Kapitel 22

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Leon, heute

„Hey Leon!"
Falk stand vor dem Gartentor und winkte mir zu. Die Erinnerungen an Sascha steckten mir noch in den Knochen. Seufzend ging ich zu ihm hinüber. Er war der Letzte, den ich gerade sehen wollte.
„Hi ... alles okay bei dir?"
„Ja, alles super! Ich wollte bloß fragen, ob ihr Bleiche oder etwas Ähnliches da habt? Gestern hatte ich Lust auf Rotwein, als mir auffiel, dass ich gar keinen Korkenzieher dabei habe."
Falk lachte und sah mich so an, als würde er irgendeine Reaktion von mir erwarten. Als ich nichts sagte, fuhr er fort.
„Also habe ich versucht, den Korken mit einem Schraubenzieher zu entfernen. Das hat leider nicht funktioniert. Danach habe ich probiert, ihn in die Flasche reinzudrücken. Das hat zumindest geklappt!"
Er lachte erneut und sah mich auffordernd an. Dachte er wirklich, ich tue so, als wäre es nicht seltsam, dass er immer wieder hier auftauchte? Weil er zufällig irgendetwas brauchte? Oder Kuchen gebacken hatte. Mit dem Mann stimmte etwas nicht. Das stand für mich fest. Als ich abermals nicht reagierte, fuhr Falk sachlicher fort.
„Na ja. Auf jeden Fall hatte ich dabei etwas zu viel Schwung gehabt und frag nicht wie, aber der Wein ist gespritzt. Überall hin. Bei meinem Glück auch an die weiße Decke. Ich versuche, jetzt die Flecken wegzubekommen. Habe gelesen, Bleiche soll helfen."
Falk sah auf den Boden. Fast als wäre ihm die Situation jetzt doch unangenehm. Schon das zweite Mal, dass er sich etwas von uns leihen wollte.
„Tut mir leid Falk, ich glaube nicht, dass wir Bleiche haben."
Er warf einen Blick hinter mich und ließ ihn über meinen Garten und mein Haus schweifen.
„Hmm ... okay. Womöglich weiß Anna, was man sonst noch machen könnte? Ist sie denn hier? Dann können wir sie ja mal fragen."
„Nein. Sie ist nicht hier."
Falk sah mich mit hochgezogener Augenbraue an.
„Wo ist sie denn?", fragte er.
„Joggen."
Er sah mich weiterhin so an, als ob er mir nicht glauben würde, dann an mir vorbei. Zum Haus. Der Mann wurde mir immer suspekter. Ich räusperte mich und er sah wieder zu mir.
„Kann ich dir sonst noch irgendwie helfen?"
Er schüttelte den Kopf und murmelte: „Nein, nein. Das war es auch schon."
Ich nickte ihm zu.
„Also gut. War nett, dich wiederzusehen. Hab noch einen schönen Tag."
Er sah mich eine Weile an, nickte mir endlich zu und drehte sich um. Nach ein paar Schritten stoppte er und sah zu mir zurück.
„Hey, wenn Anna wieder da ist, fragst du sie mal, was man da machen kann oder ob sie doch noch Bleiche findet? Falls ihr etwas einfällt, kann sie mich ja anrufen?"
„Alles klar, ich sage ihr Bescheid. Sie meldet sich bei dir, wenn sie was weiß."
Falk lief los, doch dieses Mal war ich derjenige, der ihn im Schritt stoppte: „Wie soll sie dich denn anrufen, wenn sie nicht deine Nummer hat?"
Oder hatte sie seine Handynummer schon? Warum sollten sie die ausgetauscht haben? Und wann?
Falk drehte sich wieder zu mir um.
„Ach ja, stimmt. Ich gebe sie dir. Hast du einen Zettel?"
„Ich hole etwas zum Schreiben."
Ich ging ins Haus, Falk ließ ich vor dem Gartentor stehen. Nicht, dass ich Anna seine Nummer geben wollte, vielmehr wollte ich wissen, warum er dachte, sie könne ihn überhaupt anrufen. Aber er schien aufrichtig reagiert zu haben. In seinem Gesicht war keine Spur von Unsicherheit zu sehen. Wenn sie doch Nummern getauscht hatten, war er ein guter Lügner.
Als ich wiederkam, streckte er seine Hand nach dem Kugelschreiber und dem Stück Papier aus und schrieb seine Nummer auf. Er reichte mir den Zettel.
„Alles klar, Falk. Wir melden uns, falls wir dir doch irgendwie helfen können. Bis dann!"
Der ungebetene Gast verabschiedete sich erneut, ich winkte ihm kurz zu und wartete dieses Mal, bis er vollständig aus meinem Sichtfeld verschwunden war. Danach ging ich zurück ins Haus. Erst als ich drinnen war, zerknüllte ich den Zettel, auf dem seine Nummer stand und schmiss ihn in den Müll.
