- Kapitel 2 -

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Müde vergrub ich das Gesicht in meinem Kopfkissen, nachdem ich meinen Wecker zum Schweigen gebracht hatte. Normalerweise würde ich jetzt „Nur noch fünf Minuten...", murmeln und weiterschlafen, was sich noch drei Mal wiederholen würde, bevor meine Mutter schließlich die Nerven verlor und mich aus dem Bett zerrte. Für gewöhnlich konnte ich es mir auch leisten zu trödeln, da mein Schulweg nur 10 Minuten zu Fuß beanspruchte. Doch heute sah die Situation ganz anders aus. Meine Schule lag nämlich nicht nur ein paar Straßen um die Ecke, sondern um genau zu sein 291 Meilen mit dem Auto. Denn das war die Entfernung zwischen meiner Heimat, einer Kleinstadt in der Nähe von Newcastle upon Tyne, und meinem neuen Zuhause, London.

Wie von selbst wanderten meine Finger zu dem Nachtkästchen neben meinem Bett. Selbst im Dunkeln ertastete ich das kühle Blatt Papier, das meine Eltern gestern so sehr in Aufruhr versetzt hatte: der Brief der Akademie.
Auf der Vorderseite stand nämlich, dass ein prominentes und einflussreiches Internat in London auf mich aufmerksam geworden war. Es wurde gewünscht, dass ich so schnell wie möglich dort anfangen sollte, sonst könnte der freie Platz an jemand anderen gehen. So war für meine Eltern schnell klar gewesen, dass sie mich schon am Montag in den nächsten Zug nach London setzen würden. Für sie war es eine einmalige Chance mich auf eine gute Schule zu bringen und deshalb waren sie aufgeregt. Ich teilte ihre Gefühle, wenn auch eher wegen der Rückseite des Briefs.
Schnell hatte ich bemerkt, dass meine Eltern diese versteckte Botschaft nicht lesen konnten. Die Tatsache, dass ich die dunkelblaue Tinte ohne Probleme erkennen konnte und sie nicht, beruhigte mich fast mehr als der Inhalt des Briefs. Ich hatte mir doch nicht alles eingebildet.
Auch jetzt ignorierte ich den Text über das erfundene Internat und drehte den Brief um.
Dort stand in verschlungenen Lettern:

"Sehr geehrte Miss Charlotte Crowe,

es freut uns sehr, dass Sie dem Angebot unserer Akademie nachkommen und auf das Arcanum wechseln. Sie hatten bereits die Ehre Bekanntschaft mit einem Teil unseres Lehrkollegiums zumachen, Miss Agatha Young.
Beiliegend werden Sie ein Zugticket finden, mit der Sie nach London gelangen werden. Im Bahnhof Paddington, ihrer Endstation, holt Sie ein Mitglied unseres Personals ab und bringt Sie zum Schulgebäude. Verschwenden Sie keinen Gedanken an Schulgelder, Ausrüstung oder die Schuluniform. All das wird ihnen bereitgestellt. Nur für private Ausflüge in die Stadt wird Ihnen empfohlen ein gewisses Budget und Zivilkleidung mit sich zu führen. Wir erwarten Sie voller Freude!



Gezeichnet, Schulleiter Arthur Graham"

Mittlerweile kannte ich die Worte schon auswendig, doch das hielt mich nicht davon ab den Brief immer wieder und wieder durchzulesen. Für den Moment war es mein einziger Anhaltspunkt. Das Einzige, woran ich mich festhalten konnte, wenn ich zu zweifeln begann.

Müde stand ich auf und zog mich an, wobei ich immer wieder über meinen bereits gepackten Koffer stolperte. Aus Gewohnheit entschied ich mich für den weiten, dunkelblauen Pullover mit den abgewetzten Ärmeln, den meine Mutter gestrickt hatte. Ich trug ihn jedes Mal, wenn ich weite Reisen vor mir hatte. Dazu zog ich meine Lieblingsjeans an, die sich immer ein wenig zu eng anfühlte, nachdem sie in der Wäsche gewesen war.
Dann machte ich mich auf in die Küche, wo bereits das Frühstück auf mich wartete.

