Kapitel 26

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Der Abend war erleuchtet von der Abendsonne, während ich auf der Terrasse saß. Anna war schon schlafen gegangen, sie meinte, sie sei müde und hatte mal wieder Kopfschmerzen. Der Gedanke an sie und ihre Vergangenheit ließen mich nicht los. Die Geschichte mit Kai war zu heftig und sie tat es so ab. Die weitere Befragung war ja im wahrsten Sinne des Wortes ins Wasser gefallen. Und dass sie es nicht als schlimm empfand, dass Kai Bilder von ihr in seinem Account hatte und zusätzlich den Beziehungsstatus als vergeben angab? Er hatte kaum von ihr losgelassen, wollte sie nach wie vor. Und wenn er wiederkam?
Obwohl ich in letzter Zeit oft an Annas und meiner überstürzten Beziehung zweifelte, war Kai definitiv ein gefährlicher Mann. Und ich wollte sie vor ihm beschützen – egal wie es mit Anna und mir ausging. Sie hatte mir aus meinem Loch geholfen.
Die Scharade, die ich zwei Jahre Aufrecht erhalten hatte, hatte mich davon abgehalten, vollständig zu verwahrlosen. Bei mir wusste niemand, abgesehen von Markus, wie es mir ergangen war. Meine Mitmenschen mochten mich gerne. Warum? Weil ich so tat, als würde ich zuhören. Als wäre ich daran interessiert, welche Bilder sie sich in ihrem neuen Haus aufgehangen hatten oder dass ihr Sohn schon mit fünf Jahren lesen konnte. Ich stellte in den richtigen Momenten Fragen und sie erzählten mal wieder von sich selbst. Das Leben war manchmal wie ein Theaterstück auf der Bühne. Wir Menschen taten so, als hätten wir alles im Griff. Hatten wir aber nicht.
Ich riss mich aus meinen Gedanken, nahm das Handy und öffnete den Nachrichtendienst – neugierig, ob Kai reagiert hatte. Ein Blick darauf zeigte mir, dass er nicht nur nicht geantwortet hatte, sondern die Nachricht nicht einmal gelesen hatte. War er gar nicht erst online gewesen, seitdem ich sie gesendet hatte? Andererseits bekommen heutzutage doch alle ihre Neuigkeiten direkt auf dem Handy angezeigt, das musste er gesehen haben, zumindest wenn er die App installiert hatte. Wann er zuletzt online war, konnte man bei ihm nicht sehen. Ich stöberte im Profil, so als würde ich die Antwort für das, was passiert war, in seinem Social Media Account finden. Das war nicht der Fall. Was hatte Anna gesagt? So etwas stand nicht in einem Profil geschrieben? Keiner warnte dich davor. Vielleicht sollte ich seinem Bruder schreiben, Robert. Womöglich hatte er mehr Informationen – Informationen, die mir Anna vorenthalten hatte.
Als ich das Profil des Bruders öffnen wollte, hörte ich ein Auto. Normalerweise kam hier nie jemand her, man war vollständig abgeschieden. Als ich mit meinen Eltern hergekommen war, hatte es nie spontanen Besuch gegeben. Vor allem nicht nachts. Und dieses Mal? Erst Falk und dann so spät ein Auto?
Ich hatte ein schlechtes Gefühl bei der Sache. Ich stand von dem Gartenstuhl auf und sah wie sich Autolichter auf das Gartentor zu bewegten, bis sie vor dem Tor stehen blieben. Dann waren die Lichter aus. Und schließlich nichts mehr. Ich war wie angewurzelt, starrte auf die Stelle, wo das Auto stehen musste, und versuchte, etwas zu erkennen. Nichts. Kein Geräusch. Der Wagen musste aber noch da sein.
„Hallo? Wer ist da?", rief ich und musste über mich selbst lachen. Immer, wenn jemand in einem Horrorfilm ‚Hallo' rief, fand ich es unrealistisch und lächerlich. Aber genau das macht man dann auf einmal selbst.
Nach wie vor Stille. Ich eilte ins Haus und holte das Jagdgewehr. Sicher war sicher. Ich lief nach draußen und zielte auf das Gartentor.
„Hallo? Das hier ist ein Privatgrundstück! Was wollen Sie?"
Allein ein Blätterrauschen kam mir als Antwort entgegen. Ich ging zum Gartentor und öffnete es umständlich mit einer Hand, während ich weiterhin versuchte, mit dem Gewehr auf den Wagen zu zielen. Es war ein alter schwarzer VW Golf.
„Was ist Ihr Problem? Steigen Sie aus dem Auto oder fahren Sie weg!"
Obwohl mir mulmig bei der Sache war, versuchte ich, so beherrscht wie möglich zu klingen. Ich stand vor dem Wagen und zielte auf die Windschutzscheibe, als das Auto von jetzt auf gleich gestartet wurde. Das Licht blendete mich und ich hob reflexartig die Hand vor meine Augen.Meine Pupillen mussten sich erst an das Licht gewöhnen, alles schien verschwommen. Doch dann wurde mein Blick klarer. Im Auto saß eine braun gebrannte Frau mit dunklem, langem Haar.
„Sascha?"