Ich warf einen Blick auf mein Handy. Sophie hatte meine Freundschaftsanfrage angenommen! Ich klickte auf ihr Profil und siehe da, Fotos und Freunde waren freigegeben. In ihrer Freundesliste gab ich ‚Kai' ein. Keine Treffer. Anna hatte erzählt, dass Sophie nicht mit Kai befreundet war, sondern er nur das ‚Plus One' einer ihrer Freunde gewesen war. Ich öffnete die Galerie und durchsuchte ihre Fotos aus der Zeit, als Anna mit Kai zusammen gewesen war.
Da! Ein Partyfoto mit Anna, Sophie und drei Männern. Alle mit Verlinkungen außer Anna. Bei einem der Männer stand der Name ‚Kai Huber'. Ich starrte auf das Foto. Er war etwa genauso groß wie ich, aber doppelt so breit. Er war so muskulös, dass ich mich fragte, ob er nicht mit gewissen Mitteln nachhalf. Er trug ein weißes Shirt, das seine Muskeln und seine braun gebrannte Haut betonte, seine Haare waren auf Millimeter kurz geschoren, seine Augen eisblau. Kalt. Das war Annas Ex? Ich schluckte. Er sah mir überhaupt nicht ähnlich. Einen gewissen Typ hatte Anna wohl nicht.
Das Handy fiel mir aus der Hand, als ich auf den Namen klickte. Hatte ich das richtig gesehen? Mit klopfendem Herzen hob ich es vom Boden auf. In der Hoffnung, ich würde mich irren, ließ ich mir das Profilbild anzeigen. Aber nein, das war Anna. Auf dem Profilbild von Kai. Er stand im Vordergrund und präsentierte seinen Körper, einen Arm um Anna geschlungen. Sie umarmte ihn und sah verliebt zu ihm nach oben, während er in die Kamera starrte. Welcher Mann änderte nicht einmal sein Profilbild, wenn er nicht mehr mit der Frau zusammen ist?
Ich schloss das Bild. Darunter stand ‚Vergeben'. Es stand zwar nicht da, an wen, aber ich hatte keine Zweifel, wer gemeint war, auch wenn die Beziehung schon länger her war. Seine Beiträge auf der Pinnwand konnte ich nicht sehen. Aber er hatte auch einen Bruder – Robert. Das Profil zeigte jedoch so gut wie nichts an, wenn man nicht mit ihm befreundet war. Das Einzige, was ich sehen konnte, war, dass er verheiratet war. Ich wechselte zu Kai und öffnete dort die Fotogalerie. Sein Profil war zum Glück offen für alle – und meine Freundin lachte mir immer wieder von seinen Fotos entgegen. Anna und er am Strand, Anna und er zusammen im Restaurant. Anna und er Cocktails trinkend. Ein weiteres Foto zeigte, wie er sie über seine Schulter geschwungen hatte und über ein Feld trug. Sie spielte die Schockierte und sah halb entsetzt, halb lachend in die Kamera. Die Fotos erzählten eine andere Geschichte als das, was Anna mir bisher berichtet hatte. Aber Fotos hatten oft nichts mit der Realität zu tun. Ich öffnete die Hauptseite des Profils und klickte auf ‚Nachricht scheiben'. Ich musste ihn zur Rede stellen. Er konnte doch keine Bilder von meiner Freundin im Netz haben. Auch wenn die Erinnerungen von Sascha eindringlicher wurden, seit wir hier waren und mir Anna immer mehr wie eine Fremde vorkam, war sie genau das. Meine Freundin. Ich sollte ihr, trotz der Bedenken an unserer Beziehung, helfen. Das war ich ihr schuldig. Ich fing an zu tippen und stockte. Nach Annas Erzählungen schien er gewalttätig zu sein. War es so schlau, ihn zu provozieren? Wie bedrohlich war er denn? Würde er mir gefährlich werden, wenn ich ihn darauf ansprach? Ihm die Realität vorzeigte? Und was war mit dem Foto von ihm, dass Anna entdeckt hatte? War er wirklich in ihre Wohnung ‚eingbebrochen' - sofern man es so nennen konnte, wenn jemand den Schlüssel hatte – um es in ihren Koffer zu legen? Aber warum? Um sie vor ihm zu warnen? Ihr zu zeigen, dass er immer noch in ihrer Nähe ist?In dem Moment hörte ich, wie die Haustür geöffnet wurde. Ich schloss schnell die App, legte das Handy zur Seite und sprang vom Esszimmerstuhl auf.

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