuverlässigkeit, ihr Weigern, ihr Leben auf die Reihe zu bekommen. All das war es wert, morgens neben ihr aufzuwachen, ihren Duft einzuatmen und in ihr Gesicht zu sehen.
Als ich sie verloren hatte, hatte ich erst gedacht, ich würde nie wieder zurück in die Normalität finden. Vermutlich hätte ich das auch nicht. Nicht ohne Anna. Sie war ein Engel, der mir aus meinem Loch geholfen hatte. Nun aber merkte ich, wie gebrochen sie war und dass sie niemanden hatte. Aus ihrem Leben kannte ich lediglich Sophie, sie war der einzige Mensch, mit dem sie regelmäßigen Kontakt hatte. Sie sagte schon, dass sie nicht viele enge Freunde hatte und nur mit Sophie befreundet war, aber man hat doch Bekannte, oder? Menschen, die man hin und wieder trifft, selbst wenn es nicht deine besten Freunde sind?
Von ihrer Familie kannte ich ebenso niemanden. Auch wenn sie sagte, sie hätte mit ihren Großeltern Kontakt, hatte ich sie nie mit ihnen telefonieren sehen.
Von Kai dagegen erzählte sie zwar, aber bloß bruchstückhaft. Sie ließ viele Stellen aus, aber eins war mir trotzdem klar: Kai war definitiv kein Mensch, mit dem man zu tun haben möchte. Wie hatte es immer so eskalieren können? War Kai generell ein gewalttätiger Mensch? Kai war der Schweregrad offenbar bewusst, er hatte sich nicht umsonst im Ausland abgesetzt. Aber wenn Anna zur Polizei gegangen war, würden sie dann nicht nach ihm suchen?
Mir fehlten zu viele Informationen, um das alles zu verstehen, und Anna machte aus allem so ein Geheimnis. Wie war es letztlich zum Schlussstrich zwischen den beiden gekommen? Hatte sie ihn angezeigt? Hatte er versucht, sie zurückzugewinnen? Woher wusste sie, dass er ins Ausland gegangen war?
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Entzweit
Mystery / ThrillerAnna kann ihr Glück kaum fassen: Ihr Traumleben mit Bilderbuchfamilie ist zum Greifen nah. Leon ist der Richtige für sie, daran besteht kein Zweifel. Doch der romantische Urlaub in der Waldhütte seiner Eltern entwickelt sich mehr und mehr zu einem A...