Kapitel 31

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„Na, wenn das nicht die kleine Anna ist?"
Der Mann vor mir war groß, auch wenn er nicht so groß wie mein Papa war. Dafür hatte er einen dickeren Bauch. Er streckte mir seine Arme entgegen.
„Na komm Anna, begrüße ihn."
Papa gab mir einen Schubs zu seinem Bruder. Ich lief nach vorne und der fremde Mann schloss mich in seine Arme. Er roch fremd. Den Geruch mochte ich überhaupt nicht.
„Ich bin Friedrich. Wir werden sicherlich viel Spaß haben! Ein Zimmer habe ich dir schon eingerichtet. Es steht zwar noch nicht so viel darin, aber wir können es gerne so dekorieren, wie du möchtest."
Ich nickte.
„Nun gut, ich muss auch wieder los. Ich habe noch einen wichtigen Termin", sagte Papa und küsste mich auf die Stirn. Papa hatte nie Termine.
„Kommst du mich denn besuchen?", fragte ich ihn hoffnungsvoll.
„Ja sicher, ich werde es, so oft ich kann, versuchen."
In dem Moment wusste ich schon, dass es nicht stimmte. Mein Papa hatte ja kaum mit mir geredet, als ich bei ihm war.
„So, ich gebe dir mal eine Rundtour durch dein neues Zuhause – auch wenn es nur auf Zeit ist, soll es das sein, dein Zuhause!"
Friedrich lächelte mir entgegen und nickte mir zu, so als würde er sich selbst bestätigen. Danach ging er ins Haus und ich folgte ihm. Das Haus war nicht so schön eingerichtet wie das von Mama und Papa. Es sah eher kalt aus. Er hatte gar keine Bilder von sich und seiner Familie aufgehangen - aber er hatte ja auch niemanden. Das musste einsam sein. In dem Moment tat er mir sogar etwas leid. Mama und Papa hatten früher immer gesagt, dass ich ihr größtes Glück im Leben sei. Der Mann hatte ja keine Kinder. Deshalb sah es so traurig bei ihm zuhause aus.
„So und hier ist dein Zimmer", schreckte er mich aus meinen Gedanken.
Friedrich öffnete die Tür zu einem Raum mit einem Holzboden und hellgraue Wände. Es war kleiner als mein altes Zimmer. Vielleicht sollten die Wände weiß sein, es sah auf jeden Fall aber eher grau aus. In der rechten Ecke stand ein Holzbett. In der Mitte war ein Fenster und davor ein Schreibtisch. Links im Raum, neben der Tür war ein kleiner Schrank. Es sah so aus, als hätte das Zimmer nie jemand genutzt.
„Na, wie gefällt es dir?", Friedrich grinste mich an, als hätte er mir das beste Geschenk gemacht.
Ich wollte ihn nicht beleidigen. Nicht, dass er deswegen traurig sein würde. Vielleicht hatte er sich ja Mühe gegeben. Wahrscheinlich wusste er nicht, wie man ein Zimmer schön machte.
„Es gefällt mir sehr gut!", log ich und hoffte, er würde meine roten Wangen nicht sehen. Mama hatte immer gesagt, bei mir erkenne man sofort, wenn ich lüge, weil ich dann immer rote Wangen bekäme.
„Super, ich lass deinen Koffer hier. Dann kannst du selbst auspacken und es dir so einrichten wie du möchtest."
Friedrich gab mir einen Klaps auf den Po, drehte sich um und ging die Treppen herunter. Ich war verwirrt. Mama und Papa hatten das nie gemacht, mir einen Klaps auf den Po gegeben. Ich räumte meine Sachen in den Schrank und roch wieder den Duft meiner Mama. Sie schaute zu, wie ich es mir in meinem neuen Zuhause einrichtete. Ich nahm ein Foto von Mama, Papa, Cookie und mir aus meinem Koffer und stellte es auf die Fensterbank.
Als ich mich fertig eingerichtet hatte, traute ich mich aus meinem Zimmer und sah mich im Haus um. Das ganze Haus war ähnlich eingerichtet. Nicht so wie bei uns zuhause – oder nicht so, wie früher bei uns zuhause. Jetzt war es da auch nicht mehr so schön. Friedrich ließ mich die meiste Zeit in Ruhe, während ich mich im Haus umsah, aber er beobachtete mich. Das merkte ich. Ich tat so, als würde es mir hier gefallen. Ich wollte nicht, dass er traurig war.
Am Abend gab es Toast. Er versuchte, immer wieder mit mir zu reden, aber ich wusste gar nicht, was ich ihm erzählen sollte. Ich kannte ihn doch gar nicht. Als ich nicht viel antwortete, hörte er auch irgendwann damit auf, Fragen zu stellen.
