Kapitel 13

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„Charlie, hörst du mir überhaupt zu?"
Erschrocken sah ich auf und blickte in das Gesicht von Jake, der neben mir an der Wand lehnte. Wir warteten gerade vor dem Gewächshaus, bis Professor Blackwood endlich kam, um die Tür aufzusperren. Kräuter- und Pflanzenkunde fand nämlich nicht in einem der normalen Klassenzimmer statt, sondern in dem Glashaus, das an den Hinterhof der Akademie angeschlossen war. Da alle unsere Stunden dort nach dem Mittagessen stattfanden, brauchte die Blackwood meistens ein wenig, bis sie schließlich auftauchte. 

„Sorry, was hast du gesagt?", fragte ich und sah ihn entschuldigend an. Belustigt hob Jake die Augenbrauen:
„Ich hab' gefragt, ob du schon jemanden für das Projekt bei Graham hast. Wir müssen da Partnerarbeit machen, also dachte ich..."
„Hä? Und warum fragst du nicht James oder Evan?", hackte ich mit gerunzelter Stirn nach, während ich auf der Linie zwischen den Kopfsteinpflaster-Steinen herumbalancierte.
„James hat sich Dylan gekrallt, wahrscheinlich weil er dann die ganze Arbeit macht. Und Evan wollte glaube ich Florence fragen oder so.", erklärte er und steckte die Hände in die Hosentaschen.
„Also bin ich übriggeblieben?", lachte ich und blieb auf einem Fuß stehen, während ich mir den nächsten Schritt überlegte.
„Aber... das hab' ich doch gar nicht gesagt! Was redest du denn da? Ich wollte dich sowieso schon gestern nach dem Abendessen fragen, aber du warst so schnell weg!"
Schuldbewusst war ich stehengeblieben. Mit gestern Abend hatte er Recht.

Der Gedanke an den Umschlag und seinen Inhalt hatte mich bald wieder nach oben getrieben. Verzweifelt hatten Florence und ich versucht uns davon zu überzeugen, dass sich nur jemand einen Scherz mit mir erlaubte. Doch trotzdem spürten wir beide die Bedrohlichkeit, die von dem mystischen Umschlag ausging, weshalb wir Debbie und Sam nichts davon erzählten. Noch gab es keinen direkten Grund zur Beunruhigung.
Und nun, unter dem offenen Himmel und weit weg von den düsteren Gedanken, die mich seit gestern nicht losließen, glaubte ich mir sogar fast. Aber eben nur fast.
Denn der Schnitt auf meinem Handrücken tat immer noch weh.

Ich atmete tief durch, dann hob ich meinen Blick. Jake sah mich immer noch wartend an, die grauen Augen, in denen sich das Licht fing, regungslos auf mich gerichtet. Manchmal hat London diese Tage, die verregnet anfangen, bis schließlich einzelne Sonnenstrahlen die Wolkendecke durchlöchern und alles in ein unwirkliches, silbernes Licht tauchen.
Ungefähr so sahen meine Gedanken aus, als ich ihm in die Augen schaute. Das und...
„Eleonor Rigby. Von den Beatles."
Jake sah gleichzeitig irritiert und amüsiert aus, doch immerhin nicht annähernd so verstört, wie ich erwartet hatte:
„Was?"
„Eleonor Rigby klingt so wie deine Augen aussehen."
Lachend fuhr er sich durch die Haare, doch es war kein böses Lachen. Jake grinste von einem Ohr zum anderen, als er antwortete:
„Das ist mit Abstand das kreativste Kompliment, das ich jemals bekommen habe. Aber nochmal zurück zum Thema: sind wir ein Team?"
Erleichtert nickte ich.

Nach dem Unterricht hatten wir jedoch keine Zeit für Hausaufgaben, denn Emily Smith und Connor Fox zitierten uns zu einer Besprechung in Emilys Zimmer. Anscheinend hatten die beiden endlich den Direktor überzeugt und durften sich an die Planung des Theaterstücks machen.