Wie jeden Morgen las mein Vater in der Zeitung, während meine Mutter mit präziser Genauigkeit Butter auf ihr Toast schmierte.
Je älter ich geworden war, desto mehr Leute hatten mir gesagt, wie ähnlich ich meiner Mum sah, und irgendwo stimmte das auch.
Ich hatte ihre dunkelbraunen, glatten Haare, auch wenn ihre von grauen Strähnen durchzogen wurden und bis auf den Rücken reichten. Meine hingegen waren schulterlang und neben dem linken Ohr sah ein kleiner, geflochtener Zopf hervor, den ich irgendwie hübsch fand.
Wir teilten uns auch das herzförmige Gesicht und die Körpergröße (ich überragte sie nur um wenige Zentimeter). Doch das, was ich am liebsten an mir hatte, war von meinem Dad:
Die kornblumenblauen Augen und die dichten, beinahe etwas struppigen Augenbrauen.

Eben diese sahen mich gerade über die Zeitung hinweg an, während ich an meinem Kakao schlürfte.
„Und diese Leute von der Schule haben dir wirklich ein Zugticket beigelegt?", fragte er und rückte seine Brille zurecht, woraufhin ich stumm nickte.
„So, wie sie auch sollten. Immerhin haben sie gefragt, ob du auf ihre Schule wechselst und nicht andersherum.", meinte meine Mutter bitter. Ich verkniff mir ein Seufzen und biss in einen Bagel. Diese Diskussion hatten wir bereits gestern geführt.
Obwohl sie natürlich wollte, dass ich auf das Elite-Internat ging, konnte sie nicht damit aufhören, sich über solche Einrichtungen der Oberschicht auszulassen.
Ich konnte sehen, wie mir mein Dad ein verschmitztes Lächeln zuwarf, bevor er abwesend meinte:
„Sie hätten natürlich auch eine private Limousine schicken können, doch offenbar sparen sie bei unserer Charlotte."
Der Blick, den meine Mutter ihm zuwarf, hätte töten können, als sie schnappte:
„Dann solltest du dich jetzt besser ins Auto setzen, Harris, bevor sie den Zug verpasst."
Ohne Abschiedsworte katapultierte sie ihren Teller in die Spüle und verließ die Küche.

Meine Zugfahrt nach London dauerte ungefähr 4 Stunden, die ich hauptsächlich damit verbrachte aus dem Fenster zu sehen. Es war schon Mittag als der Zug endlich in den Bahnhof Paddington einrollte und ich mir meinen Koffer schnappte. Irgendwie gelang es mir das Gepäck aus dem Zug zu hieven, ohne dass ich es fallen ließ und jemanden damit erschlug. Kaum stand ich auf dem Bahnsteig, rollte der Zug hinter mir los und ich war verloren. Ich hatte keine Ahnung, was ich erwartet hatte.
Dass hier jemand stehen würde, der ganz laut "IST HIER IRGENDWO EINE HEXE, DIE AUF IHRE SCHULE WILL?", brüllte?
Eine Leuchttafel mit meinem Namen darauf? Oder ein Signalfeuerwerk?
Wie ich so da stand und wartete, hätte mir absolut alles gereicht, wenn ich bloß erlöst worden wäre.
Was sollte ich bloß tun wenn niemand auftauchen würde? Sollte ich wieder nach Hause fahren und meinen Eltern sagen, dass mich das Internat doch nicht wollte?
So langsam stieg die Angst immer weiter in mir auf, bis ich beschloss, dass ich mich jetzt zusammenreißen würde.
Energisch schnappte ich mir meinen Koffer und setzte mich auf eine der Wartebänke.

Zwei Minuten später rollte der nächste Zug in den Bahnhof ein und erneut flutete eine Menschenmasse den Bahnsteig, doch das war nicht die einzige Gemeinsamkeit mit vorhin.
Dort stand ein Mädchen und ihr leicht verlorener Gesichtsausdruck kam mir doch sehr bekannt vor.
Ihre kinnlangen, gewellten Haare waren brünett und ihre warmen, braunen Augen suchten aufmerksam die Gegend ab. Sie trug ein weißes T-Shirt, das in einem starken Kontrast zu ihrer gebräunten Haut stand. Obwohl der Frühling gerade erst begonnen hatte, sah das Mädchen aus, als hätte sie den ganzen Winter lang Urlaub an den Stränden von Nizza gemacht. Mir gefielen die schwarzen Converse und die zerrissenen Jeans, die irgendwie Retro aussahen. Ihre Haare wirbelten in die Luft, als der Zug wieder abfuhr.
Dann biss sie sich auf die Unterlippe, griff nach ihrem riesigen Koffer und setzte sich zwei Plätze weiter auf die gleiche Bank wie ich.

Arcanum - die Akademie der HexenkunstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt