Kapitel 5

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Nach Atem ringend schreckte ich auf. Es war, als hätte mir jemand die Luft abgedrückt. Leon lag neben mir. Konzentriert auf jeden Atemzug versuchte ich meinen Herzschlag zu beruhigen. Die Träume verfolgten mich, seit ich ein kleines Kind war, und dennoch wurden sie nicht weniger gruselig. Das Mädchen hatte ich schon mal in einem gesehen. Doch ich kannte sie nicht. Oder doch? Ich schloss die Augen und schüttelte den Kopf – es war nur ein Traum, ich sollte daran keine Gedanken verschwenden. Mein Blick wanderte zum friedlich schnarchenden Leon. Zum Glück war er wieder hier.
Aber was war das an seinem Körper? Vorsichtig zog ich die Decke ein paar Zentimeter von ihm herunter, um ihn nicht zu wecken. Sie raschelte in der Stille des Schlafzimmers. Leon seufzte, atmete tief ein und aus und drehte sich auf den Rücken. Behutsam wollte ich seinen massiven Körper zur Seite drehen, doch er rührte sich nicht vom Fleck. Ich drückte nun etwas fester und endlich legte er sich auf seinen Bauch und gab die Rückseite frei. An seinem Nacken bis zu den Schulterblättern waren Kratzer – manche mit getrocknetem Blut. Ich berührte sie, folgte ihrer Spur, so als würden sie erst real werden, wenn ich sie fühlen konnte. Der Körper war weich, die Verletzungen rau unter meinen Fingern.
Plötzlich ein Knallen. Ich blickte nach oben und sah, dass ein Ast gegen das Schlafzimmerfenster schlug. Leon öffnete seine Augen, sah mich an.
„Guten Morgen", sagte ich und versuchte, mir nichts anmerken zu lassen.
Er antwortete nicht, sah mich bloß weiterhin mit einem nicht deutbaren Blick an.
„Wo warst du?", fragte ich ihn.
Er stand auf und ging ins Bad. Sprachlos sah ich ihm hinterher. War Leon wirklich der Mann, für den ich ihn hielt? Liebevoll, warmherzig, der, der mich beschützte und sich um mich sorgte? Nicht der, vor dem ich beschützt werden musste?
Mit steinerner Miene kam er aus dem Bad und würdigte mich keines Blickes.
„Wo warst du gestern Abend?", fragte ich ihn schroff.
Leon zog sich in aller Ruhe an.
„Im Wald", grummelte er.
„Wie, im Wald? Ich habe dich gesucht."
„Ich musste den Kopf freibekommen."
Er zog sich ein Shirt über und fuhr fort: „Ich weiß nicht, was mit uns los ist. So kann es nicht weitergehen."
Was meinte er damit? Er hatte gestern schon gesagt, dass es am besten wäre, wir würden wieder zurückfahren. Wollte er mich verlassen?
„Leon, was ist denn los? Ich dachte, wir wollen hier unsere Beziehung vertiefen und sie nicht in Frage stellen. Ich habe mich gestern nicht wohl gefühlt bei dem Ganzen. Tut mir leid, wenn ich dich verletzt habe. Aber du musst mich doch auch verstehen!"
Die Worte sprudelten aus mir heraus. Leon sah mich mit gerunzelter Stirn an.
„Weißt du was? Wir machen hier einen Cut. Einen Neustart für unseren Urlaub. Das, was passiert ist, war nicht schön, aber wir lassen uns den Urlaub nicht verderben. Wir lieben uns. Ich liebe dich."
Auch wenn mich seine Stimmungsschwankung verunsicherte, war ich glücklich, dass er sich versöhnen wollte.
„Anna? Was sagst du?"
Ich nickte stumm, woraufhin mir Leon seine Lippen sanft gegen meine Stirn drückte.

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Die Augen brannten, Tränen flossen über mein Gesicht.
„Hey, du musst ja nicht weinen, lass mich das machen!"
Leon nahm mir das Messer und die Zwiebel aus der Hand und küsste eine Träne weg. Ich lächelte ihn dankbar an und wandte mich dem restlichen Gemüse zu.
„Es tut mir wirklich leid. Ich denke, wir haben beide etwas überreagiert", entschuldigte sich Leon erneut, während er nun versuchte, seine eigenen Tränen wegzublinzeln.
„Ist schon in Ordnung. Nur ... was hast du gestern so lange im Wald gemacht? Du warst ewig weg. Ich habe mir Sorgen gemacht."
„Ich bin nur spazieren gegangen, nichts besonderes. Mein Papa und ich haben diese eine Stelle, die ist etwas tiefer im Wald, da haben wir immer Rast gemacht. Dort war ich auch gestern. Tut mir leid, dass ich nichts gesagt habe und einfach gegangen bin."
„Ich hoffe, das kommt bei dir nicht allzu häufig vor. Dass du einfach verschwindest."
Ich lachte, um die Stimmung wieder zu lockern, auch wenn ich es überhaupt nicht lustig fand
„Nein, versprochen!"
Leon lächelte mir mit Tränen in den Augen zu.
„Geht es Markus eigentlich besser?", fragte ich, um das Thema zu wechseln, als ich die Tomaten in eine Schüssel füllte.
Leon nickte und begab sich nun in die Küche, um die Zwiebeln anzubraten, die laut im Öl zischten.
„Ja, ich denke, er hat sich damit abgefunden", rief er ins Wohnzimmer.
Ein paar Sekunden später kam er zu mir rüber.
„Manche Menschen wollen sich einfach nicht binden."
Er legte seine Arme um meine Hüften und küsste mich am Hals. Ich schmiegte mich an ihn, mein zierlicher Körper versank in seiner Umarmung.
„Zum Glück gehören wir nicht zu denen. Für Markus tut es mir aber leid."
Er ließ von mir, nahm die Tomaten vom Tisch und verschwand in der schmalen Küche.
„Hast du denn schonmal so etwas erlebt? Jemand, der einfach nichts Ernstes wollte, du aber schon?", fügte er hinzu.
„Eigentlich bei meinem ersten Freund. Wenn man ihn überhaupt so nennen kann. Wir lernten uns während des Studiums kennen. Jonas hieß er."
Mit den restlichen Zutaten ausgestattet, folgte ich Leon in die Küche, die von heißem Dampf erfüllt war. Ich kippte das Gemüse zu den Zwiebeln und den Tomaten, während mein Freund die Nudeln ins kochende Wasser gab.
„Was ist passiert?", fragte Leon, als er die Herdplatten schwächer stellte.
„Na ja, er hatte direkt, nachdem er mich erobert hat, schon kaum mehr Interesse an mir gezeigt. Da er sein Ziel erreicht hat, gab es neue, spannendere Sachen für ihn. Wir waren auch nur fünf Monate zusammen. Immerhin hatte ich aber mein erstes Mal mit ihm, da war ich neunzehn."
„Oh. Da warst du im Vergleich zu meinen damaligen Klassenkameradinnen ja ein richtiger Spätzünder. Zumindest wenn man den ganzen Gerüchten und ihren eigenen Erzählungen Glauben schenken kann. Ich selbst war aber auch nicht besser. Mein erstes Mal war in irgendeinem Feld. Wir waren beide sturzbetrunken und haben danach nie wieder ein Wort miteinander geredet. Ich kann mich nicht einmal daran erinnern, ob ich gut war. Vermutlich nicht."
Er lachte.
„Wie war es für dich?", fragte er, während er meine Hand nahm und mich zurück ins Wohnzimmer führte.
Ich setzte mich auf einer der Stühle, Leon mir gegenüber.
„Hmm ... toll war es nicht. Aber immerhin tat es nicht so weh. Zumindest nicht so sehr, wie ich dachte oder mir erzählt wurde."
„Und wie kam es zum Aus zwischen Jonas und dir? Lag es an seiner fehlenden Größe oder gab es weitere Probleme?"
Leon grinste und sah selbstzufrieden aus. Ich verdrehte die Augen, doch mein Freund ließ sich nicht verunsichern. Erwartungsvoll sah er mich an und wartete.