„Ich habe das Gefühl, dass wir uns damit in eine ganz schön aufwendige Sache reingeritten haben.", stellte Sam zweifelnd fest, während wir Emilys Zimmer suchten. Sie war eine Drittklässlerin und wie uns Agatha schon am ersten Tag erklärt hatte, lagen die Zimmer der Drittklässler im Ostflügel des vierten Stocks.
„Ach was, Sammy! Das wird bestimmt lustig!", meinte Debbie und hüpfte elegant die Stufen hinauf. Sie schwärmte uns schon seit Tagen vor, wie sehr sie das Theater liebte, weshalb ich es ihr wirklich gönnte, dass es heute begann.
„Okay, Emily hat Nummer 4 gesagt. Nummer 4, Nummer 4, ... Ah, hier!"
Triumphierend deutete Florence auf die Tür ganz am Ende des Ganges, woraufhin ich beherzt anklopfte.
Emily öffnete schon Sekunden später, die Wangen vor Freude gerötet:
„Kommt rein, wir warten schon!"

Die Zimmer der Drittklässler unterschieden sich tatsächlich um einiges von unseren. Wahrscheinlich könnte man es so beschreiben, dass die Zimmer unter dem Dach gemütlicher und heimeliger wirkten, während die der Älteren aufs Lernen ausgelegt waren. Es gab mehr Privatsphäre für die Bewohner, da die Lernbereiche abgetrennt waren, und alles war luftiger und geräumiger.
Connor saß bereits auf einem der Stühle, während außer uns und Emily nur noch zwei weitere Mädchen hier waren, die ich schon öfter mit ihnen gesehen hatte.
Als nächstes trudelte June mit einem strahlenden Lächeln ein, während Erika, die sie im Schlepptau hatte, nicht ganz so begeistert aussah. Außer ihnen trafen noch ein paar ältere Schüler ein, die ich nicht kannte, und schlussendlich auch Dylan, dem seine Freunde folgten.
Wir alle hatten uns über das ganze Zimmer verteilt, als Connor schließlich aufstand und das Wort ergriff:
„Hey Leute! Schön, dass ihr alle da seid! Wir haben endlich die Bestätigung von Direktor Graham bekommen und dürfen unser Theaterprojekt umsetzen. Der Anlass unserer Aufführung werden übrigens die Mittsommer-Festivitäten sein!"
Sofort begannen die älteren Schüler anerkennend zu tuscheln, scheinbar war das etwas Gutes. Wir Erstklässler hatten jedoch keine Ahnung was das bedeutete. Zögerlich meldete sich schließlich June, wofür wir wahrscheinlich alle dankbar waren:
„Connor, was sind denn die Mittsommer-Festivitäten?"
Zerstreut sah er von uns zu Emily, dann schlug er sich mit der flachen Hand gegen die Stirn:
„Natürlich, das hat euch noch niemand erklärt.
Wie ihr ja sicher wisst, gibt es sehr viele heidnische Bräuche und Feste in den verschiedensten Kulturen. Ein paar von ihnen haben tatsächlich Recht mit der Zeit, an denen diese Feiern stattfinden, und sie sind auf irgendeine Weise magisch. Beispiele dafür wären unter anderem Mittsommer, an dem sich besonders leicht Fruchtbarkeitsrituale, Jugendzauber oder Traumvorhersagen durchführen lassen. Die Sommersonnenwende ist übrigens in den meisten Fällen am 21. Juni, dort ist die Nacht am kürzesten und der Tag am längsten.
Die Akademie feiert Mittsommer immer auf dem Landsitz einer der Professorinnen und es gibt immer ein riesiges Fest. Dort dürfen wir jedenfalls unser Stück aufführen."

Nun ergriff Emily das Wort, während sie einen wackeligen Stapel kleiner, dunkelblauer Heftchen auf ihrem Arm balancierte:
„Ich habe es eh jedem von euch erzählt, wir führen eine eigene Version des trojanischen Kriegs auf! Connor und ich haben uns alle Mühe gegeben, dass es gleichzeitig verständlich, aber auch sehr originaltreu bleibt. Außerdem hätten wir schon Besetzungswünsche! Aber die Entscheidung, wen ihr spielen wollt, ist natürlich trotzdem euch überlassen."

