Kapitel 25

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„Es war ein Unfall! Es hätte nicht passieren dürfen!"
Ich öffnete meine Augen und starrte in die Dunkelheit. Ich sah mich im Zimmer um und konnte langsam einen Menschen vor dem Schlafzimmerfenster ausmachen. Ich schaltete das Nachtlicht ein. Anna stand vor dem Fenster und schien mit jemandem zu reden.
„Anna? Komm wieder ins Bett! Du träumst nur", grummelte ich.
Sie murmelte etwas Unverständliches vor sich hin. Ich seufzte, stand auf, ging zu ihr und sah nach draußen. Die Rollläden waren oben, obwohl ich sie vor dem zu Bett gehen zugezogen hatte. Ich sah in den Garten, konnte aber nichts Ungewöhnliches feststellen. Anna starrte mittlerweile nur noch nach draußen, redete aber nicht mehr.
„Hey, komm mit ins Bett. Du träumst nur."
Ich griff nach ihrem Arm und versuchte, sie in Richtung des Bettes zu führen. Sie entriss mir den Arm, sah mich völlig aufgelöst an, ihre Augen weit aufgerissen.
„Du verstehst es nicht! Es war ein Unfall, ich wollte das nicht!"
„Was versteh' ich nicht? Was war ein Unfall?"
Konnte denn keine Nacht ohne Vorkommnisse verlaufen?
Sie hatte sich wieder weggedreht und sah nach draußen in die Ferne, ihr Blick leer.
„Anna?"
„Du kennst mich nicht. Du kannst es nicht verstehen."
„Okay. Aber dafür sind wir doch hier, um uns noch besser kennenzulernen, fernab vom Alltag", sagte ich sanft. So als würde ich mit einem Kind sprechen. Ich versuchte, auf ihre Worte einzugehen, beim letzten Mal hatte das ja funktioniert. Sie wandte ihren Blick langsam vom Fenster ab, sah mich an. Schließlich nickte sie. Sie schien zufrieden. Ich griff nach ihrem Arm und führte sie zum Bett. Dieses Mal kam sie mit. Nachdem ich sie zugedeckt hatte, wartete ich, bis sie fest schlief und ich sicher sein konnte, dass sie nicht im Schlaf herumlaufen würde. Dann ging ich zum Schlafzimmerfenster und prüfte, ob es denn auch wirklich geschlossen war. Die Nacht im Keller steckte mir immer noch in den Knochen und so ganz hatte mich das Gefühl, dass mich jemand bewusst eingesperrt hat, nicht verlassen. Nachdem ich mir sicher sein konnte, dass das Fenster auch wirklich zu war, begab ich mich in das Wohnzimmer und prüfte auch hier das Fenster und anschließend die Wohnungstür. Auch die war zu und der Schlüssel war, so wie jede Nacht, versteckt, damit Anna nicht versehentlich das Haus verließ. Nach einer kurzen Überlegung schlich ich mich ins Schlafzimmer und warf einen Blick auf Anna, die nun friedlich schlummerte. Ich öffnete die Schrankschublade mit meinen Socken und griff in das hinterste Paar, um den Schlüssel hervorzuholen. Wieder sah ich kurz zu meiner Freundin rüber, die leise und regelmäßig atmete.
Die abgekühlte Sommerluft und der Geruch nach feuchter Erde schlugen mir entgegen als ich die Wohnungstür aufschloss. Ich sog die frische Waldluft ein - ich liebte sie. Dann ließ ich die Handytaschenlampe durch den Garten wandern, der natürlich leer war. Was erwartete ich auch zu sehen? Kai, wie er inmitten des Grundstücks stand? Falk? Seufzend lief ich zum Tor und prüfte auch das noch einmal. Fest verschlossen und keine Spur von den Männern. Dennoch leuchtete ich durch die metallenen Stäbe und lugte zwischen sie hindurch. Nichts. Zumindest nichts, was eine Bedrohung darstellen konnte. Nur Bäume, die sich grau im Nachthimmel abzeichneten.
„Hier ist niemand, Leon", flüsterte ich mir selbst zu, was in der Stille der Nacht erschreckend laut klang. Ich begab mich zum Haus, sperrte hinter mir ab und versteckte den Schlüssel. Anna schien von meiner nächtlichen Aktion nichts mitbekommen zu haben. Ich kuschelte mich neben sie ein und fiel irgendwann in einen unruhigen Schlaf.

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Die Sonne wärmte mein Gesicht, während ich die Haferflocken mit den selbst geernteten Früchten aß – Himbeeren, Erdbeeren und Johannisbeeren. Viel Auswahl gab es hier im Garten zwar nicht, dafür war der Geschmack überhaupt nicht mit den Varianten aus dem Supermarkt zu vergleichen. Anna saß mir gegenüber, schien noch etwas verschlafen zu sein, aber glücklich. Sie lächelte mir zu und formte ihre Lippen zu einem Luftkuss. Wer hätte gedacht, dass es doch wieder so gut zwischen uns laufen würde? Auch wenn wir mir das gestrige Erlebnis in den Knochen steckte – angesprochen hatte ich sie noch nicht darauf.
„Gestern Nacht ... kannst du dich da an etwas erinnern?", fragte ich vorsichtig.
Anna sah mich verwirrt an.
„Was meinst du?"
„Du bist wieder geschlafwandelt und hast dabei geredet."
„Oh ... ich hoffe, ich habe nichts Peinliches gesagt?", fragte sie und nahm einen weiteren Löffel der Haferflocken in den Mund.
„Na ja ... peinlich nicht, aber irgendwie ... seltsam. Du hast von einem Unfall erzählt und dass du es nicht wolltest."
Anna sah bestürzt aus. Der Löffel blieb in der Luft schweben.
„Ich ... ich ... tut mir leid, dass ich dich erschrocken habe."
„Aber was war das denn für ein Unfall, von dem du geredet hast?"
„Ich ... ich weiß nicht sicher, was ich gemeint habe. Ich kann mich nicht erinnern."
Sie verstummte. Ich sah sie erwartungsvoll an. Allem Anschein nach hatte sie eine Ahnung, wovon sie gesprochen haben könnte.
„Vielleicht ... vielleicht habe ich von meiner Mama geredet. Von ihr und von dem Unfall, den sie hatte."
Sie vermied meinen Blick.
„Was ist denn passiert? Sie ist gestorben, als du noch klein warst, oder?"
Sie nickte.
„Ja...", sie schluckte und sah auf ihre Hände.
„Es war an meinem Geburtstag. Sie ... sie wollte noch Kerzen holen gehen, weil sie sie vergessen hatte."
Sie holte tief Luft.
„Sie ... Sie kam nie mit den Kerzen zurück. Ein Auto ist in ihrs gefahren und sie ist noch an der Unfallstelle gestorben."
Anna liefen Tränen über ihre Wangen. Ich ging zu ihr hinüber, kniete mich vor ihr hin und strich ihr die Tränen weg. Dann nahm ich sie in den Arm.
„Es war nicht deine Schuld! Es war ein Unfall. Derjenige, der ihr ins Auto gefahren ist, ist schuld, du doch nicht!"
Anna nickte. Sie schien aber so, als würde sie mir nicht glauben. Meinen Blick mied sie weiterhin.

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