Kapitel 31

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Etwa fünf Minuten blieb ich in der Schultoilette und saß auf dem geschlossenen Klodeckel, während ich die weißgeflieste Wand gegenüber anstarrte.
Jake hatte mich tatsächlich geküsst.
Es war mein erster Kuss gewesen, zumindest mein erster richtiger. Und tatsächlich bereute ich ihn nicht, es hatte sich gut angefühlt. Doch trotzdem fühlte ich mich nicht wohl mit der ganzen Sache und den vielen Fragen, die damit aufkamen. War man automatisch ein Paar, wenn man sich geküsst hatte? Nein, das bestimmt nicht. Aber selbst wenn es so wäre, würde es mir gefallen?
Ich hatte keine Lust darauf mich mit all diesen Problemen zu befassen oder sogar mit Jake darüber zu reden, also tat ich das wahrscheinlich Dümmste in dieser Situation:
Ich beschloss, diese Angelegenheit so lange zu ignorieren, bis sie sich von selbst erledigte. 

Also warf ich einen letzten Blick in den Toilettenspiegel und atmete ein letztes Mal tief durch, um mir selber Mut zu machen. Dann lief ich zurück zu Professor Finchs Klassenzimmer. Anders als erwartet sah ich jedoch nicht nur Jake, als ich die Tür aufzog, sondern ebenso den Lehrer, der sich wieder hinter sein Pult geklemmt hatte. 
Er nickte mir freundlich zu, während ich zu meinem Platz lief und es dabei fieberhaft vermied in Jakes Richtung zu blicken. 
Verkrampft zog ich einen der Zettel heran und versuchte die krakelige Schrift zu entziffern, auch wenn ich mich wirklich nicht besonders gut konzentrieren konnte. Nach ein paar Minuten wagte ich es einen Blick hinüber zu Jake zu werfen. Er arbeitete konzentriert und scheinbar problemlos an seinen Dokumenten, außerdem fiel mir auf, dass er seine Haare wieder in Ordnung gebracht hatte. Absolut nichts an seinem Gesichtsausdruck wies auf das hin, was vor wenigen Minuten passiert war.

 Es hatte sich eine so unangenehme Stille über das Zimmer gelegt, dass selbst Finch den plötzlichen Umschwung bemerkt hatte. Unsicher blickte er von Jake zu mir, dann von mir zu Jake, wobei sein Blick ein wenig an den eines verschreckten Kaninchens erinnerte. 
"Ist irgendetwas vorgefallen, während ich weg war?", fragte er schließlich, woraufhin ich den Kopf schüttelte und Jake so entschieden "Nein, nicht im geringsten.", antwortete, als ob er damit wegwischen wollte, was wirklich geschehen war. 
"Na, dann ist ja alles gut!", plapperte Finch erleichtert, sah jedoch immer noch besorgt aus, als er fortfuhr:
"Sie beide gehören doch zur Theatergruppe, nicht wahr? Ich habe nämlich von Ihrem Projekt gehört und mich ein wenig umgehört, es gibt neben der Bibliothek ein paar ungenützte Räumlichkeiten! Sie stehen unter meiner Verwaltung, also habe ich mit Mr. Connor gesprochen, dort werden sie von nun proben!"
"Davon hat uns noch niemand etwas gesagt.", schnitt ihm Jake das Wort ab, woraufhin ich ihm einen wütenden Blick zuwarf und versöhnlich meinte:
"Aber vielen Dank, Professor! Das klingt wirklich wunderbar; es ist sehr nett, dass Sie sich solche Mühen machen." 
Finch nickte und widmete sich dann wieder seinen Pergamenten, woraufhin ich es ihm gleichtat. Warum musste bloß alles immer so kompliziert sein?

Nachdem das Nachsitzen beendet war, verließ ich meinen Platz so schnell wie möglich, um genug Vorsprung zu haben und nicht mit Jake reden zu müssen. Als ich den Gang erreicht hatte, rannte ich beinahe und betete inständig zu allen Göttern, die gerade verfügbar waren, dass mich Jake in diesem Moment nicht von hinten sah. Schon die ganze Zeit hatte ich das dringende Bedürfnis mit Florence zu reden, also beschloss ich meine Freundin zu suchen. Ich fand sie in unserem Zimmer, wo sie und die anderen gerade Besuch von Clover und June hatten. Deshalb verschob ich meinen Bericht über dieses ereignisreiche Nachsitzen auf später und ließ mich auf mein Bett fallen.

Von dort war Clover gerade wie von der Tarantel gestochen aufgesprungen, doch ich bedeutete ihr nur resigniert sich wieder zu setzen.
"Was macht ihr denn gerade?", fragte ich interessiert und streichelte Ginger, der auf Clovers Schoß saß, woraufhin Flo zur Antwort mit dem dunkelblauen Theaterskript in ihrer Hand wedelte:
"Wir lernen, weil heute noch eine Probe ansteht. Und so langsam kommen wir sogar voran!"
"Zumindest einige von uns.", fügte June hinzu und lächelte traurig.
Ich hatte schon bei den letzten Proben mitbekommen, dass das Auswendiglernen der Dialoge nicht ihre Stärke war, doch bis jetzt hatte sie immer darüber gelacht.
"Aber wir machen doch Fortschritte!", versuchte Debbie sie aufzumuntern und sah hinter ihrem Skript hervor.
"Bestimmt denken Connor und Emily, dass ich gar nicht geübt habe.", gab June leise zurück, woraufhin mich das schlechte Gewissen erwischte. Ich lernte nur sehr selten und konnte wahrscheinlich schon mehr von fremden Textausschnitten auswendig, als sie von ihren eigenen.
"Mach dir keine Sorgen, im Notfall sagen wir dir die schwierigsten Zeilen einfach vor.", meinte Sammy zuversichtlich, die wieder einmal unter der Decke schwebte.
"Genau, außerdem hast du noch ein bisschen Zeit bis zur Aufführung.", stimmte Flo zu, während Clover heftig nickte und Ginger schnurrte. 

