Obwohl ich bereits vor der Tür gestanden hatte, kehrte ich nicht in das Zimmer der Jungs zurück. Es war ein plötzlicher Impuls gewesen, dem ich nachkam, als ich die Zimmertür unseres Schlafsaals aufdrückte.
Für längere Zeit hatte ich überlegt, ob ich die Umschläge des Unbekannten mitnehmen sollte, doch da ich sie nicht bei mir zu Hause haben wollte, lagen sie immer noch in einer meiner Schreibtisch-Schubladen. Bevor ich mich jedoch auf den Heimweg machte, beschloss ich noch einen letzten Blick darauf zu werfen.Sie lagen dort, wo ich sie zuletzt verstaut hatte: vier Umschläge aus braunem Packpapier, drei davon mit einer Nachricht. Behutsam hob ich sie heraus und legte sie auf meinem Bett ab. Ich musste mich einfach vergewissern, dass ich nichts übersehen hatte, bevor ich fuhr.
Der Inhalt war derselbe geblieben, zu jeder Nachricht kam eine Spiegelscherbe und in dem leeren Umschlag war das Springmesser von Jack the Ripper gewesen. Außerdem waren da die Fotos, auf denen meine schlafenden Zimmernachbarinnen abgebildet waren.
Mit gerunzelter Stirn hob ich die Scherben hoch und betrachtete die Kanten. Sie waren glatt und ebenmäßig, beinahe so als könnten sie zusammenpassen.
Vorsichtig schob ich sie auf der Oberfläche einer der Umschläge herum, bis sich die Teile zusammenfügten. Der Spiegel war etwa so groß wie meine Handfläche und viereckig.
Mein Gesicht spiegelte sich darin, überzogen von den Rissen, wo der Spiegel gebrochen war.
Der Spiegel.Plötzlich wurde mein Mund sehr trocken, als ich mich langsam umdrehte und in den Spiegel sah, der gegenüber des Bettes an der Wand lehnte. Da war diese Ahnung, dieses ungute Gefühl, dass ich der Sache auf der Spur war. Die Lösung lag vor mir.
Mit langsamen Schritten ging ich auf den Spiegel zu, der kalt und glatt vor mir stand, beinahe wie ein Fenster. Ich streckte die Hand aus und meine Finger berührten die Oberfläche.
"Siehst du mich?", fragte ich, während sich die Angst in mir immer weiter in meine Eingeweide fraß.
"Bitte nicht.", dachte ich mir, "Bitte, bitte, bitte lass es nicht so sein."
Für einen Moment lang war ich mir sicher gewesen, dass ich falsche Vermutungen gehabt hatte. Doch dann sah ich hinauf zur Kante des Spiegels und mir entwich beinahe ein Schrei.
Über die Oberfläche lief langsam aber stetig ein Tropfen Blut. Er teilte sich auf, zerlief und bildete ein Muster: es sah aus wie ein Spinnennetz.
Wie erstarrt verfolgte ich ihn mit meinem Blick, während das Blut über die Reflexion meines Gesichts lief. Ich hatte Recht gehabt.Die Übelkeit kam so schnell, dass ich nur gerade so den Mülleimer erreichen konnte. Völlig elend zumute erbrach ich mich, um mich dann nach einem Blick zum Spiegel ein weiteres Mal zu übergeben. Wie auch immer er es geschafft hatte, dieser Fremde hatte uns belauscht.
Obwohl ich das Gefühl hatte meine Beine nicht bewegen zu können, raffte ich mich auf und schleppte mich hinüber zur Tür. Ich musste zu den anderen, sie warnen und aufklären.
Doch als ich die Tür aufriss, saß dort nur Evan, der in seinem Buch las. Schockiert musterte er mich, während ich mir über den Mund wischte.
"Es sind die Spiegel!", heulte ich und zog ihn hoch, um ihn hinüber in unser Zimmer zu zerren.
"Charlie, ich verstehe nicht was du meinst!", antwortete er, doch seinem alarmierten Gesichtsausdruck nach verstand er, dass die Situation ernst war.
Mit klopfendem Herzen deutete ich anklagend auf den Spiegel, der immer noch blutete.
"Du bist da drin, nicht wahr?", brüllte ich, während Evan auf der Stelle blass wie die Wand hinter ihm geworden war.
