Kapitel 6

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„Anna, kommst du bitte nach vorne?"
Um mich herum ertönte unterdrücktes Gelächter. Das blonde Haar hing in langen Strähnen an mir herab, bedeckte fast vollständig das Gesicht, während mein Blick durch den Klassenraum schweifte. Ein Mädchen hielt sich die Hand vor den Mund, prustete dann aber los, als könne sie es nicht zurückhalten. Ihr Lachen schallte schrill im Klassenzimmer.
„Anna! Komm jetzt bitte an die Tafel."
Ich wandte den Blick von dem Mädchen ab und sah nach vorne. Der Lehrer, dessen Gesicht im Dunkeln lag, saß etwa fünfzig Meter von mir, er schien klein in dieser Entfernung. Hinter ihm eine riesige, leere Tafel. Ich schluckte, stand auf und lief nach vorne, meinen Block fest in den schwitzigen Händen. Insgesamt herrschte eine siedende Hitze in diesem Raum.
Auf einmal durchströmte mich ein stechender Schmerz, als ich mit den Händen voraus auf den Boden aufschlug. Mein Block schlitterte über das Linoleum bis er von der Wand, an der die Tafel hing, gestoppt wurde.
Gelächter.
Ich sah nach oben zu einem Jungen, der sein Bein in dem Moment unter den Tisch stellte. Er streckte seine Hand zu mir aus.
„Na komm, Glupschauge. Ich helfe dir hoch."
Er grinste mich boshaft an. Ich atmete tief durch, ignorierte seine Hand und stand auf. Lief zur Tafel und spürte, wie mir jemand einen Klaps auf den Po gab. Ich zuckte zusammen.
„Na Kleines, dann lös' doch mal die Aufgabe für uns."
Ich bückte mich, hob den Block auf und schrieb meine Formeln auf die Tafel. Ohrenbetäubendes Gelächter ertönte hinter mir.
Ich blickte auf das grüne Brett und mir wurde schwindlig. Was hatte ich aufgeschrieben? Es war alles falsch! Ich sah zum Block. Es stand nichts mehr da! Er war leer.
„Nein, nein. So geht das doch nicht", hörte ich ein Flüstern im Ohr.
Er nahm meine Hand, in der sich die Kreide befand und begann, mit ihr an die Tafel zu schreiben. Unsere Körper trennte keinen Zentimeter. Das Lachen dröhnte in den Ohren. Ich konnte nicht mehr atmen, schnappte nach Luft. Dann schloss ich die Augen.
Ich wachte auf. Meine viel zu langen, dürren Beine und Arme hingen aus einem kleinen Holzbett heraus, sodass sie fast den Boden berührten. Ich atmete erleichtert auf. Nur ein Traum.
Plötzlich öffnete sich knarrend eine Tür. Aus dem Raum dahinter dröhnte Gelächter.
„Glupschauge! Glupschauge! Glupschauge!"
Viel zu laut. Jemand näherte sich dem Bett. Ich kniff die Augen zusammen, hielt meine Ohren zu und schrie.
„Anna!"
Ich wurde geschüttelt.
„Anna! Wach auf!"
Ich schnellte hoch und sah in Leons weit aufgerissene Augen. Ich schloss meinen Mund und der Lärm verstummte.

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„Weißt du, was wir früher immer mit der Familie gespielt haben? Monopoly! Ich glaube, wir haben es sogar noch irgendwo hier ...", verkündete Leon und verschwand mit dem Kopf im Wohnzimmerschrank.
Der Geist des Traums von heute Morgen steckte mir immer noch in den Knochen, da war jede Ablenkung willkommen. Zu gut konnte ich mich an das Lachen der Mitschüler erinnern. Nur, dass sie in der Realität wenigstens wirklich versucht hatten, sich nicht allzu offensichtlich über mich lustig zu machen. Sie hatten es hinter meinem Rücken getan. Na ja, zumindest, eine Zeit lang ...