Wir wurden von einem Klopfen an der Tür unterbrochen, gefolgt von James, der seinen Kopf hineinstreckte:
"Hallo Ladies! Ich soll euch von Connor ausrichten, dass wir jetzt in unserem eigenen Theaterraum proben, Treffpunkt ist vor der Bibliothek!"
"Warte, was?", fragte Flo überrascht und runzelte die Stirn, doch James zuckte bloß mit den Achseln und schob die Hände in die Taschen:
"Ich weiß auch nicht mehr, sorry."
Doch ich war bei dieser Nachricht hellhörig geworden:
"Das hat Finch vorhin im Nachsitzen erzählt, er will uns ein paar ungenutzte Räume benutzen lassen!"
Anerkennend hob James seine Augenbrauen:
"Cool von ihm!"

"Ich bin so gespannt, wie es dort aussieht!", schwärmte Debbie gedankenversunken und drückte sich das Textbuch an die Brust, "Vielleicht wie in einem richtigen Theater!"
Wir warteten nun schon fünf Minuten lang vor der Bibliothek, was meiner verträumten Freundin Zeit genug gegeben hatte, um sich die schönsten Räumlichkeiten der Welt auszumalen.

"Wahrscheinlich isses bloß 'ne staubige Abstellkammer, wo der Alte seine Pornohefte versteckt.", erwiderte einer der älteren Schüler dümmlich lachend. 
Sofort war Debbie verstummt und um mindestens fünf Zentimeter geschrumpft, ich konnte ihr ansehen, dass sie gerade jedes ihrer Worte bereute. Doch bevor ich etwas sagen konnte, klopfte ihr bereits Dylan unbeholfen auf die Schulter und meinte leise:
"Es ist ein richtiges Theater wenn wir es zu einem machen, also brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Wäre nur dieser Troll dafür verantwortlich, könnten wir gleich aufgeben, aber wir haben ja dich."
Debbie lächelte dankbar zurück und sah immer noch ein wenig blass aus, aber sie freute sich offensichtlich über seine Worte. 

"Sie verstehen sich gut, nicht wahr?"
Überrascht wandte ich mich nach links und blickte in Junes Gesicht, die ein wenig entfernt von mir an der Wand lehnte. Sie sah unzufrieden aus.
"Debbie und Dylan?", fragte ich verwirrt und schlenderte hinüber zu ihr, woraufhin sie langsam nickte. 
"Naja...,", fuhr ich fort, "Ich glaube schon, dass sie sich mögen. Wieso fragst du?"
Junes rote Haare fielen wie ein Schleier über ihr Gesicht und sie schwieg, doch als ich noch einen Schritt näher trat, hätte ich schwören können, dass sie sich in diesem Moment verwandelte.
Sie schüttelte ihre Haarmähne, straffte ihre Haltung und hob ihr Kinn, um mich dann mit blitzenden Augen anzusehen:
"Ich war nur neugierig!"
Ein charmantes Lächeln umspielte ihre Lippen und sie ging mit großen Schritten zu Clover hinüber, die neben dem Eingang der Bibliothek wartete, mich ließ sie dabei sprachlos zurück.

Doch bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, wurde ich von lauten Rufen abgelenkt, die offensichtlich Connor und Emily galten. Sie liefen gerade auf unsere Gruppe zu und wirkten wie immer so gestresst, als hätten sie einen volleren Terminkalender als der Primeminister höchstpersönlich. 
Ohne Fragen zu beantworten, gingen sie ohne sich aufhalten zu lassen auf eine unscheinbare Tür weiter den Gang hinab zu, die Emily mit einem kleinen, goldenen Schlüssel aufschließen wollte.
Sofort strömten die Schüler darauf zu und ich spürte, wie ich von hinten weiter nach vorne geschoben wurde. Unbequem wurde ich gegen die Wand gedrückt und wäre beinahe hingefallen, weshalb ich blind nach irgendetwas griff, woran ich mich festhalten konnte. 

Ich spürte Stoff unter meinen Fingern, dann eine zarte, kühle Hand, die nach meiner griff. Peinlich berührt richtete ich mich auf und stand überrascht Clover gegenüber, die mich wieder auf die Beine gezogen hatte.
Sie pustete sich eine braune Haarsträhne aus dem Gesicht, während ich auf unsere Finger hinabsah, die immer noch ineinander verschränkt waren. Ich konnte Rufe hören, offenbar klemmte die Tür, was auch der Grund dafür war, warum der Stau überhaupt entstanden war. 
Erst als sich Connor mit einem RUMMS dagegen schmiss und der Türrahmen knarzend nachgab, stolperten die Ersten in den neuen Theaterraum. Kaum hatte sich der Tumult wieder aufgelöst, ließ Clover meine Hand los und blieb ein wenig zurück, während ich endlich Flos Haarschopf wenige Meter vor mir identifiziert hatte.
"Danke!", meinte ich im Vorbeigehen zu Clover und grinste, da sie von dem Gedränge vorhin rosa Flecken auf den Wangen hatte.




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