Dann teilte sie die Heftchen aus, auf deren Vorderseite in hellen Lettern
„Der Trojanische Krieg – eine Aufführung des Arcanums" gedruckt war. Anerkennend blätterte ich ein wenig hinein, während Flo neben mir die Figurenübersicht studierte.
„Welche Figur hat denn eher weniger Text?", fragte Sam und musterte verängstigt einen Monolog, der fast zwei Seiten einnahm.
„Für dich haben wir uns schon etwas überlegt!", meinte Connor und grinste verschwörerisch.
„Da wäre die Amazonen-Königin Penthesilea, die perfekt zu dir passt. Sie ist eine Tochter des Kriegsgottes Ares und unterstützt Troja. Kurz zusammengefasst: Sie kämpft, sie stirbt durch Achilles' Speer, sie ist selbst nach ihrem Tod so schön, dass er sich in sie verliebt. Ganz wenig Text und du kommst nicht lange vor, dafür bist du ziemlich cool.", erklärte Emily, woraufhin Sammy interessiert das Heftchen durchsuchte.
„Wir haben jedoch ein Problem! Keiner von uns hat eine Idee wer die Helena spielen könnte. Gibt es denn irgendjemanden, der interessiert ist?"
Dramatisch meldete sich James:
„Wenn es niemand sonst tun will, dann mache ich es halt! Ich bin sowieso das hübscheste Mädchen hier."
Alle lachten, doch Connor antwortete bloß grinsend:
„Nein, Darwin. Für dich ist eine andere Rolle vorgesehen."
Plötzlich hob June ihre Hand, woraufhin das Gelächter sofort verstummte:
„Du willst es machen?", fragte Emily hoffnungsvoll, doch sie schüttelte bloß ihren Kopf.
„Nein, ich wollte jemanden vorschlagen. Würde nicht Debbie perfekt auf die Rolle passen?"
Augenblicklich waren alle Blicke auf Debbie gerichtet, die leicht schockiert und mit roten Wangen auf ihr Heftchen starrte:
„Ich bin mir nicht sicher, so weit habe ich gar nicht gedacht..."
„June, du hast Recht! Die Helena passt perfekt zu ihr!", unterbrach sie Dylan und lächelte die Rothaarige an.
Und aus irgendeinem Grund war das zu viel für Debbie. Ihre Augen schwammen in Tränen, als sie aufstand und mit wenigen Schritten bei der Tür war. Unisono erhoben sich auch Sam, Flo und ich, offenbar musste da jemand über seine Gefühle sprechen.
„Macht ruhig ohne uns weiter, wir kommen gleich wieder!", rief ich noch über die Schulter, als wir das Zimmer verließen und Debbie nachliefen, die ich ein Stockwerk über uns Schluchzen hörte.

Als wir unseren Schlafraum betraten, irrte mein Blick sofort zum Bett, in der Erwartung einen weiteren Umschlag zu sehen. Doch meine Angst war unberechtigt, dort war keine neue Botschaft. Also konnte ich mich getrost mit den anderen vor das Badezimmer stellen, in dem sich Debbie eingesperrt hatte.
„Hey, alles in Ordnung?", fragte Sam ungewohnt sanft, doch als Antwort ertönte nur ein leises Schnauben, als sich meine Freundin die Nase putzte.
„Komm, lass uns rein, Debbie! Wir können über alles reden.", versuchte Flo sie zu ermuntern und tatsächlich drehte sich zögerlich der Schlüssel im Schloss.
Im Türrahmen stand Debbie, die Nase leicht gerötet und über ihre Wangen liefen Tränen.
„Was ist denn los?", fragte ich, als Sammy sie in den Arm nahm.
„Es ist wegen Dylan!", schluchzte sie, woraufhin ich einen erstaunten Blick mit Flo austauschte.
„Bist du in ihn verknallt?"
„NEIN, bist du wahnsinnig!? Doch nicht in ihn!"

„In wen denn dann?", hackte Florence gefühlvoll weiter nach, worauf jedoch nur weitere Tränen
folgten.
„In James? Oder Evan? Jake? Warte, wer ist denn noch übrig...", riet ich weiter, und bei dem entsetzten Blick, den mir Debbie zuwarf, war ich entweder sehr nah dran oder sehr weit entfernt.
„Oh nein.", meinte Flo plötzlich leise und ihr Gesicht nahm einen mitleidigen Ausdruck an, während Sammy Debbie unbeholfen über den Rücken streichelte.
„Hat der Grund, weshalb du weinst, vielleicht rote Haare?"
Immer noch tränenüberströmt nickte Debbie verhalten.
„Du hast dich in PROFESSOR GRAHAM VERLIEBT?", brüllte ich und Sam fiel die Kinnlade runter.
Flo sah mich an als wäre sie geradezu beeindruckt davon wie falsch meine Schlussfolgerung war:
„Nein, du Blitzmerkerin! Sie ist verknallt in June!"


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