„Er hat sich in eine andere verliebt. Mit ihr war er aber noch kürzer zusammen als mit mir."
„Lag wohl doch an seinen Künsten, wenn es keine Frau lange mit ihm ausgehalten hat."
Leon lachte. Ich schüttelte den Kopf, musste aber selbst grinsen.
„Was ist denn aus diesem ominösen Jonas geworden?"
„Keine Ahnung, ehrlich gesagt. Irgendwann waren wir nicht mehr in der gleichen Freundesgruppe. Ich weiß nicht einmal, ob er seinen Bachelor überhaupt abgeschlossen hat."
„Nicht so wie meine Streberin! Summa cum laude! Kann ja nicht jeder mit solch einer Intelligenz gesegnet sein."
Meine Wangen wurden heiß, ich sah auf die Hände und merkte, dass ich nervös mit meinem Armband spielte. Auch wenn ich immer super Noten hatte, war der Unterricht, das einzig Schöne an der Schulzeit gewesen.
„Ich glaube, das Essen ist fertig!", ertönte Leons Stimme.Ich blickte nach oben und sah ihn in die Küche hasten. Glücklich darüber, nicht mehr der Mittelpunkt der Unterhaltung zu sein, atmete ich aus.

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Das Papier raschelte unter meinen Fingern, als ich durch das Skizzenbuch blätterte. Es war mittlerweile das fünfte, das ich besaß. Die erste Seite zierte meinen Namen, umgeben von verschnörkelten Blumen. Die Buchstaben verflossen mit den Pflanzen, als wären sie selbst Ranken. Die letzten Zeichnungen waren eher düster, unvollständig. Es waren immer wieder Splitter, Glassplitter, manche wirkten wie ein zerbrochener Glastisch. Wie kam ich auf diese Zeichnungen? Manchmal war ich so in den Skizzen vertieft, dass ich selbst nicht wusste, warum ich sie angefertigt hatte. Aber ich fühlte mich danach besser, freier. Ich atmete tief ein und aus und setzte dann an, die Waldhütte zu skizzieren, umringt von dem Obst und Gemüse, Bäumen und Blumen. Ich wählte weichere Stifte, ließ die Umgebung friedvoll wirken.
Als ich fertig war, hatte die Aktivität nicht den gewünschten Effekt. Die Unruhe wütete immer noch in mir. Ich sah auf und mich nach Leon um. Er erntete gerade ein paar Tomaten, vollkommen vertieft in seiner Aufgabe. Ich blätterte um, wählte dieses Mal härtere Bleistifte und begann wieder zu zeichnen. Die Züge waren rasch und schemenhaft. Blind ließ ich mich von meinen Gedanken führen. Jeder einzelne Strich kam wie von allein. Ich war in einem Tunnel.
Nach einer Weile setzte ich den Stift ab und betrachtete das Werk: Ein Weiher, ein Steg, eine zierliche Frau auf dem Steg und ein Mann, der viel zu gewaltig wirkte im Vergleich zum Rest, fast schwarz. Er schien auf die andere Person herabzusehen. Eine Gänsehaut lief mir über meinen Rücken.
„Hey, alles okay, Anna? Was zeichnest du?"
Flink blätterte ich eine Seite zurück und blickte daraufhin nach oben, um Leon auf mich zukommen zu sehen.
„Die Waldhütte."
Ich lächelte ihn an und wie zum Beweis hob ich das Skizzenbuch und hielt es ihm vor sein Gesicht.
„Wow, es ist wunderschön geworden! Du bist wirklich eine begnadete Künstlerin. Und wie schnell du es gezeichnet hast."
„Danke."
Leon blieb vor mir stehen, sah aus, als würde er noch etwas sagen wollen. Dann entschied er sich wohl dagegen, drehte sich um und lief ins Haus. Ich atmete aus. Blätterte zur nächsten freien Seite und setzte wieder den Bleistift aufs Papier. Doch in meinem Kopf erschienen nur noch Bilder vom Steg. Seufzend klappte ich das Buch zusammen und folgte Leon in die Hütte.

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