Kapitel 4

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Als ich am nächsten Morgen auf die Terrasse trat, traute ich meinen Augen kaum – was ein Frühstück auf mich wartete! Pancakes, Orangensaft, Sekt, Brot, verschiedene Marmeladen und eine Obstplatte!
„Wow, du hast dich selbst übertroffen!", verkündete ich.
„Für meinen Engel nur das Beste!"
„Wie geht es deinem Bein?", fügte er hinzu und sein Blick wanderte zu der Verletzung, die unter dem knielangen Kleid zum Vorschein kam.
Das Pflaster hatte ich heute Morgen entfernt und Wundcreme darauf verteilt, um es an der Luft heilen zu lassen.
„Alles wieder gut. Es tut gar nicht mehr weh. So tief war der Schnitt doch nicht."
„Darf ich sehen?"
Ich nickte und setzte mich auf einer der Gartenstühle. Er kniete vor mir nieder und nahm mein rechtes Bein in die Hand. Dann drehte er es etwas, um die Wunde besser begutachten zu können.
„Ist tatsächlich nicht tief. Es hat sich schon eine Kruste gebildet. Da hatten wir nochmal Glück gehabt!"
Mit einem Schmatzer neben der Wunde stellte er den Fuß wieder ab und nahm mir gegenüber Platz. Wir aßen schweigend, die Sonnenstrahlen erwärmten mein Gesicht, dazu eine kühle Brise. Meine Gedanken kreisten, ich erinnerte mich an den ersten Urlaub mit meinen Eltern. Wir waren auf Mallorca gewesen und hatten uns eine Finca gemietet. Wir frühstückten auf der Terrasse direkt neben dem eigenen Pool. Mama war wunderschön mit ihren hellblauen Augen, ihren blonden, langen Haaren und dem weißen Kleid. Sie war immer diejenige, die sich um mich und Papa gekümmert hatte. Wir waren glücklich. Hätte unser Glück, mein Glück, nur etwas länger angehalten ...

