Wir liefen schweigend. Leon fünf Meter vor mir, ich trottete Zähne klappernd und triefend nass hinterher. Meine Schuhe schmatzten bei jedem Schritt.
„Nun komm schon, ich will endlich zuhause ankommen und trockene Sachen anziehen", kommandierte ein ebenso durchnässter Leon, ohne seinen Blick vom Weg abzuwenden. Ich ballte meine Fäuste und folgte ihm mit knirschenden Zähnen – verbiss mir aber jeglichen Kommentar. Wir waren erst fünf Tage hier und hatten schon unseren zweiten Streit. Na das waren ja super Voraussetzungen für die Beziehung. Nach einer halben Stunde sah ich das Haus immer noch nicht.
„Sicher, dass wir hier richtig sind? Möglicherweise haben wir uns verlaufen."
„Du kannst ja einen anderen Weg gehen, wenn du denkst, du weißt es besser. Oder du folgst mir einfach und hörst auf zu meckern."
Wow. Leon war wütend. Und dass einzig und allein, weil ich seine Schnitzeljagd vorzeitig beendet hatte?
„Was ist bloß los mit dir? Tut mir leid, dass ich ins Wasser gefallen bin. Ich hab' dir gleich gesagt, wir sollen nicht über den Fluss."
Ich wusste nicht, ob er mich überhaupt hörte. Er lief zwei Meter vor mir und warf keinen Blick zurück, sondern marschierte weiter, als hätte ich nichts gesagt.
Plötzlich knickte ich auf dem unebenen Boden um. Reflexartig verlagerte ich das Gewicht auf das rechte Bein. Als ich versuchte, mit dem linken Fuß aufzutreten, breitete sich ein spitzer Schmerz in meinem Knöchel aus. Als ich ein paar Schritte humpelte, stiegen mir Tränen in die Augen. Ich atmete tief ein und aus, sah mich um, und erschrak.
Wo war Leon? Hatte er mich schon wieder stehen lassen? Ohne mir zu helfen? Wie konnte der Mann der gleiche sein, der mich nachts im Arm hielt und mich streichelte, wenn ich von einem Alptraum aufwachte?
Ich atmete tief durch und versuchte, gefasst zu bleiben. Wenigstens war es noch hell. Ich sah mich nach einem Stock um, den ich als Krücke benutzen konnte, und wurde schnell fündig. Ich hüpfte auf dem rechten Bein zum Stock und probierte, ob ich mich auf ihm abstützen konnte. Er lag schwer und feucht in der Hand, aber er schien mein Gewicht auszuhalten und gab nicht nach. Ausgerüstet mit der provisorischen Krücke lief ich los.
Die Wut kochte in mir. War das der Mann, mit dem ich mein Leben verbringen möchte? Der so wütend wurde, dass er mich stehen ließ, nur, weil es nicht nach seiner Nase ging? Wie würde er erst in schlimmeren Situationen reagieren? Wenn es darauf ankam? Die anfänglichen Zweifel und die Wut wurden zu Trauer. Ich wünschte mir so sehr, dass Leon der Mann fürs Leben war. Mit dem ich, wenn wir alt sind, zusammen auf der Veranda sitzen werde, während wir auf unser langes und glückliches Zusammensein zurückblicken.
Plötzlich war da ein Knacken – wie das von kleinen Ästen. Ich drehte mich um und sah ihn. Ein Mann stand etwa vierzig Meter von mir entfernt. War das Leon? Ich blieb stehen. Und wenn er es nicht war?
„Leon?", raunte ich kaum hörbar.
Der Mann stand auf der Stelle, bewegte sich nicht. Sah er mich an? Von der Entfernung konnte ich es nicht erkennen. Mein Bauchgefühl sagte mir, dass irgendetwas nicht stimmte. Oder war er doch nur ein Wanderer, der mir den Weg zeigen konnte?
„Leon?", rief ich nochmals - dieses Mal lauter.
