Kapitel 3

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Ich drehte mich im Kreis, suchte den Wald ab. Er war nicht zu sehen. Mein Herzschlag beschleunigte sich, der Atem wurde zu einem Keuchen. Orientierungslos lief ich los.
„Leon? Wo bist du?"
Meine Stimme war bloß ein Quieken.
„Leon? Wo bist du?" Dieses Mal unüberhörbar. Keine Antwort. Allein das Blätterrauschen erfüllte den Wald. Ansonsten komplette Stille. Ich schauderte im Wind und rieb die nackten Arme, um sie zu wärmen.
„Leon, bitte komm wieder her! Das ist nicht lustig!", schluchzte ich.
Meine Schritte beschleunigten sich.
Wo war Leon überhaupt hingegangen? Weit konnte er doch nicht sein. Oder ist er allein zurück zum Haus? Wohin lief ich?
Ich wusste es nicht. Dennoch erschien alles besser, als tatenlos herumzustehen. Hoffentlich ging ich in die richtige Richtung. Ich sah mich um, versuchte, etwas Bekanntes auszumachen, mich zu orientieren. Alles sah gleich aus. Baum neben Baum. Zumindest war ich auf dem Waldweg und nicht mitten im Wald. Aber wanderte ich tiefer hinein? Ich drehte mich um und sah in die andere Richtung. Welchen Weg waren wir gekommen?
„Verdammt, wie soll ich hier etwas erkennen?"
Meine Schritte beschleunigten sich. Das Herz schnürte sich zu, ich bekam keine Luft mehr.
„Leon, ich habe Angst", flüsterte ich.
Das Gesicht war von Tränen durchnässt.
Plötzlich hörte ich Schritte. Schnelle Schritte. Schwere Schritte. Das konnte nicht Leon sein, er würde mich doch rufen? Und warum hatte er mich allein gelassen? Mein Magen zog sich zusammen, als würde er mich warnen wollen. Ich musste hier weg. Schnell und weit weg von hier. Ich fing an zu rennen, die fremden Schritte dicht hinter mir. Die Lunge brannte, die Beine wurden mit jedem Schritt schwerer. Ich stolperte.
„Verdammt."
Das rechte Bein blutete. Der Versuch, aufzustehen, scheiterte kläglich – ich konnte mein Gewicht nicht halten und sackte zusammen.
„Was machst du da? Hast du dir wehgetan?", hörte ich Leons Stimme hinter mir.
Ein grelles Licht blendete mich. Reflexartig schloss ich die Augen, versuchte, den Lichtstrahl mit der Hand abzublocken. Die Taschenlampe lag neben mir auf dem Boden. Leons Gesicht konnte ich nicht sehen, es lag komplett im Dunkeln. Mein Herz pochte.
„Du warst auf einmal weg", schluchzte ich auf.
Stille.
Mit einem Mal packten mich Arme, ich schrie auf.
„Anna, verdammt noch mal, was ist los mit dir?" Leon versuchte, mich aufzurichten. „Kannst du stehen?"
„Ja, einigermaßen. Mein linkes Bein tut weh."
„Ok. Warte hier. Ich such' dir einen großen Stock."
Mit den Worten verschwand er auch schon zwischen den Bäumen – seinen Weg erleuchtete er sich mit seiner Handytaschenlampe. Kurze Zeit später hielt er mir einen Stock entgegen.
„Den kannst du als Krücke benutzen. Den ganzen Weg kann ich dich nicht stützen, du hast uns immerhin ganz schön tief in den Wald geführt. Wir sollten hier weg." Wir liefen schweigend nebeneinander. Das heißt, ich stützte mich auf meine provisorische Krücke und humpelte hinter ihm her. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Er war derjenige, der angespannt war? Er hatte mich doch stehen lassen.
„Warum bist du weggegangen? Ich konnte dich nicht finden und auf meine Rufe hast du auch nicht reagiert."
Keine Antwort.
Schweigend liefen wir weiter. Kannte ich Leon wirklich so gut? Schließlich hatten wir uns erst vor drei Monaten kennengelernt.

Ich stand in einer Buchhandlung, ‚The Institute' von Stephen King in der Hand. Für mich war er schon immer ein beeindruckender Mensch und Schriftsteller gewesen.
Ein Mann räusperte sich hinter mir.
„Es ist eins meiner liebsten Werke von ihm. Ich kann es Ihnen nur empfehlen!"
Ich drehte mich um und sah einen Mann Ende zwanzig, Anfang der Dreißiger. Er lächelte mir entgegen.