Ich starrte in die Windschutzscheibe und Sascha sah mir mit weit aufgerissenen Augen entgegen. Das Jagdgewehr glitt mir aus den Fingern, als sie die Autotür öffnete und ausstieg. Seit zwei Jahren hatte ich sie nicht gesehen und sie war genauso atemberaubend wie damals, wenn nicht schöner. Sie schritt zögernd auf mich zu, blieb aber einen guten Meter von mir entfernt stehen. Ihr Mund öffnete sich, schloss sich. Es war alles wie in Zeitlupe.
Als ich einen Schritt auf sie zuging, öffnete sie die Lippen, so als würde sie etwas sagen wollen. Schloss ihn wieder. Ich räusperte mich, wollte die Stille durchbrechen. Ich wollte sie fragen, was sie hier machte, aber es kam kein Wort aus meinem Mund.
„Ich ...", sagte Sascha und der Klang ihrer Stimme durchfloss meinen ganzen Körper, bereitete mir Gänsehaut. So lange hatte ich diese Stimme nicht gehört. Sie klang genauso wie damals. Wir standen so nah voreinander, dass ihr Atem auf meiner Haut kitzelte. Sie sah mich an und ihre Augen zogen mich direkt in ihren Bann.
„Was tust du hier, Sascha?", flüsterte ich.
„Ich ... ich habe einen neuen Job bei einem renommierten Nachrichtenportal. Ich arbeite dort im Volontariat. Ich ... ich wollte da schon so lange hin. Als ich die Zusage heute Nachmittag bekommen habe, hatte ich überlegt, wem ich es als Erstes erzählen möchte. Du warst der, der mir direkt in den Sinn kam."
Sie lachte und schüttelte ihren Kopf.
„Ich bin eine Vollidiotin. Und verrückt. Es tut mir leid. Jetzt, wo ich hier bin, merke ich, wie verrückt das ist. Ich fahre wieder! Es ... es tut mir leid."
Sie senkte ihren Kopf und sah auf den Boden. Schließlich drehte sie sich um, lief Richtung Auto.
„Woher wusstest du, dass ich hier bin?", fragte ich abrupt. Ich wollte nicht, dass sie ging. Sie blieb im Schritt stehen und wandte sie mir wieder zu, ihre Mundwinkel leicht nach oben gezogen.
„Als ich die Zusage erhalten habe, bin ich erst zu deiner Wohnung gefahren, aber du warst nicht da. Danach bin ich zu dem Haus deiner Eltern. Sie meinten, dass du im Waldhaus wärst. Das Häuschen hier werde ich nie vergessen. Ich bin direkt los. Ich weiß, das ist verrückt. Ich weiß auch nicht, was mit mir lost ist. Aber ich musste zu dir. In dem Moment schien es das Richtige zu sein und viel weniger verrückt, als es mir jetzt erscheint."
„Wie ... wie kommst du denn auf den Job?"
„Ich studiere ja Journalismus, wie ich dir im Brief erzählt hatte, und bin mittlerweile so gut wie fertig. Ich muss nur noch meine Bachelorarbeit schreiben. Nachdem ich das Grundschullehramtsstudium so habe schleifen lassen, habe ich dieses Mal Vollgas gegeben. Ich wollte es dir damals schon genauer erzählen, als ich dich treffen wollte."
„Es tut mir leid, dass ich nicht gekommen bin. Ich ... ich war sogar da. Dann bin ich aber wieder gegangen", erwiderte ich kleinlaut.
Reue überkam mich, obwohl sie schuld an allem war, nicht ich.
Sie antwortete nicht.
„Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Du hast mir so wehgetan. Ich konnte nicht", rechtfertigte ich mich. Sie antwortete abermals nicht. Wir schwiegen uns minutenlang an, keiner sagte etwas.
„Es ... es tut mir Leid. Damals war ich noch ein ganz anderer Mensch als heute."
Ich schluckte an der Erinnerung, wie ich sie damals mit zwei ihrer Freunde erwischt hatte und wandte den Blick ab. Doch dann spürte ich ihre weichen Finger an meiner Wange und blickte nach oben. Ihr Gesicht, ihre Lippen waren so nah zu meinen, dass ich mich nur noch etwas nach vorne lehnen bräuchte und wir würden uns küssen. Den gleichen Gedanken hatte sie wohl auch, denn schon schlossen sich ihre Lippen um meine. Ich wollte zurückweichen, wusste, dass es falsch war. Aber ich war wie erstarrt, ließ es einfach geschehen. Sie wich vor mir zurück, starrte mir mit weit aufgerissenen Augen entgegen.
„Fuck. Sorry", stieß sie hervor, vergrößerte den Abstand zwsichen uns und sah auf den Boden.
Da war sie wieder. Diese innere Leere, als wäre ich nicht vollständig. Wem hatte ich immer etwas vor gemacht? Den anderen? Mir? Sie war meine große Liebe gewesen und auch heute noch konnte ich mich nicht ihrem Bann entziehen.
Ich griff mit meiner Hand unter ihr Kinn und drehte ihr Gesicht zu meinem. Küsste nun sie. Hob sie hoch und drückte ihren Rücken an das Gartentor. Ich bedeckte ihren gesamten Körper mit meinen Lippen, wollte sie überall spüren. Ich wurde hart und presste ihn gegen sie. Sascha stöhnte. Ich trug sie durch das Tor und lief mit ihr zu meinem Auto, das eindeutig um einiges größer war als ihr alter VW Golf. Ich setzte sie ab, öffnete den Kofferraum und klappte die Rücksitze um.

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