Um neun Uhr abends ging ich ins Bett. Ich schaltete das Licht aus und starrte in die Dunkelheit. Wie anders doch früher alles war. Das war mein neues Zimmer, mein neues Zuhause. Ich seufzte. Zumindest bis Oma und Opa zurückkamen. Ich musste meinem Onkel eine Chance geben. Vielleicht war er ja nett.

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Mittlerweile lebte ich schon seit einer Woche bei Friedrich. Er war zwar meistens nett, aber ich mochte ihn überhaupt nicht. Ich wusste nicht, woran es lag. Vielleicht an seinem Geruch. Nicht, dass er stank, aber mich ekelte sein Geruch an. Er kam so gut wie nie zu mir ins Zimmer. Wenn er aber da war, lüftete ich danach lange, damit es nicht mehr nach ihm roch. Manchmal fragte er, ob wir was gemeinsam spielen wollen. Memory oder Uno, das würde ich ja so gerne spielen. Er wusste nicht, dass ich die nie wieder spielen werde. Die hatte ich damals mit Mama gespielt und diese Erinnerung sollte für immer so bleiben. Aber das sagte ich ihm nicht. Ihm hatte ich einfach gesagt, ich hätte keine Lust, wir können aber etwas anderes spielen. Also landeten wir immer wieder bei ‚Mensch ärgere dich nicht'. Das war wirklich ein langweiliges Spiel. Kein Wunder, dass Mama das nie vorgeschlagen hatte. Er tat dann immer so, als würde er sich ärgern, wenn er keine Sechs würfelte, obwohl er sie unbedingt brauchte. Aber ich glaubte es ihm nicht. Was ich auch nicht an ihm mochte, war, dass er mich immerzu kitzelte. Bei jeder Gelegenheit. Und dann lachte er. Ich musste auch lachen, aber nicht weil ich Spaß dabei hatte. Ich wollte ihn fragen, wann ich denn zu Oma und Opa gehen würde, aber ich hatte Angst, dass er dann beleidigt wäre. Mein Papa kam nie zu Besuch, obwohl er es versprochen hatte, also konnte ich ihn leider nicht fragen. Ich sollte Friedrich nach der Nummer von Oma und Opa fragen, dann würde ich sie anrufen und selbst fragen. Vorher würde ich aber in mein Zimmer gehen und die Tür schließen, damit Friedrich nicht merkt, dass ich sie danach frage.
„Anna? Lust auf eine Runde ‚Mensch ärgere dich nicht'? Dieses Mal werde ich dich bestimmt schlagen!", seine Stimme dröhnte durch das ganze Haus. Ich seufzte. Lust hatte ich nun wirklich nicht. Aber was sollte ich anderes tun? Dann ist er wenigstens nicht beleidigt und die Zeit bis ich endlich zu Oma und Opa kann, vergeht schneller, wenn ich etwas zu tun habe. Am liebsten würde ich aber eigentlich zurück zu Papa. Und wenn ich dann die Tür aufmachen würde, wäre Mama auf einmal wieder da. ‚Überraschung' würden sie rufen. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Ich schluckte ihn herunter. Es ist lange her, dass ich geweint hatte.
„Anna?"
„Ja, ich komme runter", gab ich zurück und machte mich auf den Weg nach unten ins Wohnzimmer.
Friedrich wartete am Tisch auf mich, das Brett schon aufgestellt. Ich hatte immer die roten und er die gelben Figuren. Ich kannte sonst niemanden, der die Lieblingsfarbe ‚Gelb' hatte. Irgendwie war alles an ihm komisch.
Ich durfte anfangen und Friedrich ärgerte sich wieder so gespielt, als ich mit meinem zweiten Wurf direkt eine Sechs warf. Nach einer Weile hatte er auch schon zwei Figuren draußen, doch dann schlug ich eine von seinen.
„Das hat ein Nachspiel für dich!", dröhnte seine Stimme durch das Wohnzimmer und schon kitzelte er mich. Erst an meinem Bauch und an meinen Seiten und dann zog er mich auf seinen Schoß, um mich an den Füßen zu kitzeln. Ich wandte mich umher und versuchte zu entkommen.
Doch er hielt mich ganz fest.
„Hör ... auf", keuchte ich zwischen meinem gezwungenen Lachen hervor.
„Ach, ich soll aufhören? Das passiert, wenn du meine Figur schlägst."
Ich bekam vor lauter Lachen keine Luft mehr. Ohne lange zu überlegen, biss ich in seinen Arm.