„D... Danke", stotterte ich.
„Es ist wirklich ein tolles Buch!", wiederholte er sich.
Ich nickte.
„Tut mir leid. In Filmen sieht es immer so leicht aus."
„Was meinen Sie? Was sieht so leicht aus?"
Er grinste und fixierte meine Augen mit seinen.
„Frauen anzusprechen. Was ich eigentlich sagen wollte: Ich habe Sie von da drüben gesehen und Sie sehen wirklich toll aus!"
Mein Gesicht glühte.
„Danke", sagte ich leise.
Er seufzte.
„Ich bin dann auch wieder weg und werde Sie nicht weiter belästigen. Tut mir leid für die Störung. Das Buch sollten Sie dennoch kaufen!"
Er drehte sich um.
„Ich ... Sie haben mich nicht belästigt", stolperten die Worte aus mir heraus.
Er blieb stehen, wandte sich mir zu und legte seinen Kopf zur Seite. So sah er mich ein paar Sekunden an, bevor er wieder mit mir sprach.
„Lust auf einen Kaffee? Ich kenne hier ein gemütliches Café gleich um die Ecke."
Ich nickte lächelnd. Er machte eine theatralische Handbewegung in Richtung der Ladentür. „Nach Ihnen!"
Ich lachte, schlenderte zur Kasse und bezahlte das Buch – der Mann neben mir. Danach führte er mich zu einem kleinen Café in einer Nebenstraße, das ich vorher nie bemerkt hatte.
Schweigend setzten wir uns an den letzten freien Tisch, der noch mit dem Geschirr unserer Vorgänger bedeckt war. Nervös fuhr ich mir zum wiederholten Mal durch mein Haar. Gerade als ich den Mund öffnete und etwas sagen wollte, sprach er ebenso: „Kommen Sie-"
Er verstummte und wir lachten.
„Sie zuerst", sagte er lächelnd.
„Nein, nein. Schon gut. Was wollten Sie sagen?", fragte ich.
„Kann ich Sie duzen? Ich bin Leon."
„Ja. Ja, klar. Ich heiße Anna."
„Kommst du denn von hier? Aus Bonn?"
Ich nickte.
„Ich bin wegen des Studiums hergezogen und irgendwie konnte ich mich doch nicht mehr von der Stadt trennen. Ich finde es schön hier. Und du?"
Mein Date öffnete gerade seinen Mund, als uns die Kellnerin unterbrach: „Tut mir leid, ich räume direkt ab und nehme Ihre Bestellungen auf. Heute ist ein richtiges Chaos ausgebrochen!"
Sie nahm die Tassen und Teller von unserem Tisch.
Plötzlich fiel einer der Tassen aus ihrer Hand. Hektisch griff sie danach, konnte sie aber nicht mehr auffangen. Leon erfasste sie, bevor sie am Boden zerschmettern konnte, und reichte sie ihr. Die Kellnerin lief rot an. Ich schätzte sie auf achtzehn, vielleicht neunzehn Jahre.
„Kein Problem! Lassen Sie sich Zeit! Wir können warten, nicht wahr?", sagte mein Date und zwinkerte mir dabei zu.
Ich lächelte ihm bestätigend entgegen.
„Sind Sie neu hier? Ich habe Sie hier noch nie gesehen", fragte Leon, sein Blick zur Kellnerin gewandt.
Sie nickte überschwänglich. Die Röte schwand langsam von ihrem Gesicht.
„Ich bin vor zwei Monaten nach Bonn gezogen."
„Was hat Sie denn hierher verschlagen, wenn ich fragen darf?"
Sie seufzte.
„Einen Neuanfang schätze ich. Aber meine Jobwahl sollte ich wohl nochmal überdenken. Ich glaube, das Kellnern liegt mir nicht so."
„Ach, das wird schon! Aller Anfang ist schwer!", Leon lächelte der Kellnerin aufmunternd zu.
Mein Bauch grummelte. Warum redete er überhaupt mit ihr? Mein Blick schweifte über ihren Körper: braun gebrannt, fast schwarzes Haar und ein weißes Shirt mit tiefem Ausschnitt, der ihre wohlgeformten Brüste betonte, zwischen denen ein silbernes Kettchen verschwand. Ihr Gesicht weich und kindlich. War sie überhaupt volljährig?
Plötzlich sah sie mich an, dann Leon und sagte: „Ich muss leider weiterarbeiten. Danke für die netten Worte! Was möchten Sie denn bestellen? Ich bringe es Ihnen direkt."
