Kapitel 28

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Ich wälzte mich im Bett hin und her. Jedes Mal, wenn ich kurz eindöste, hatte ich Saschas Gesicht vor Augen und schreckte wieder auf. Ich sah hinüber zu Anna, die friedlich schlief, ihr blondes Haar blitzte unter der Decke hervor. Ich nahm mein Handy vom Nachttisch und entsperrte es. Keine Nachricht. Den ‚zuletzt online' Status hatte sie ausgestellt, so wie damals auch schon. Ich stand auf und lief nach draußen an die frische Luft. Atmete tief ein und schloss die Augen.
Zum ersten Mal seit fünf Jahren spürte ich das Verlangen, an einer Zigarette zu ziehen. Vielleicht würde es helfen, meine Gedanken zu sortieren. Die Letzte hatte ich mit Sascha geraucht. Ich lief ins Haus und öffnete den Schrank im Flur. Zum Glück lag da eine Schachtel von meinem Vater, der zwar unregelmäßiger Raucher war, aber immer eine Packung da hatte.
Nachdem ich nach der Zigarettenpackung und dem roten Feuerzug das daneben lag, gegriffen hatte, setzte ich mich wieder raus an den Gartentisch. Kaum dass ich saß, zündete ich die Zigarette an und inhalierte den Rauch tief ein. Meine Gedanken rasten, Kai, Falk, Sascha, Anna. Ihr Ex hatte mir immer noch nicht geantwortet. Ich klickte auf das Profil seines Bruders, Robert. Mein Finger schwebte über den Nachrichtenbutton. Hatte Anna Recht? Sollte ich es ruhen lassen? Nein, das konnte ich nicht. Als würde eine unsichtbare Kraft mir sagen, dass ich der Sache auf den Grund gehen sollte. Zum einen fühlte ich mich Anna gegenüber schuldig – womöglich weil ich sie betrogen hatte und ich ihr wenigstens helfen wollte. Zum anderen wollte ich der Sache aber auch auf den Grund gehen, weil ich Kai nicht damit durchkommen lassen wollte. Vielleicht war ich aber auch bloß neugierig. Letzten Endes kann ich nicht sagen, was mich dazu bewegte auf den Nachrichtenbutton zu klicken und den Bruder anzuschreiben. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich nicht, dass die Entscheidung, dieser Moment, alles veränderte. Alles wäre anders gekommen, hätte ich auf Anna gehört. Hätte ich die Vergangenheit ruhen lassen und mich um meine eigenen Angelegenheiten gekümmert. Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass es 00:18 Uhr war – eigentlich viel zu spät, um einen fremden Menschen anzuschreiben. Eigentlich. Eigentlich ging mich die Vergangenheit meiner Freundin nichts an, wenn sie es mir nicht erzählen wollte. Vor allem, wenn ich nicht wusste, ob ich überhaupt mit ihr zusammenbleiben wollte. Ich klickte dennoch auf den Nachrichtenbutton, drückte meine Zigarette aus und fing an zu tippen:

Hallo Herr Huber,

Ich weiß, Sie kennen mich nicht und ich weiß auch nicht, ob es das Richtige ist, Ihnen zu schreiben, aber etwas lässt mir keine Ruhe. Ich bin Leon, der neue Freund von Anna. Sie hat mir erzählt, was zwischen ihr und Ihrem Bruder vorgefallen ist und dass Kai mittlerweile im Ausland ist. Allerdings hat Kai nach wie vor Bilder von sich und Anna in seinem Social Media-Profil. Ich will hier keine schlafenden Hunde wecken, aber es lässt mich ehrlich gesagt nicht los. Auch weiß ich nicht genau, wo sich Kai aufhält? Ich möchte nicht, dass er denkt, er hätte noch eine Chance bei Anna. Vielleicht können Sie hier Licht ins Dunkle bringen? Gerne können Sie meine Nummer an Kai weiterreichen, ich konnte ihn nicht erreichen.

