Kapitel 9

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Ich zog Leons Decke zur Seite. Nichts. Sein Teil des Bettes war rein, kein Krümel auf dem weißen Spannbetttuch.
„Schlafwandelst du öfter?"
Wie bitte? Schlafwandeln? Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Ich lief doch nicht, während ich schlief, in den Garten oder gar in den Wald und wusste anschließend nichts darüber?
„Ich schlafwandle nicht."
„Anna, ich bin wach geworden, als du barfuß ins Zimmer reingelaufen bist, deine Füße voller Erde. Wenn du nicht bewusst aufgestanden und nach draußen gelaufen bist, bist du geschlafwandelt."
Leon sprach erneut so, als würde er mit einer Verrückten sprechen. Mit einer, die er nicht aufregen möchte, weil sie sonst unberechenbar werden könnte. Ich antwortete nicht mehr.
Was war los mit mir? Seit wann schlafwandele ich? Warum sollte ich nachts barfuß nach draußen laufen?
Mir wurde alles zu viel. Die Streitigkeiten mit Leon, sein seltsames Verhalten und nun das. Tränen stiegen mir in die Augen. Das war nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Wir beide, unser erster gemeinsamer Urlaub, allein, romantisch in einem Häuschen im Wald.
Unerwartet nahm Leon mich in die Arme. Er drückte mich und küsste mir sanft auf den Haarschopf. Da gab es kein Halten mehr – ich schluchzte.
„Hey, ist schon in Ordnung. Das war alles etwas zu viel für uns beide. Du stellst dich jetzt erstmal unter die Dusche. Ich beziehe das Bett neu und wir kuscheln uns gemeinsam ein. Ich bleib gerne mit dir wach, bis du einschläfst. Dieses Mal passe ich auf, dass du nicht entwischst."
Er zwinkerte mir zu. Lachend strich ich mir eine Träne von der Wange. Dann tappte ich ins Badezimmer, zog das alte T-Shirt von Leon aus und stieg in die Dusche. Als ich wiederkam, hatte er das Bett neu bezogen. Er lag darauf und lächelte mir aufmunternd zu. Ich legte mich zu ihm, er zog mich direkt an sich und drückte mich fest. Wir lagen eine ganze Weile so, keiner sagte etwas. Dann – ich weiß nicht wie viele Minuten später – löste sich Leon von mir und sah mich an.„Schlafwandelst du, seitdem das mit Kai passiert ist? Manchmal, wenn die Seele etwas Schlimmes durchmacht und man es unterbewusst nicht verarbeitet hat, äußert sich der Körper auf seine eigene Weise." Seine Worte waren nur ein Flüstern.
Ich sagte nichts und er fuhr fort.
„Soll ich die Haustür absperren? Ich verstecke den Schlüssel und sage dir nicht, wo er liegt. So kannst du nachts nicht mehr draußen herumspazieren."
Leon schien meine Gedanken zu lesen, obwohl mir etwas unwohl bei der Vorstellung war, in der Nacht eingesperrt zu sein und keine Möglichkeit zu haben, selbstständig das Haus zu verlassen. Nur wenn mir mein Freund aufsperren oder mir die Schlüssel geben würde, könnte ich herausgehen. Andererseits wollte ich auf keinen Fall nachts allein im düsteren Wald aufwachen. Orientierungslos. Was könnte mir alles passieren?
Ich nickte, zögerlich, noch unentschlossen, ob das die richtige Entscheidung war. Doch Leon sprang direkt auf und lief aus dem Schlafzimmer. Als er wiederkam, grinste er mich an, als wäre alles nur ein Spiel.
„So, Mission erfüllt. Du kommst hier nicht mehr raus", er wackelte verschwörerisch mit den Augenbrauen.
Halbherzig lächelte ich zurück. Zum Scherzen war mir nicht zumute – meine Gedanken schwirrten weiterhin umher. Bilder, wie ich barfuß nachts im Wald stehe, schossen mir durch den Kopf.
„Eventuell hat das Schlafwandeln wirklich mit Kai zu tun. Ich kann mich nicht daran erinnern, je ein Schlafwandler gewesen zu sein", sagte ich. Mittlerweile saß ich auf dem Bett, an Schlaf war nicht mehr zu denken. Leon nahm mich in seine Arme.
„Du solltest mit jemandem sprechen. Die meisten würde so etwas mental mitnehmen. Immerhin war er wiederholt aggressiv dir gegenüber."
Leon verstummte und sah mich an, als würde er mir gerne eine Frage stellen, aber nicht wissen, wie er es formulieren sollte. Sein Mund öffnete sich und schloss sich wieder. Er räusperte sich.„Anna ... hat er dich denn auch geschlagen?"
„Nur am Ende. Davor hat er mich manchmal gepackt, oder geschubst. Aber am einschneidendsten war seine Art mit mir umzugehen. Das schmerzte mehr als alles andere. Ich hatte zwar hin und wieder blaue Flecken, die schlimmsten Verletzungen konnte man jedoch von außen nicht sehen."
Ich sprach monoton, als würde ich einen auswendig gelernten Text aufsagen. Allerdings half es, Abstand davon zu nehmen. Dadurch erschien es weniger real. So, als wäre es zwar passiert, aber nicht mir.
„Das, das tut mir alles so leid ... Wie kam es denn dazu? Habt ihr euch gestritten und er hat von jetzt auf gleich die Fassung verloren?"
Leons Stimme schwankte zwischen Mitgefühl und Sachlichkeit. Die Frage erschien mir fast wie bei einem Verhör. Dennoch dachte ich darüber nach. So genau wusste ich nicht, wie es immer dazu gekommen war. In einem Moment war alles in Ordnung und dann eben nicht mehr.
„Ich weiß es nicht so ganz. Es hat sich wohl einfach hochgeschaukelt. Kai war ein Mensch, der schnell wütend wurde."
Leon nickte. So, als könne er es nachvollziehen. Ich wusste nicht, ob es jemand wirklich verstehen konnte, der mit solchen Menschen nie zu tun hatte.
Ich spürte seine Lippen auf meiner Stirn.
„Lass uns versuchen zu schlafen, okay? Morgen geht es dir bestimmt besser."
Seine Hand streichelte bei seinen Worten meine Wange und er lächelte mich an. Als Antwort kuschelte ich mich in die Decke und schloss die Augen. Leon schaltete die Nachttischlampe aus und umarmte mich von hinten. Meine Gedanken waren jedoch immer noch bei Kai. Wie konnte man sich in Menschen nur so täuschen? Als wir uns kennenlernten, schien er so normal. Eher fröhlich, ein Lebemann. Wir waren damals beide auf dem Geburtstag von Sophie gewesen, er das Plus One eines Kumpels von ihr.

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