„Alles okay bei dir, Anna? Du umklammerst das Messer so, als würdest du mich gleich damit erstechen wollen!"
Ich sah runter zu meiner Hand, die das Messer so fest umschloss, dass die Knöchel Weiß hervortraten. Seufzend legte ich es neben den Teller mit dem halb aufgegessenen Pancake
„Wieder Kai?"
Ich nickte.
„Das erste Mal, dass Kai mir gegenüber handgreiflich wurde, war im Urlaub. In der Türkei."
Ich verstummte und sah Leon an. Er schwieg, beobachtete mich aufmerksam. Nach einem tiefen Atemzug fuhr ich fort.
„Wir waren den ganzen Tag gemeinsam unterwegs. Es wurde Abend und dunkel, und Kai wollte allein was trinken gehen. Ohne mich, im Urlaub! Als ob das nicht schlimm genug gewesen wäre – so von ihm verstoßen zu werden – wollte er mich auch nicht zurück ins Hotel bringen. Nicht einmal zu einem Taxi. Ich habe zwar keine Panik, wenn ich draußen im Dunkeln bin, trotzdem möchte ich nicht allein in einem fremden Land in der Nacht umherirren. Ich hatte ihn angefleht, mich zurückzubringen. Keine Chance."
Ich merkte, wie ich an den Fingernägeln knabberte, und nahm meine Hand vom Mund. Diese Angewohnheit hatte ich, seit ich mit Kai zusammen gewesen war.
„Er ist gegangen. Ich rannte ihm hinterher, griff nach seinem Arm. Doch er, er stieß mich zu Boden. Ich ... ich-"
Meine Stimme versagte. Leon war mittlerweile mit seinem Stuhl näher gerutscht und nahm meine frierenden Hände in seine warmen. Mit dem Daumen streichelte er meinen Handrücken, nickte mir aufmunternd zu. Ich atmete tief ein und fuhr fort.
„Ich ... ich blieb liegen. Geschockt. Geschockt, dass es mir passiert war. So etwas sieht man einzig und allein im Fernsehen, dachte ich. Dass der eigene Freund handgreiflich wird, erwartet man in seinen schlimmsten Träumen nicht. Nach oben zu sehen traute ich mich nicht. Wusste nicht, ob er noch da stand oder weitergegangen war. Minuten vergingen und ich blieb liegen. Ich hätte ihn damals schon verlassen sollen. Ich weiß nicht, warum ich es nicht getan habe. Schließlich heißt es doch, dass es nur schlimmer wird, wenn die Hemmungen einmal gefallen sind."
Ich sah nach oben und blickte in Leons Augen, die mich liebevoll ansahen. Er sagte kein Wort
„Irgendwann stand ich auf. Das weiße Sommerkleid mit den Blumen war mit Blut beschmiert. Mir wurde jetzt erst bewusst, dass mein ganzer Arm aufgeschrammt war und ich blutete. Den Schmerz spürte ich nicht."
Ich schnaufte.
„Wann ich beim Hotel ankam und wie ich dahin gekommen war, weiß ich bis heute nicht. Was ich weiß, ist, dass ich am nächsten Morgen aufwachte, Kai einen guten Morgen wünschte, ihm einen Kuss auf die Wange gab, ins Bad ging und meine Wunden am Arm neu verbunden hatte. Danach zog ich ein langärmliges Kleid an, um die Verletzung und den Verband zu verstecken."
Ich atmete aus und fühlte mich zehn Kilo leichter. Als wäre eine Last von mir abgefallen. Leon sah mich lange und schweigend an. Schließlich gab er mir einen sanften Kuss auf die Stirn
„Danke, dass du es mir erzählt hast. Dass du mir vertraust. Es tut mir leid, dass du das durchmachen musstest."
Er stoppte, öffnete seinen Mund, schloss ihn wieder. Nach ein paar Sekunden schüttelte er den Kopf und sagte: „Er wird nicht wiederkommen und wenn doch, bist du nicht allein."
Er gab mir einen Kuss auf die Stirn und stand auf.
„Wir sollten uns einen schönen Tag machen! Wie wäre es, wenn wir zum Weiher fahren? Er ist zwar etwas weiter weg, aber es ist wunderschön da. Meistens ist man dort allein. Ich bringe die Angel mit und du eine Leinwand zum Malen?"
„Ja klar, warum nicht", sagte ich, meine Gedanken nach wie vor bei Kai.
„Hey, du bist nicht in der Türkei mit Kai, sondern hier bei mir! Und wir lassen uns doch von diesem Vollidioten nicht den Urlaub verderben!"
Ich nickte, lächelte und antwortete: „Lass uns unsere Sachen packen und fahren. Ich habe genug über Kai nachgedacht und genug über ihn geredet."
Ich schob meinen Gartenstuhl zurück und zerrte an der schwerfälligen Haustür, um ins Haus zu kommen. Mit Mühe schwang sie geräuschvoll auf, während sich die Striemen auf dem Boden tiefer hineinzubohren schienen. Der Holzboden im Wohnzimmer knarrte als ich über den dicken, rot-bräunlichen Teppich trat. Im Schlafzimmer zog ich den Samtpyjama aus, packte meine Haare in einen ‚Messy Bun' und sprang kurz unter die Dusche. Dann zog ich einen weißen Bikini an und warf mir ein Sommerkleid über. Mit einer geräumigen Tasche ausgestattet und einer Leinwand unter dem Arm geklemmt, ging ich los.
Im Wohnzimmer stolperte ich über den Teppich und die Leinwand krachte gegen den Schrank und zerriss.
„Verdammt."
Ich runzelte die Stirn, ich hatte etwas Hartes an meinen Füßen gespürt. Ich kniete mich hin und fühlte über den Teppich, der borstig auf den Fingern kratzte. Staub wirbelte in der Luft, ich hustete. Dann spürte ich es wieder – etwas Hartes. Ich trat vom Teppich herunter und rollte ihn zusammen. Je weiter ich ihn zusammenrollte, desto schwerer ließ er sich biegen, bis er schließlich vom Esstisch gestoppt wurde. Doch dann sah ich sie. Im Holz zeichneten sich klare Linien ab und ein metallener, massiver Griff befand sich genau an der Stelle, an der ich gestolpert war. Ich zog am Griff, doch die Tür bewegte sich keinen Millimeter. Mein Blick fiel auf den Tisch, unter welchem die Hälfte der Tür verborgen lag. Ich stand auf, klopfte den Staub vom Kleid, umfasste den massiven Holztisch und versuchte ihn mit aller Kraft zu bewegen.
„Hey, was machst du da?", unterbrach eine Stimme mein Vorhaben.
Erschrocken ließ ich los und sah zur Haustür, in der Leon stand und mich mit zusammengekniffenen Augen ansah.
„Ich ... ich ... Ähm ... ich bin wohl über die Falltür gestolpert. Ich wollte nachschauen, was da ist."
„Machst du das immer so? In fremden Häusern Möbel verschieben und alles durchsuchen? Du hättest einfach fragen können."
Die Hitze stieg in meinem Kopf.
„Tut mir leid, ich war neugierig, ich hatte gar nicht daran gedacht, zu fragen."
„Ist schon in Ordnung, lass uns losgehen", Leon streckte mir seine Hand entgegen.
Zögernd setzte ich einen Schritt an, blieb dann aber stehen.
„Was ist unter der Falltür?"
Leon lachte.
„Vorräte. Was ist denn sonst in einem Keller?"
Ich lächelte halbherzig zurück.
„Kommst du jetzt oder willst du dir erst noch unsere Vorräte anschauen?", mein Freund sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen fragend an.
„Nein. Nein, lass uns losgehen, ich hol' nur schnell eine neue Leinwand. Die andere ist leider kaputt gegangen."
Leon nickte mir zu und ich lief ins Schlafzimmer. Als ich mit einer Leinwand unterm Arm geklemmt zurück ins Wohnzimmer trat, stand er am zurechtgerückten Tisch und wartete auf mich. Der Teppich war wieder auf dem Boden ausgelegt.

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