Bevor ich allzu lange darüber nachdachte, hinterließ ich meine Handynummer und drückte auf ‚Senden'.
Ein Regentropfen fiel auf mein Handybildschirm, unter dem die Nachricht an Robert verschwamm. Es war absurd, dass mir ein fremder Mann um halb eins in der Nacht antworten oder mich gar anrufen würde. Aber ich wollte es wissen. Selbst wenn ich nicht einmal wusste, was ich wissen wollte. Auf jeden Fall ging es mir nicht ausschließlich um die Bilder auf Social Media. Mir fehlte ein großes Stück der Geschichte.
Nachdem Minuten verstrichen waren und immer mehr Regentropfen auf der ungelesenen Nachricht landeten, sperrte ich den Bildschirm und legte das Handy zur Seite. Auf einmal donnerte es. Noch wollte ich trotzdem nicht aufgeben. Was, wenn er es noch lesen würde, und ich verpasste ihn?
Ich schob meinen Gartenstuhl unter den Vorsprung der Hütte, um größtenteils vom Gewitter geschützt zu sein, und zündete mir eine weitere Zigarette an. Sie schmeckte mindestens genauso scheußlich wie die Erste, aber dennoch beruhigte es mich aus einem unerklärlichen Grund. Nach der halben Zigarette griff ich zu meinem Handy und öffnete den Chat.Robert hatte meine Nachricht gelesen und er war online! Würde er mir antworten? Ich starrte auf den Chat. Kein Zeichen einer Reaktion von Robert. Nach drei weiteren Zügen an meiner Zigarette fing er an zu tippen. Ja! Endlich! Nachdem ich erst von Kai und dann auch von Sascha ignoriert worden war, war es eine erwünschte Abwechslung. Robert schrieb und schrieb und danach nichts mehr. Las er drüber, bevor er es abschickte? Mittlerweile drückte ich schon meine zweite Zigarette des Abends aus, aber die Nachricht von Robert kam nicht. Vermutlich war es besser so.
Was erwartete ich mir von seiner Antwort? Eine, die Kais Verhalten erklären würde oder eine, die Annas Benehmen begründen würde? Eine Reaktion, die rechtfertigen würde, warum ich Anna betrogen hatte, mit einer Frau, die mich schon wieder ignorierte?
Ein Blitz erhellte den Nachthimmel.
Ich lachte.
Wie dumm ich bloß war. Zum Glück hatte ich nicht direkt alles mit Anna hingeschmissen. Sascha war wieder Sascha. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, herzukommen, hatte direkt Sex mit mir und verschwand danach in der Nacht. Einer Antwort fühlte sie sich nicht schuldig, obwohl ich wegen ihr meine Freundin betrogen hatte.
Ich schüttelte über mich selbst den Kopf. Das war nicht fair gegenüber Anna. Nach allem, was ihr widerfahren war, war es kein Wunder, dass sie es nicht komplett ohne Schaden überstanden hatte. Und dass sie nicht jedes Erlebnis mit mir teilen wollte.
Hatte ich ihr überhaupt je eine richtige Chance gegeben? Das enge Beisammensein nach einer so kurzen Zeit der Beziehung war womöglich keine gute Idee gewesen. Wir sollten zurück nach Hause fahren. Ich sollte Sascha einen Besuch abstatten und es mit ihr ebenso ein für alle Mal klären. Vielleicht war es Zeit, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen und nicht bloß nach außen hin so zu tun als hätte ich es im Griff.
Entschlossen ging ich ins Haus. Doch dann klingelte mein Handy. Ich blieb wie erstarrt im Wohnzimmer stehen, zog mein Smartphone aus der Tasche und sah auf den Bildschirm.Eine unbekannte Nummer. Schnell eilte ich zurück in den Garten und nahm den Anruf an.
„Hallo?", rief ich in das Telefon, um gegen das Getose des Sturms anzukommen.
„Ist hier Leon?", kam eine harsche Stimme aus dem Telefon.
„Ja. Sind Sie Ro-"
Bevor ich die Frage beenden konnte, wurde ich schon von einer wütenden Stimme unterbrochen, die ich durch den Lärm nicht ganz verstehen konnte.
„Ich weiß nicht ... blöden Scherz erlauben. Kontaktieren ... nie wieder! Ekelhaft, so ein Verhalten!"
Ich schüttelte verwirrt den Kopf. Auch wenn ich nicht alles verstehen konnte, war die Nachricht klar.
„Wie bitte? Es tut mir leid. Ich wol-"
Doch abermals wurde ich unterbrochen: „Wann ... damit auf? Nicht nur Sie. Alle Journalisten, die ... Geschichte ... die ... toten Bruder Geld verdienen wollen."Die letzten Worte hörte ich klar und deutlich. Tot? Doch schließlich fand ich meine Sprache wieder.
„Wie bitte? Ich dachte, nachdem mit Anna Schluss war, ist er ins Ausland?"
An dem anderen Ende des Telefons hörte ich ein Schnauben.
„Ja ... Annas Theorie ... sie allen erzählt. Auf einmal ... Kai nicht mehr erreichen und ... niemanden mehr Kontakt auf ... wie vom Erdboden verschluckt. In seiner Wohnung ... wie es immer gewesen ... Kühlschrank gefüllt, selbst die Waschmaschine war noch voll nasser Wäsche ... sieht doch keine Wohnung ... der plant ins Ausland zu gehen ... Geldbeutel und das Handy waren weg."
Ich hielt das Smartphone dicht an mein Ohr, drückte mit dem Finger in mein anderes Ohr, um Roberts Worten besser folgen zu können.
„Das ist jetzt ein halbes Jahr her. Er ist tot, ich weiß es einfach. Drucken Sie das. Seien Sie der Erste, der endlich die Wahrheit schreibt. Aber nerven Sie mich nicht mehr. Lassen Sie mich und meine Familie endlich in Ruhe!"
„Aber woher können Sie denn wissen, dass er tot ist? Wenn er nie gefunden wurde?"
„Ich bin sein Bruder. Ich weiß es einfach. Halten Sie sich von Anna fern!"
Und damit hörte ich nur noch das Tutututut auf der Leitung und das Krachen des Donners. Er hatte aufgelegt.

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