Kapitel 10

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Mir wurde warm. Der Atem schwer und abgehackt, ich wurde feucht. Warum törnte mich das an? Falk hatte nichts auf meinem Bein zu suchen. Was erlaubte er sich überhaupt?
Trotz der Beklommenheit und Wut fingen meine Gedanken an, zu wandern – zu seiner Hand, die er höher schieben würde. Ich pochte. Und dann spürte ich es. Ein einzelner Finger streichelte sanft über das Bein und glitt etwas höher. Er berührte mich kaum. Ich fühlte es dennoch mit so einer Intensität, dass mir die Luft wegblieb.
Ich sprang auf. Leon schaute mich überrascht an.
„Ich ... ich gehe kurz zur Toilette", sagte ich hastig zu ihm.
Er nickte und führte seine Unterhaltung mit Falk fort. Wie konnte er nicht merken, was vor sich ging? Im Badezimmer lehnte ich mich gegen die abgeschlossene Tür und ließ mich langsam an ihr heruntergleiten. Das Gefühl der Hand weiterhin auf mir.
Was war los mit mir? Ich liebte Leon! Warum lasse ich mich so aus dem Konzept bringen?
Mein Spiegelbild sah mir mit weit aufgerissenen Augen, erröteten Wangen und zerzaustem Haar entgegen. Ich bürstete es, legte etwas Puder auf, um das gerötete Gesicht zu verdecken, und atmete tief durch.
„Ich liebe Leon", flüsterte ich. Als ich aus dem Badezimmer trat, trugen die Männer das Geschirr rein.
„Schatz, wäre es in Ordnung, wenn ich mit Falk noch was am Auto schaue und du schonmal abspülst? Die Gelegenheit müssen wir ja nutzen, wenn wir mal einen Handwerker in unserem Haus haben." Leon lachte.
Ich spürte abermals den Blick des Nachbars, traute mich dennoch nicht, in seine Richtung zu sehen. Die beiden liefen zum Auto. Ich trug das restliche Geschirr rein und fing an, abzuspülen. Die Nervosität steckte mir noch in den Knochen. Gedankenverloren spülte ich das Kaffeeservice und stellte es neben mich zum Trocknen.
Plötzlich merkte ich, wie ein Körper sich von hinten an mich schmiegte. Ich fühlte Jeans an meinem Po und etwas Hartes, was sich in den unteren Rücken bohrte. Ich war wie versteinert. Ich wusste, dass es nicht Leon war. Das spürte ich einfach. Nachdem ich aus meiner Starre erwachte, drehte ich mich um.
„Falk!", zischte ich in sein hämisch grinsendes Gesicht.
„Ich habe das Öl gefunden!", ertönte Leons Stimme aus der Ferne.
Der Nachbar griff in dem Moment nach einem Teller, den ich gespült hatte, und einem Küchentuch, das neben mir lag. Im Wohnzimmer, circa drei Meter entfernt, stand Leon. Er sah uns an. Erst Falk. Danach mich. Ich konnte seine Mimik nicht einordnen, sie war regungslos.
Wie lange hatte er schon da gestanden?
Ich schaute mich nach Falk um, aber sein ebenso undeutbarer Blick war auf Leon gerichtet.
„Sollen wir zurück an die Arbeit?", fragte mein Freund schließlich, seine Stimme genauso neutral wie seine Mimik. Als die Männer gemeinsam in den Garten liefen, atmete ich erleichtert aus.