"Was?", fragte er leise, woraufhin ich immer hysterischer wurde:
"Ich weiß nicht wie, aber er muss da drin sein! Er hat sie verhext!"
Einer plötzlichen Erkenntnis nach griff ich mir den obersten der Umschläge und hätte mich fast ein weiteres Mal übergeben, als ich die Nachricht durchlas. Es hatte seit dem Anfang an vor uns gestanden:
"Die Spinnenfäden haben ein glattes Netz gewoben. Entwirr' es und fang mich doch!
Evan, er muss uns die ganze Zeit über gesehen haben!"
"Verdammte Scheiße!", entfuhr es Evan, der sich immer weiter von dem Spiegel entfernte.
"Was zur Hölle willst du?", schrie ich erneut, doch alles was ich sah, war meine eigene Reflexion.
...die gerade den Arm hob.
Unter Schock stolperte ich nach hinten, als die Charlie im Spiegel grinsend begann mit dem Finger in das blutige Spinnennetz zu schreiben. Mit immer größer werdendem Schrecken entzifferte ich, was dort hingeschmiert wurde:
"FANG MICH DOCH! SONST WIRD SIE BLUTEN!"
Mir wurde eiskalt, als ich mich zu Evan umdrehte:
"Wo ist Florence?"
Er starrte zurück und sah aus, als würde er sich ebenfalls gleich übergeben.
"WO IST FLO?", brüllte ich nun, woraufhin er schluckte und heiser meinte:
"Sie will das Buch zu meiner Tante zurückbringen, das sie sich geliehen hat."
Entgeistert drehte ich mich zum Spiegel um, wo die andere Charlie immer noch grinste.
Mit einem Schritt stand ich vor ihr und schlug ihr so fest ich konnte ins Gesicht, woraufhin der Spiegel mit einem lauten Krachen zerbrach. Stechender Schmerz schoss in meine Hand, während mir ein Keuchen entfuhr.
Die Splitter und Scherben flogen durch die Luft und landeten klirrend auf dem Boden, doch wo ich hinsah, klebte Blut und grinste mich die Spiegel-Charlie an.Ich begann zu hyperventilieren, als mich Evan am Arm hochriss und mit sich zog, hinaus durch die Tür und die Treppe hinunter. Mir wurde schon wieder schlecht, doch ich konnte ihn nicht bitten stehen zu bleiben.
Wir rannten mehrere Treppen hinab und dann einen Gang entlang, als er plötzlich vor einer Tür Halt machte. Mit einem kräftigen Tritt öffnete er sie und ich erkannte, dass wir in Agathas Büro standen.
"Agatha? AGATHA?!", rief Evan laut und klang immer panischer, als keine Antwort ertönte.
"Sie ist nicht hier!", schrie ich und lehnte mich an die Tür, da ich sonst gestolpert wäre.
"Wir... Wir müssen da hin, so schnell wie möglich.", keuchte er verzweifelt, während ich mich am liebsten auf den Rücken geworfen und geschrien hätte. Doch es ging um Florence.
"Ich vertraue hier sonst niemandem.", schluchzte ich, während ich versuchte mich wieder unter Kontrolle zu kriegen. Ich atmete tief ein und aus, dann fragte ich:
"Wie lang ist sie schon weg?"
Das war etwas, worauf sich Evan konzentrieren konnte, denn ich spürte, dass er ruhiger wurde. Er dachte nach und sah auf die Uhr, dann meinte er:
"Vielleicht eine Viertelstunde?"
"Und wie lang braucht man bis zum Museum?"
"Eine halbe Stunde, wenn sie mit dem Bus gefahren ist."
"Wir müssen sie irgendwie vorher abfangen!", rief ich und versuchte nicht allzu panisch zu klingen. Ich hatte keine Ahnung, wie wir so schnell London durchqueren konnten.
"Charlie, mir fällt nichts besseres ein!", antwortete er und seine Stimme zitterte, "Wir müssen fliegen!""Leute, was ist los? Man hört euch bis zur Treppe hin herumbrüllen!"
Es war Dylan, der plötzlich in der Tür zu Agathas Büro stand und uns verstört ansah. Sein Anblick war so unerwartet, dass ich kurz aufhörte zu heulen.