Der Mann regte sich nicht, als hätte er mich trotz der Stille des Waldes nicht gehört. Meine Nackenhaare stellten sich auf. Am sichersten war es, sich von ihm zu entfernen. Den Weg zurückzugehen machte keinen Sinn, spätestens beim Fluss würde ich bei einer Sackgasse enden. Der Weg, auf dem ich mich gerade befand, führte mich in eine andere Richtung – weg von dem Unbekannten – und eventuell würde ich so bald zum Hauptweg kommen oder zumindest auf irgendeinen richtigen Weg.
Ich lief los und warf keinen einzigen Blick zurück. Zu groß war die Angst, dass der Fremde mir folgen würde. Wie ein Kind, dass die Augen verschloss und dachte, die anderen können einen nicht mehr sehen. Die Blätter knisterten unter den Füßen und die provisorische Krücke schlug bei jedem Schritt dumpf auf den Waldboden. Ich lief ein paar Minuten, konzentriert auf meine Schritte. Irgendwann hielt ich es doch nicht mehr aus und riskierte einen Blick über die Schulter. Der Mann war nicht mehr da! Hatte ich ihn mir eingebildet? Hektisch sah ich mich um.
Plötzlich sah ich ihn aus meinem Augenwinkel - er war in die gleiche Richtung gelaufen wie ich. Und er war näher als zuvor! Von Panik ergriffen, humpelte ich, so schnell ich konnte, weiter. Seine Schritte erklangen direkt hinter mir. Ich warf den Stock weg und rannte los, ignorierte den Schmerz, den ich bei jedem Schritt auf dem linken Fuß spürte. Tränen schossen mir in die Augen und schon nach wenigen Metern brannte meine Lunge.
„Anna! Bleib stehen!"
Als ich Leons Stimme hörte, stoppte ich keuchend.
„Was ist bloß los mit dir? Warum rennst du weg?"
„Ich dachte, du wärst jemand anderes."
Er rollte mit den Augen.
„Schon wieder? Und dann auch noch jemand, der genauso durchnässt im Wald rumrennt?"
Ich sah an ihm herunter und bemerkte, dass er sich verletzt hatte. Da war Blut an seiner beigen Wanderhose. Leon sah auf meine improvisierte Krücke.
„Wie konntest du mich nicht erkennen? So weit war ich doch nicht weg", bohrte er nach.
Ich zuckte mit den Schultern.
„Tut mir leid! Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist. Du warst auf einmal weg. Und dann sah ich jemanden ... von weitem hätte das jeder sein können."
Leon schnaubte.
„Du ... du solltest wirklich ... ach egal. Beim nächsten Mal erkennst du deinen Freund hoffentlich."
Mit diesen Worten stapfte er mit forschen Schritten los.
„Was ist dir passiert? Warum blutest du?", rief ich, während ich versuchte hinterherzukommen.
Auf einmal prallte ich gegen etwas Großes, Weiches. Leon. Er war stehen geblieben. Ich sah nach oben und in sein verärgertes Gesicht.
„Was denkst du denn, was passiert ist?", spuckte er mir entgegen. Ich schluckte. Warum war er so sauer?
„Ich ... ich ... ich weiß nicht. Ist alles in Ordnung? Wieso bist du so wütend?"
Mit meinen Worten wich ich ein paar Schritte zurück und wandte den Blick von ihm ab.
Stille.
„Lass uns einfach nach Hause gehen, okay?", ertönte die Stimme meines Freundes. Ohne ihn anzusehen, nickte ich wortlos. Daraufhin hörte ich die raschelnden Blätter unter den Wanderschuhen von Leon. Ich folgte ihm und wir machten uns auf den schweigsamen Rückweg. Er sprach erst wieder, als in der Ferne unser Haus in Sicht kam: „Na endlich. Jetzt ist es nur noch einen Kilometer und wir sind zuhause!"~~~~~~~~~~
„Anna! Wo warst du?"
Als ich meine Augen aufschlug, sah ich Leons verschlafenes, fragendes Gesicht.