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„Okay, jetzt bin ich dran. Wann warst du zum ersten Mal verliebt und in wen?", fragte ich Leon und schenkte mir Weißwein nach.
Er lachte.
„Das war schon in der Grundschule. Sie hieß Lena und hatte langes, blondes Haar und blaue Augen, so wie du. Sie war schüchtern und hatte nicht allzu viele Freunde. Aber sie war sehr klug. Sie hatte bestimmt die besten Noten von uns allen. Am Anfang habe ich mich kaum getraut, mit ihr zu reden. Irgendwann habe ich von zuhause ein weiteres ‚Pickup' für sie mitgenommen. Als ich sie dann gefragt habe, ob sie auch eins möchte, hatte sie bloß genickt. Danach haben wir unsere Kekse gegessen und kein Wort geredet. Mann, das war vielleicht eine seltsame Situation! Ab dem Moment habe ich ihr immer mal wieder was Süßes von zuhause mitgebracht und wir aßen jedes Mal schweigend. Ich glaube, wir haben nie ein richtiges Gespräch geführt!"
„Oh, das ist irgendwie süß! Was ist danach passiert? Hattest du noch länger Kontakt zu ihr?"
„Leider nicht. Vor dem nächsten Schuljahr ist sie mit ihren Eltern weggezogen. Ich habe sie nie wiedergesehen."
Leon trank von seinem trockenen Rotwein und sah verträumt in die Ferne. Zum Glück hatte ich daran gedacht, meinen Lieblingsweißwein mitzubringen – hier gab es sonst nur roten auf Vorrat.
Von der Seite betrachtete ich Leon. Das blaue Poloshirt mit dem weißen Kragen und die beige Chinohose passten perfekt zu ihm, auch wenn er mittlerweile einen Dreitagebart hatte, was sonst überhaupt nicht sein Stil war.
„So, nun musst du aber eine Frage beantworten", verkündete er, legte seinen Kopf zur Seite und hob seinen Finger an das Kinn – so, als würde er angestrengt nachdenken. Schließlich fragte er: „Was war der peinlichste Moment in deinem Leben?"
Erschrocken sah ich ihn an.
Mein peinlichster Moment? Das konnte ich niemandem erzählen!
Als ich acht war, war ich zu den Großeltern gezogen und hatte die Schule gewechselt. Da es mir sowieso schwergefallen war, überhaupt nur ein Wort bei Fremden herauszubekommen, war es der Horror für mich. Viele fanden mich seltsam. Ich konnte es ihnen nicht verübeln, ich war so blass mit dem hellblonden Haar und der Porzellanhaut, dass ich unnatürlich weiß schien, wie ein Gespenst. Zusätzlich war ich dünn, fast mager. Manche Kinder lachten hinter meinem Rücken über mich.
Mir wurde in der Kindheit oft schlecht, insbesondere wenn ich Angst bekam oder mich unwohl fühlte – da hatte ich immer das Gefühl, dass ich mich übergeben musste. Einmal, als abermals hinter meinem Rücken über mich getuschelt und gelacht wurde, passierte es. Mir wurde kotzübel und ohne weitere Vorwarnung hatte ich mich auf den Schultisch erbrochen. Es roch widerlich. Ich saß versteinert da. Gedämpftes Kinderlachen war zu hören.
Manche riefen: „Ihhhh, Anna hat auf den Tisch gekotzt." Und dann: „Kotzi, kotzi, kotzi".
Ab diesem Zeitpunkt war mein Spitzname Kotzi. Irgendwann kamen wir auf die weiterführenden Schulen und ich somit auf das Gymnasium unserer Stadt. Von den schlimmsten Mitschülern, den ‚Anführern', kam zum Glück niemand auf die gleiche Schule wie ich. Ab da wurde mein Schulleben dann etwas erträglicher.
„Anna, du darfst dich nicht drücken! Was ist dein peinlichstes Erlebnis?"
Leon weckte mich aus meinen Gedanken.
„Ach das war in der 11. Klasse. Ich hatte ein neues, weißes Oberteil von H&M zum ersten Mal angezogen. Es war wunderschön, mit Spitze. Als ich in der Schule ankam, haben mir viele Jungs zugezwinkert, mich angegrinst oder sogar angesprochen – Jungs, mit denen ich vorher nie was zu tun hatte. Die Mädels schauten mich böse an und tuschelten über mich. Irgendwann kam Vanessa, meine damalige beste Freundin, zog mich zur Seite und sagte mir, dass man meinen pinken BH sehen könne. Ich rannte zur nächsten Mädchentoilette und sah es selbst. Das Oberteil war komplett durchsichtig und versteckte kaum was – vor allem keine so knallige Farbe! Daraufhin gab mir Vanessa ihren Cardigan, den ich den ganzen Tag geschlossen trug. Wenigstens wurde ich danach zu einigen Dates eingeladen, die ich aber alle ablehnte."
Ich lachte.
„Ich hätte damals bestimmt auch nicht weggesehen!" Leon zwinkerte mir verschmitzt zu.

