Kapitel 15

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Ich wusste, dass in meinem Zimmer ein weiterer Umschlag warten würde.
Ich wusste es einfach. 
"Mir ist ein bisschen schlecht, ich glaube ich gehe lieber nach oben.", murmelte ich und stand auf, woraufhin sich Flo ebenfalls erhob. 
"Sollen wir auch mitkommen?", fragte Debbie besorgt, also rang ich mir ein angestrengtes Lächeln ab und meinte beschwichtigend:
"Keine Sorge, so ernst ist es nicht. Bleibt ruhig hier, wir kommen nachher wieder zurück."
Sam, die bereits halb aufgestanden war, ließ sich wieder auf ihren Stuhl sinken und Debbie widmete sich erneut ihrem Heftchen. 

Mein Magen verkrampfte sich, als Flo und ich schweigend die Treppenstufen zum obersten Stockwerk hinaufstiegen. Sie hielt die Zeitung immer noch verkrampft in der Hand, während ich versuchte, mich zu beruhigen. Vielleicht war ich ja auch bloß paranoid.
Doch die Zeilen des Gedichts, das auf dem vergilbten Zettel gestanden hatte, gingen mir nicht mehr aus dem Kopf:

"Die Spinnenfäden haben ein glattes Netz gewoben.
Entwirr' es und fang mich doch!
Die kanonischen Fünf waren der Anfang, doch bald schon folgt Nummer Sechs und reiht sich ein.
Sie hat so eine liebliche Singstimme, nur eine Schande, dass sie nicht ihr eigen ist!
Lausche, was die Vögel zwitschern, und du wirst die Essenz der Wahrheit sehen."

"Sie war Sängerin, also hat sich der Teil mit der Singstimme schon mal erfüllt. Außerdem ist sie die Nummer 6 und folgt den kanonischen Fünf.", stellte ich überflüssigerweise fest, als wir in den Gang einbogen.
"Am liebsten würde ich das alles so interpretieren, dass es dich nichts angeht. Aber es ist schwer die Ähnlichkeit zu leugnen... Oh nein!", rief Florence aus, als ich die Tür aufstieß und wir das Zimmer betraten.
Der Umschlag auf dem Bett stach einem selbst ins Auge wenn man nicht danach suchte. 
Langsam lief ich darauf zu und registrierte im Vorbeigehen, dass Ginger auf Sam's Bett lag und schlief. Das war immerhin eine beruhigende Nachricht.
Wie im Traum streckte ich die Hand nach dem Umschlag aus. Für eine Sekunde hatte ich den Impuls einfach das Fenster aufzureißen und ihn hinauszuschmeißen, doch die Angst hielt mich davon ab. Also setzte ich mich wieder an meinen Schreibtisch und riss das Packpapier auf, wobei ich ein unangenehmes Déjà-vu hatte. Doch dieses Mal war Flo dabei, was mir zumindest ein wenig Sicherheit gab. 

Stumm ließ ich den Inhalt des Umschlags auf die Tischplatte gleiten und registrierte beim Anblick einer weiteren Spiegelscherbe, dass das eine sehr gute Idee gewesen war. Mein Handrücken tat nämlich immer noch Zeit von Zeit wegen der Schnittverletzung weh. 
"Scheiße, Flo! Das sind doch nicht etwa...?!", fragte ich erschrocken und rutschte ein wenig vom Tisch weg.
"Das ist widerlich.", stieß sie hervor und starrte entsetzt die vier Fotos an, die vor uns lagen. 
Jedes von ihnen war vergilbt und in Sepia eingefärbt, außerdem in einem kreisrunden Format auf weißem Untergrund gedruckt. Auf dem ersten Foto war Sam zu Sehen, deren Silhouette sich unter ihrer Bettdecke abzeichnete. Ihr Gesicht war nur angeschnitten, doch offenbar schlief sie. Man konnte ihre nackte Schulter sehen, vor der der Träger ihres Oberteils gerutscht war. Allein dieses kleine Detail entfachte in mir einen solchen Hass auf den Absender der Umschläge, dass ich am liebsten geschrien hätte. Er durfte Sam so nicht sehen! Nicht so unwissend, nicht so privat!
Die anderen Bilder milderten meine Wut nicht im geringsten. 
Auf ihnen waren auch Debbie, Flo und ich abgebildet, alle schlafend.
"Von wo aus hat er fotografiert?", fragte ich, einfach um irgendetwas zu sagen, woraufhin Florence aufstand. Sie durchschritt unser Zimmer, bis sie ungefähr vor dem großen Spiegel mit dem abgewetzten Goldrahmen stehen blieb:
"Ich vermute von hier aus. Offenbar hat er sich nicht näher an unsere Betten getraut. Charlie, wir sollten das wirklich Agatha zeigen. Entweder bricht jemand in die Akademie ein oder jemand hier ist furchtbar wahnsinnig! Beides sollten wir melden!"
Ich runzelte die Stirn und hob den vergilbten Zettel hoch, der mit den Fotos und der Scherbe aus dem Umschlag gefallen war:
"Vielleicht sollten wir darüber nochmal nachdenken."
Wie schon beim letzten Mal stand dort nämlich eine Botschaft:

"Wer nicht hören will, muss fühlen, denn der Singvogel schreit nie mehr. 
I pressed the button, they did the rest.
Dreh' die Zeit zurück und dann nach vorn, bis die Toten tanzen.
Denn wer kennt sein Spiegelbild besser als der alte Jack?

PS.: Wie du siehst, ich bin näher als du denkst. Wenn du einen der Lehrer um Hilfe bittest oder dich mir widersetzt, sterben Menschen. Außerdem riecht das Haar deiner Freundin Florence Vane wunderbar nach Rosen."