„Hmm?", murmelte ich im Halbschlaf.
„Wo warst du?", fragte er erneut – dieses Mal strenger. Ich war verwirrt. Was sollte die Frage?„Träumst du?", gab ich amüsiert zurück.
„Nein, ich sicherlich nicht. Wo bist du gewesen? Wo kamst du her? Du bist ganz kalt." Leon blieb hartnäckig. Ein Blick Richtung Fenster zeigte mir, dass es mitten in der Nacht sein musste. Meine Augen waren schwer, ich hatte kaum geschlafen, da ich mich die ganze Zeit im Bett hin und her gewälzt hatte.
„Leon, jetzt lass uns doch schlafen. Ich bin erst spät eingeschlafen. Ich bin müde." Er hatte allem Anschein nach geträumt. Ich schloss meine Augen, kuschelte mich ein und versuchte, wieder einzuschlafen.
„Anna? Du solltest zuerst deine Füße waschen, bevor du so in unserem Bett schläfst."
Wie bitte? Ich sollte meine Füße waschen? Leon drehte mittlerweile völlig durch. Erst die Sache im Wald und jetzt das. Jegliches Gefühl der Belustigung entwich und wurde durch Wut ersetzt. Wir waren nicht einmal eine Woche hier und er verhielt sich mit jedem Tag seltsamer: Er hatte zwei Gesichter.
„Anna? Würdest du dir bitte deine Füße waschen? Ich beziehe in der Zeit das Bett neu", Leons Stimme klang ein wenig sanftmütiger. Gleichzeitig aber so, als würde er mit einer Verrückten sprechen. Entgeistert schüttelte ich den Kopf.
„Was ist bloß los mit dir? Warum soll ich mich waschen? Weshalb willst du das Bett neu beziehen? Es ist mitten in der Nacht!"
Ich seufzte, drehte mich mit dem Rücken zu ihm, kuschelte mich in die weiche Decke und schloss die Augen.
„Mach bitte das Licht aus", meine Stimme war bestimmt.
Ich mochte zwar entgegenkommend sein, aber ich hatte keine Lust mehr auf Leons Stimmungsschwankungen. Doch er schaltete die Nachttischlampe nicht aus. Er schien sich gar nicht zu regen, zumindest bewegte sich weder das Bett, noch hörte ich seine Decke rascheln. Er blieb wohl genau so sitzen.
„Anna?", flüsterte er.
Ich seufzte, entschied mich aber dazu, ihn zu ignorieren.
„Anna?", seine Stimme unüberhörbar in der Stille der Nacht.
Unvermittelt packten mich Hände und drehten mich behutsam aber bestimmt auf den Rücken. Ich öffnete genervt die Augen.
„Was ist los, Leon?"
Er sah mich lange mit schiefgelegtem Kopf an, so, als würde er genau überlegen, was er als Nächstes sagen sollte. Die Sekunden verstrichen, die Uhr an der Wand tickte ungewöhnlich laut, während er mich weiterhin anstarrte. Dann brach er das Schweigen: „Du solltest einfach mal die Bettdecke zur Seite ziehen und selbst nachsehen."
Trotz des Missmuts folgte ich seinen Worten.
Mein Herz setzte einen Schlag aus. Ungläubig starrte ich auf das Fußende des Bettes, was eben noch die Decke verdeckt hatte. Träumte ich?
Die ganze Matratze war voller Erde – zumindest meine Hälfte. Genauso wie meine Füße. Sie waren bedeckt damit, die Zehennägel schwarz. Der erdige Geruch zog in meine Nase, lag auf meiner Zunge.
DU LIEST GERADE
Entzweit
Mystery / ThrillerAnna kann ihr Glück kaum fassen: Ihr Traumleben mit Bilderbuchfamilie ist zum Greifen nah. Leon ist der Richtige für sie, daran besteht kein Zweifel. Doch der romantische Urlaub in der Waldhütte seiner Eltern entwickelt sich mehr und mehr zu einem A...