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Die Stunden vergingen wie im Flug; Leon und ich erzählten uns Geschichten aus der Vergangenheit. Nachdem er seine Rotweinflasche leer getrunken hatte und ich meine Weißweinflasche, öffneten wir je eine weitere. Mir war zwar jetzt schon schwummrig, aber ein oder zwei Gläser mehr sollten in Ordnung sein. Wir hatten Spaß und waren unbeschwert, da wollte keiner von uns beiden den Abend enden lassen.
„Wie war das eigentlich damals mit Falk? Als er das erste Mal herkam?", fragte Leon mit lallender Stimme, während er seinen Wein im Glas kreiste.
„Wie meinst du das? Wie es war?"
„Ja, was war genau vorgefallen?"
„Er ... keine Ahnung, er brauchte Hilfe und hat es eben bei uns versucht. Ich hatte ihm dann den Werkzeugkasten gegeben."
„Und das war's? Du hast ihm nichts zu trinken angeboten? Ihr habt euch nicht unterhalten?"
„Ja doch, klar. Er wollte ein Bier", ich zuckte mit den Schultern, um zu zeigen, wie unwichtig diese Kleinigkeit doch war.
„Also hast du am helllichten Tag Alkohol mit einem fremden Mann getrunken? Jemand, den du noch nie gesehen hast?"
„Hey, jetzt verdreh' doch nicht so die Situation. Er brauchte Werkzeug und hat sogar die Tür hier repariert. Da kann er doch ruhig ein Bier haben. Hätte ich nicht mitgetrunken, wäre es unhöflich gewesen. Wir sind hier im Urlaub. Da kann man auch mal tagsüber was trinken."
Nervös nippte ich an meinem Weißwein, während ich daran dachte, wie Falk mich von oben bis unten betrachtet hatte, als ich nur in Unterwäsche dastand.
Leon schnaubte.
„Und seit wann trinkst du denn bitte Bier? Ich dachte, dir schmeckt es nicht?"
Ich seufzte.
„Tut es auch nicht. Warum ist das so wichtig?"
„Und er hat nicht mit dir geflirtet?"
„Nein, er hat einfach nur die Tür repariert."
Ich seufzte. Männer. Sie konnten so schnell so eifersüchtig und besitzergreifend werden. Meine Gedanken wanderten zu Kai und ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken. Besser ich erzählte Leon nichts von dem genauen Ablauf des Besuchs. Ich schluckte den süßlichen Wein herunter und sah zu meinem Freund, der gedankenverloren in das Wohnzimmer starrte, ohne wirklich etwas anzusehen. Sein Wein immer noch in der Hand, aber er hat aufgehört ihn im Glas zu kreisen.
„Leon? Ist alles in Ordnung?"
Er schien mich gar nicht wahrzunehmen, sein Blick immer noch auf einen unbestimmten Punkt fokussiert.
„Leon?", dieses Mal griff ich sanft nach seinem Arm.
Er sah mich wieder an, seine Augen hart.
„Weißt du eigentlich, dass Falk dich angestarrt hat? Ich kenne diese Blicke bei Männern. Der führt nichts Gutes im Schilde."
„Du denkst doch, dass mich jeder so anschaut. Ich bin mir sicher, du hast es dir bloß eingebildet."
„Er hat sich auch so nah zu dir gesetzt. Am Gartentisch. Und später beim Abtrocknen stand er schon wieder so nah bei dir. Und wie er dich ansieht, als wärst du seine Beute!"
Meine Wangen glühten.
Wie viel hatte er gesehen? Hatte er gemerkt, welche Wirkung Falk auf mich hatte?
„Ich will wissen, woran ich bin, Anna. Warum flirtet er so mit dir? Ist da doch was vorgefallen? Als ich nicht da war?", seine Stimme bebte.
Ich schüttelte den Kopf, unfähig etwas zu sagen. Es war, als könnte er meine Gedanken lesen und wüsste, dass ich nicht ganz abgeneigt von Falks Annäherungsversuchen war. Was war nur mit mir los? Leon war zu Recht wütend.
„Warum wirst du so rot, wenn wir über ihn sprechen? Findest du es gut, dass er mit dir flirtet?"
Seine Augen waren voller Zorn. Seinem Blick ausweichend sah ich zu Boden.
„Na- natürlich nicht. Ich denke aber nicht, dass er irgendwelche Absichten hatte."
„Kannst du mich auch ansehen, während du es mir sagst?"
Ich hatte einen Kloß im Hals. Leon fasste mit seiner rechten Hand mein Kinn und bewegte meinen Kopf nach oben, sodass ich in sein Gesicht sehen musste.
„Findest du Falk attraktiv?"
Als ich nicht sofort reagierte, ertönte seine Stimme erneut – so laut, dass ich zusammenzuckte.
„Du stehst auf ihn, nicht wahr?"
„Natürlich nicht Leon, beruhige dich doch!"
„Oh Anna, ich kenne diesen Blick ganz genau! Den, den du gerade hattest. Verarsch mich nicht. Lief da was, als er herkam, um sich den Werkzeugkasten auszuleihen?"
Die letzten Worte spuckte er mir entgegen.
„Leon, bitte."
Ich merkte, wie mir Tränen über die Wangen strömten. Mein Herz raste. Ich stand auf, wollte näher zu ihm, blieb doch stehen.
„Bitte, du bist betrunken, lass uns schlafen gehen und morgen darüber reden."
Leon lachte spöttisch auf.
„Weißt du was, Anna? Du hast es gerade nicht abgestritten! Du hast es verdammt nochmal nicht abgestritten!"
Er griff nach meinem leeren Weinglas und warf es. Reflexartig schloss ich die Augen und hielt meine Hände vor das Gesicht. Das Glas flog so knapp an meinem Kopf vorbei, dass ich den Windzug fühlte, dass mein Haar flatterte. Mit einem lauten Knall zerschmettere es hinter mir an der Wand. Einzelne Tropfen des Weines spritzten mir auf die Haut. Die Scherben klirrten, als sie zu Boden fielen.

Hey Leute, ich hoffe, euch gefällt mein Debüt Psycho-Thriller :) Schreibt es gerne in die Kommentare, falls ihr Anmerkungen oder Verbesserungsvorschläge habt. Positive Kommentare und Votes sind natürlich auch erwünscht und würden mir sehr helfen! Vielen Dank euch :)

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