Stumm hatte ich Flo den Zettel hingehalten, die daraufhin noch blasser geworden war. Dann steuerte sie das Badezimmer an und warf mit einem Scheppern ihre Shampooflasche in den Müll.
"Ich weiß nicht was das alles soll! Warum ich? Warum zieht er euch mit hinein? Was haben wir diesem Kerl getan?! Was haben wir getan, dass diese Drohungen und Erpressungen rechtfertigen würde?", brach es aus mir hinaus und meine Stimme klang belegt. Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen, als ein leises Räuspern von der Tür aus ertönte.
Sofort fuhr ich herum, doch dort stand nur Evan, der leicht besorgt drein sah.
"Verdammte Scheiße, wann bist du denn reingekommen?!", fuhr ich ihn an, woraufhin er abwiegelnd die Hände hob und antwortete:
"Ist alles in Ordnung? Ich wollte eigentlich nur wegen dem Projekt für Graham mit Flo reden.
Wer erpresst euch?!"
Flo war wieder aus dem Badezimmer herausgetreten und schaute schockiert zu Evan, der jedoch schon mit ein paar Schritten bei meinem Schreibtisch war. Die Fotos lagen immer noch offen da und so erkannte er sofort worum es sich handelte. 
"Was geht hier vor sich?!", rief er und sah zwischen Flo und mir hin und her. 
Ich schniefte leise, während sich Florence verzweifelt durch die Haare fuhr. Eigentlich hatte ich für mich selber beschlossen niemanden weiteres mit in die ganze Sache hineinzuziehen. Doch ich hatte das dringende Bedürfnis mit jemandem darüber zu reden, der einen objektiven Blick darauf werfen konnte. 
"Setz' dich lieber hin und bring' viel Toleranz für verrückte Vorkommnisse mit.", meinte ich düster, dann holte ich auch den ersten der beiden Umschläge hervor und begann zu erklären.

"Um das kurz zusammenzufassen: 
Charlie wird von dem Trittbrettfahrer der alten Jack-the-Ripper-Fälle bedroht, ihr wisst aber nicht wieso und warum. Doch ihr geht davon aus, dass es jemand aus der magischen Gemeinschaft oder vielleicht sogar der Schule ist. Wenn ihr seinen Forderungen nicht nachkommt oder euch Hilfe bei den Lehrern holt, dann drohen Konsequenzen.", kam es von Evan, der im Schneidersitz auf dem Boden saß und nachdenklich die Umschläge musterte, die vor ihm lagen. 
Ich nickte zustimmend:
"Ja, ganz genau! Außerdem scheint er Rätsel zu mögen, was natürlich die Vermutung zulässt, dass diese Forderungen, die er ja nicht so genau anspricht, in den Nachrichten verborgen sind."
Flo, die auf ihrem Bett lag und mit gerunzelter Stirn an die Decke starrte, richtete sich auf:
"Es muss etwas mit den alten Fällen von Jack the Ripper zu tun haben, ich bin mir sicher!
Und ich befürchte, dass du bei der Umsetzung dieser versteckten Forderung Magie einsetzen musst. Keins von beidem gefällt mir besonders."
Unzufrieden trat ich gegen meinen Tisch, woraufhin einer der Stifte, der darauf lag, ins Rollen kam und herunterfiel. Ich ignorierte ihn und schimpfte:
"Wenn wir bloß mehr über beides wüssten! Ich glaube, wenn wir verstehen würden, was er will, dann könnte ich auch besser entscheiden, was wir nun tun sollen! Wenn ich bloß wüsste, womit ich uns mehr in Gefahr bringe: indem wir zu Agatha gehen und ihr alles sagen, oder indem wir den Anweisungen dieses Idioten nachgehen!"
 "Die klügere Variante wäre sicher, seine Drohung zu ignorieren und den Lehrern Bescheid zu geben. Aber er hat durch das erste Gedicht bewiesen, dass er bereit ist zu töten und er war hier, in der Akademie!", warf Evan ein und fasste somit sehr schön zusammen, was mich nun schon die ganze Zeit über beschäftigte.
"Zumindest kann ich euch bei einer Sache helfen.", fuhr er fort, "Meine Tante arbeitet im Museum of London und kann uns bestimmt alles Wichtige über die Mordserie vom echten Jack the Ripper und die damalige Zeit erzählen. Ich muss sie nur anrufen und wir können sie nächsten Samstag besuchen."
Sofort sprang Flo auf,  ihr Gesicht nahm einen kämpferischen Ausdruck an und sie klatschte in die Hände:
"Du bist einfach genial, Evan! Das ist perfekt!" 
Ich nickte zustimmend und ein verhaltenes Lächeln schlich sich auf mein Gesicht. Das war zumindest ein Schritt in die richtige Richtung! Außerdem war ich froh darüber, dass wir endlich etwas tun konnten. Insgeheim war ich auch erleichtert, da sich so der Punkt, an dem ich mich zwischen den Lehrern und dem Erpresser entscheiden musste, weiter nach hinten verschob.

Wir verabredeten uns also für den nächsten Wochenendausflug, an dem wir zu dritt das Museum of London besuchen würden. Als Evan wieder gegangen war, schneiten ein wenig später auch Debbie und Sam in unser Zimmer, woraufhin ich mich sofort an meine Hausaufgaben machte.
Selbst wenn man von einem geheimnisvollen Jack-the-Ripper-Duplikat bedroht wurde, musste man sich noch um seine schulischen Aufgaben kümmern.
 Als ich schlussendlich schlafen ging, war das Hochgefühl des Gesprächs mit Flo und Evan längst wieder verschwunden und das letzte was ich sah, bevor mir die Augen zufielen, war mein eigenes Gesicht in dem Spiegel, der an der Wand gegenüber lehnte. 

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