"Ist alles in Ordnung?", fragte er weiter und klang sogar irgendwie mitfühlend, während ich völlig ahnungslos war, wie ich damit umgehen sollte. Deshalb war ich Evan so dankbar, als er zu ihm hinüberlief und ihn an den Schultern packte.
"Hör mir gut zu.", murmelte er, "Du musst Agatha finden und ihr sagen, dass wir im Museum of London sind. Es geht um Leben und Tod, sie muss auf alles vorbereitet sein. Derjenige, für den der Talisman war, hat Florence."
Dylan nickte, während ihm das Blut aus dem Gesicht wich:
"Heißt das, Flo ist in Gefahr?"
"Evan, WIR MÜSSEN LOS!", hetzte ich ungeduldig, während ich Agathas Schränke nach den Besen durchsuchte.
"Ja, sie ist in Gefahr. Also finde Agatha bitte so schnell wie möglich!", schärfte ihm Evan ein, um ihn dann von sich zu stoßen.
"Hast du die Besen?", fuhr er mich an, woraufhin ich immer panischer den Kopf schüttelte.
"Ich weiß nicht wo sie sind!", schluchzte ich, woraufhin sich Dylan vorsichtig meldete:
"Dort oben auf dem Schrank sind die Besen! Die sucht ihr doch, oder?"
Erleichtert keuchte ich auf.
Es konnte losgehen.Ich stieß das nächstbeste Fenster auf und schwang mich auf den Besenstiel, um dann in die Luft aufzusteigen. Es gab keine Zeit zu verlieren. Normalerweise wären wir niemals so halsbrecherisch geflogen, dafür war der Respekt vor der Höhe zu groß. Doch gerade herrschten keine normalen Umstände. Da Evan Ortskenntnisse hatte und sein geographisches Gedächtnis besser war als meins, flog er voraus und ich folgte ihm.
Wir mussten verhältnismäßig hoch fliegen, damit uns niemand als Menschen auf Besen erkannte, doch jede weitere Minute machte die Situation nur noch schlimmer für mich.
Denn nun konnte ich nachdenken.
Wie sicher wussten wir überhaupt, dass Florence in der Gewalt des Unbekannten war? Hatte er uns nur verarscht? Und hätten wir auf einen Lehrer warten sollen, der uns half?
Aber die Frage, die am häufigsten wiederkehrte, war auch die, die mich am meisten zerfraß:
Waren wir längst zu spät, um Florence zu retten?Die Landung war riskant, es war immer noch viel zu hell, um unauffällig über der Stadt zu kreisen. Doch es schien Regen aufzukommen, was es uns ein wenig leichter machte. Evan hatte auf eine Seitengasse zugesteuert, die von oben aus sehr wenig besucht wirkte. Ich schlug hart auf das dreckige Pflaster auf und schlug mir beinahe den Kopf an einer Mülltonne an, als wir landeten. Evan stellte sich nur geringfügig geschickter an, doch es gab keine Zeit für Feinheiten. So schnell wie möglich rappelten wir uns wieder auf und liefen so unauffällig, wie es halt mit zwei Besen unter dem Arm ging, in die Richtung des Museums.
"Es ist ziemlich leer, findest du nicht?", fragte ich Evan misstrauisch, als wir uns immer weiter dem Eingang näherten. Er runzelte die Stirn und nickte. Es war nicht zu leugnen, dass es bei unserem letzten Besuch um einiges überfüllter gewesen war.
Und tatsächlich: auf der Eingangspforte prangte ein Schild, auf dem dick und fett "GESCHLOSSEN" geschrieben war.
Doch mir gefiel die Farbwahl der Schrift nicht. Böses ahnend streckte ich den Arm aus und berührte die Farbe mit den Fingerspitzen, nur um wie von der Tarantel gestochen zurückzuzucken.
"Das ist Blut!", murmelte ich panisch und mir stiegen wieder Tränen in die Augen, während Evan verzweifelt gegen die Tür trat.
Wir waren zu spät.
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Arcanum - die Akademie der Hexenkunst
FantasyAgatha Young sah mich nachdenklich an, dann blickte sie um sich und zog mich zu einem der Fenster. Mit einem Satz saß sie auf der Fensterbank und bedeutete mir es ihr gleichzutun. Also kauerte ich mich neben sie, woraufhin sich die Frau räusperte un...