„Tada! Hier ist es", stellte Leon triumphierend fest. „Lass uns nach draußen gehen, ich hol' die Picknickdecke."
Im Garten breiteten wir die Decke und das Spiel aus. Schon innerhalb einer halben Stunde hatte Leon alle roten Straßen erworben. Ich war eher diejenige, die versuchte, nicht allzu viel Geld am Anfang auszugeben, damit ich für den Fall der Fälle genug hatte.
„Bald wirst du richtig blechen müssen!", kündigte er an, als er sich die Karte für die letzte rote Straße nahm und zwinkerte mir zu.
„Na warte, dir zeig ich es noch!", gab ich zurück.
Er grinste, sein blau-weiß gestreiftes Shirt rutschte ein wenig hoch und gab die Spur eines der Kratzer frei, die ich gestern an ihm entdeckt hatte.
„Woher hast du-"
In dem Moment wurde meine Stimme von Leons übertönt, der zeitgleich anfing zu sprechen:„Monopoly ist immer-"
Wir lachten.
„Du zuerst." Leon lächelte mir auffordernd zu.
Ich hatte ein Déjà vu. Die Situation erinnerte mich an unser erstes gemeinsames Date im Café. Ich schmunzelte bei dem Gedanken. Warum sollte ich die entspannte Atmosphäre zerstören, indem ich wieder auf den Streit von vor zwei Tagen einging? Ich konnte ihn später immer noch fragen, woher denn die Kratzer stammten. Ich schüttelte den Kopf und erwiderte: „Ach, ist nicht so wichtig. Was wolltest du sagen?"
„Monopoly ist immer eine Zeitreise für mich. Meine Familie und ich haben es geliebt. Da kamen alle zusammen." Er lächelte und fügte hinzu: „Welche Spiele gab's bei euch?"
„Als ich klein war, habe ich oft mit Mama ‚Wer bin ich?' gespielt. Und manchmal zu dritt, mit Papa, ‚Uno'. Als sie gestorben ist, hat Papa nicht mehr so oft etwas gemeinsam unternehmen wollen."
Leon nahm meine Hand in seine.
„Das ist schade. Redest du oft mit deinem Vater?"
„Irgendwie nicht. Als er beschlossen hatte, dass er es nicht allein schaffen würde, mich groß zu ziehen, wurde der Kontakt immer weniger, bis wir schließlich fast nicht mehr miteinander sprachen. Manchmal zu Geburtstagen oder Weihnachten ruft einer den anderen an."
„Danach bist du doch zu den Großeltern gezogen, richtig? Sind sie die Eltern deines Vaters?" Mich störten die vielen Fragen, meine Kindheit war ein Thema, das ich gerne mied. Wir waren so glücklich, bis Mama gestorben war. Sie hatte uns zusammengehalten. Ohne sie waren wir keine Familie mehr. Trotzdem wollte ich Leon nicht vor den Kopf stoßen, also antwortete ich ihm: „Von meiner Mutter. Aber Oma und Opa waren auf Weltreise, als Vater beschlossen hat, dass ihm alles zu viel wird. Deshalb kam ich erst zu seinem Bruder."
Leon sah mich überrascht an.
„Du hast einen Onkel? Ich dachte, deine Eltern waren beide Einzelkinder?" 
Warum die ganzen Fragen? Konnte er die Vergangenheit nicht ruhen lassen?
„Ja, aber wir hatten nie viel mit ihm zu tun und ich habe bloß eine kurze Zeit bei ihm gelebt. Außerdem habe ich sowieso keinen Kontakt mehr zu ihm. Das ist ja auch alles nicht von Bedeutung."
Leon streichelte mir über die Wange und schaute mich liebevoll an.
„Für mich ist es wichtig. Für mich ist alles wichtig, was dich betrifft."
Um das Gespräch zu beenden, würfelte ich und landete auf der Schlossallee.
„Du bist."
Leon warf den Würfel und ich hoffte, dass damit unsere Unterhaltung über die Kindheit beendet war.
„Wie lange warst du denn bei deinem Onkel? Und warum habt ihr keinen Kontakt mehr? Du hast doch bei ihm gewohnt?"
Ich seufzte.
„Leon ... das ist Vergangenheit. Mama starb, als ich klein war. Vater gab mich weg, die Großeltern konnten mich nicht direkt nehmen, weil sie durch die Welt gereist sind, und der Onkel hat es eben für diese Zeit übernommen. Ich habe weder mit Vater noch mit meinem Onkel wirklich Kontakt. Zu Oma und Opa schon. Die kannst du auch gerne kennenlernen, wenn sich die Gelegenheit ergibt. Können wir jetzt weiterspielen?"
„Tut mir leid, Schatz, ich versuche bloß, es zu verstehen. Ich weiß, dass das alles hart war, und ich war Gott sei Dank nie in so einer Situation. Aber ich finde es schade, wenn man so den Kontakt zu der Familie abbricht. Ich weiß, dein Vater würde jetzt keinen Orden für den besten Vater der Welt erhalten, allein schon, weil er dich weggegeben hat. Für ihn war es aber sicherlich auch schwer. Manche Menschen sind einfach nicht so stark, und er hat die Liebe seines Lebens verloren. Vielleicht hat er ja eine zweite Chance verdient? Und dein Onkel hat sich zumindest gekümmert. Eventuell können wir die beiden mal besuchen, wenn du dazu bereit bist?"
Ich schwieg. Er verstand es nicht. Für ihn war es eine Leichtigkeit, ja, aber für mich? Ich hatte Vater ewig nicht gesehen. Und meinen Onkel? Ich wusste gar nicht mehr, wie er aussah. Ich war höchstens einen Monat dort gewesen. Oder waren es zwei? Es war nicht von Bedeutung - es war kurz, ich war erst acht Jahre alt und konnte mich da kaum an was erinnern. Die Kindheit hatte ich größtenteils bei Oma und Opa verbracht, die ich beide liebte. Fast genauso, wie ich meine Mama geliebt hatte. Manchmal hat man eben nicht zu allen aus der Familie Kontakt.
Wir spielten weiter und die Fragen schienen endlich ein Ende gefunden zu haben.
„Wie heißt eigentlich dein Onkel?"
Leon schreckte mich aus meinen Gedanken. Wie hieß er nochmal? Mit Verwunderung stellte ich fest, dass ich selbst das vergessen hatte.
„Ich weiß es nicht mehr, das Alles ist lange her. Es ist egal. Die Zeit, nachdem Mama gestorben ist, war die Schlimmste meines Lebens. Ich habe lange getrauert und konnte monatelang nicht akzeptieren, dass sie nicht mehr zurückkommen wird. Ich spreche schlicht und einfach nicht gerne darüber."
Leon sah mich an. Ich merkte, dass er mich etwas fragen wollte. Um ihn abzulenken, würfelte ich. Er konnte wirklich hartnäckig sein. Die Vergangenheit war nicht so wichtig, wie viele Menschen dachten. Ja, sie hatte mich geprägt, aber der Tod meiner Mama war eben ein großes Unglück. Das hatte nichts mit mir als Mensch zu tun.
„Wie ist eigentlich deine Mama gestorben?"
Ich seufzte.
„Leon!"
Mein Freund hob beschwichtigend die Hände.
„Okay, schon gut, tut mir leid! Ich lass dich jetzt in Ruhe damit. Wir reden ein anderes Mal darüber, gut?"
Leon sah mich mit einer hochgezogenen Augenbraue fragend an. Ich nickte.

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