Mein Date bestellte für uns beide – ich nahm das Gleiche – und die Kellnerin verschwand hüftschwingend hinter der Theke.
Zum Glück wurde sie von anderen Gästen gerufen, als sie uns die Cappuccini brachte, und konnte sich so nicht weiter mit meinem Date zu unterhalten. Die restliche Zeit verging wie im Flug. Leon stellte interessiert Fragen, selbst ich taute nach einer Weile auf und wurde entspannter. Ich erfuhr, dass er dreißig war, als Steuerberater arbeitete und ursprünglich aus einem kleinen Dorf mit gerade mal 200 Einwohnern kam. Die nächste Stadt eine knappe Stunde mit dem Auto entfernt.
Nachdem er für uns beide gezahlt hatte, grinste er mich voller Erwartung an: „Hättest du Lust am Wochenende auf ein Date im Trampolinpark? Ich war zwar noch nie in einem, habe aber gehört, es soll richtig Spaß machen! Man kann da selbst Ninja Warrior Parcours machen. Oder zumindest so ähnlich."
„Ja klar, sehr gerne!", erwiderte ich direkt, obwohl ein Trampolinpark nicht meine erste Wahl gewesen wäre. Andererseits wollte ich nicht unsportlich und bewegungsfaul wirken. Normalerweise bestand mein Sport ausschließlich aus Yoga, sonst war mein Alltag weniger actionreich.
„Okay, abgemacht! Samstag um 15 Uhr hole ich dich ab. In Ordnung?"
Kaum, dass ich nickte, schnappte sich Leon schon sein Handy, entsperrte es und sah mich auffordernd an: „Wo wohnst du denn? Und wie ist deine Nummer?"

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„Da sind wir. Zurück in unserem neuen Zuhause. Wir sollten deine Wunde reinigen." Die Stimme von Leon war ernst. Er marschierte vor mir, ich humpelte hinterher. Im Bad stellte ich das verletzte Bein unter die Dusche und spülte den Dreck von meinem Körper. Erde und angetrocknetes Blut verschwanden im Abfluss. Ich trocknete mich vorsichtig ab und ging ins Wohnzimmer, wo Leon auf mich wartete.
„Setz dich auf die Couch, ich desinfiziere die Wunde."
Sobald ich saß, kniete er sich vor mich hin. Seine warmen Hände umschlossen sanft mein Bein, hoben es vom Boden ab und legten es auf seinen aufgestützten Oberschenkel.
„Vorsicht, das tut jetzt kurz weh." Er lächelte mir ermutigend zu. Eine Welle der Erleichterung durchflutete mich – er schien wieder der Alte zu sein. Er sprühte das Desinfektionsmittel auf die offene Stelle und ich zuckte kurz zusammen. Aus dem Verbandskasten nahm er ein großes Heftpflaster, das er auf die Wunde klebte.
„Ich hoffe, das reicht. Falls es doch stärker bluten sollte, können wir dir ja einen Verband umlegen."
Ich nickte. Es schmerzte kaum noch. Leon sah mir in die Augen, das Bein nach wie vor auf seinem. Ich senkte den Blick und merkte, wie er mein Fuß abstellte, um sich zu mir auf die Couch zu setzen. Aber dann kam eine merkwürdige Frage von ihm: „Warum bist du denn eben weggegangen? Ich stand doch genau neben dir."
„Nein, ich bin nicht gegangen. Du warst weg! Als ich wieder zu dir geleuchtet hatte oder da, wo du hättest stehen sollen, warst du nicht mehr da."
Ich drehte meinen Kopf zu ihm, um ihn anzusehen, doch er starrte mit gerunzelter Stirn ins Wohnzimmer.
„Leon? Warum bist du weggegangen?"
Er seufzte. „Hey, dann hast du mich einfach nicht gesehen. Ich war jedenfalls noch da."
Mit diesen Worten küsste er meine Stirn, stand auf und lief Richtung Schlafzimmer.
Er ist nicht mehr da gestanden, als ich wieder zu ihm geleuchtet habe. Ich hätte ihn doch sehen müssen. Oder hat mir meine Angst einen Streich gespielt?
„Anna?"
„Hmm?"
Ich blickte nach oben und sah zu Leon, der im Türrahmen zum Schlafzimmer stand.
„Kommst du ins Bett?"
Ich nickte und folgte ihm, doch meine Gedanken waren immer noch im Wald.

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