„Ahhhh", schrie er auf, ließ mich aber los und ich fiel auf den Boden.
„Au", murmelte ich, als mein Knie auf den harten Fußboden aufschlug.
Doch dann sprang ich direkt auf die Füße, ignorierte den kurzen, stechenden Schmerz im Knie und rannte die Treppe hoch, ohne zurückzuschauen. Erst als ich an meiner Tür war, sah ich zur Treppe. Er war mir nicht gefolgt.
„Ich will nicht mehr spielen!", rief ich noch in das Haus hinein, bevor ich die Tür hinter mir zuknallte. Dann zog ich meine Jogginghose aus, um nach dem Knie zu schauen. Es war etwas rot, aber es blutete nicht. Ich legte mich ins Bett, schloss die Augen. Je schneller die Tage vorbei waren, desto schneller würde ich bei Oma und Opa sein. So lag ich eine ganze Weile da. Ungefähr eine halbe Stunde, als sich die Tür öffnete. Friedrich. Und dann legte er sich neben mich.

~~~~~~~~~~

Friedrich kam ab dem Abend immer wieder zu mir ins Zimmer, um mir weh zu tun. Manchmal schlief er sogar in meinem Zimmer. Das fand ich am allerschlimmsten. Ich ekelte mich vor ihm. Wenn er in meinem Bett schlief, konnte ich die ganze Nacht nicht schlafen. Zu groß war mein Ekel vor ihm. Am nächsten Tag war ich immer müde und schlief manchmal im Sitzen ein. Zum Glück ging er aber meistens nach seinen nächtlichen Besuchen zurück in sein eigenes Zimmer. Anfangs dachte ich, dass er nur kommt, wenn er denkt, ich würde schon schlafen. Also ließ ich mein Licht an. Das störte ihn aber nicht. Er machte es aus, sobald er reinkam. Ich wusste, in der Dunkelheit bin ich nie sicher. Ich wünschte, ich wäre bei Papa. Papa hätte so etwas nie gemacht.
Weiß er denn, dass sein Bruder mir wehtat? Hätte Papa mich nicht weggegeben, würde es mir jetzt gut gehen. Ich hoffte, dass Mama mir in den Momenten nicht zusah und mit Cookie spielte. Ich wollte nicht, dass sie das sah. Mich sah. Tagsüber war Friedrich immer lieb zu mir, aber ich versuchte, ihm gar nicht erst zu begegnen. Wenn ich Glück hatte, sahen wir uns nur beim Essen. Wenn er Freunde da hatte, war ich sicher. Dann ließ er mich immer in Ruhe. Vermutlich weil er etwas anderes zu tun hatte. Ob er mit seinen Freunden das Gleiche machte? Bestimmt nicht - sie lachten immer. Niemand würde lachen, wenn Friedrich einem wehtat. Eines Abends hatte er seinen besten Freund zu Besuch. Sein bester Freund kam ziemlich oft vorbei, ich hatte ihn aber nie gesehen. Ich blieb dann immer auf meinem Zimmer und versuchte, ganz lang anzuhalten, wenn ich auf Toilette musste. Wenn ich nicht mehr anhalten konnte, ging ich ganz ganz schnell, damit ich Friedrich und seinen Freund nicht sehen musste. Bisher hatte das immer gut geklappt. Ich war leise, damit mich niemand bemerkte. An dem Abend ging ich früh ins Bett und machte das Licht aus. Das Licht brauchte ich nur, wenn Friedrich allein war. Obwohl es nicht half, fühlte ich mich dadurch sicherer.
Plötzlich öffnete sich meine Tür. Friedrich? Doch dann hörte ich es. Er flüsterte mit jemanden.
„Ich verspreche es dir, niemand wird es erfahren!", hörte ich Friedrich zu seinem Besuch sagen.
Ich merkte, wie sie sich meinem Bett näherten. Die Männer rochen nach Alkohol. Wollten mir beide wehtun? Ich konnte nicht mehr atmen. Ich wollte rennen. Aber ich war wie erstarrt, konnte mich nicht bewegen.
Ich war wütend. Wütend auf mich. Ich war schuld. Ich hätte abhauen sollen. Sie werden mich umbringen. Aber dann wäre ich wenigstens bei Mama und Cookie. Mama.
„Bald bin ich bei dir", flüsterte ich.
Doch dann merkte ich, es war jemand weiteres da. Wir waren nicht nur zu dritt im Raum. Sie sprach zu mir. Sagte mir, ich solle loslassen, so würden wir es durchstehen. Gerade als ich fragen wollte, wer sie war, beantwortete sie meine unausgesprochene Frage.
„Liv."

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