Kapitel 41

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Es brach mir das Herz, wie sich Flos Gesichtsausdruck versteinerte und sie stockend ein und aus atmete. Sie hatte schon mit etwas in der Art gerechnet, was fast noch schlimmer war, als wenn ich sie völlig aus dem Nichts überrascht hätte. Wieder einmal bewies es, wie tief wir bereits in diesem ganzen Chaos steckten.
"Wir gehen Evan holen.", murmelte ich leise und nahm ihre Hand, um dann Schritt für Schritt zur Treppe zu gehen. Ihre Finger zitterten, weshalb ich ein wenig zudrückte. Wie zur Antwort erwiderte sie und im stillen Einverständnis machten wir uns auf den Weg. 

"Noch eine Sekunde, ich hab' ihn gleich...", knurrte Evan und starrte konzentriert auf das Schachbrett. Er spielte gemeinsam mit Jake, der zurückgelehnt auf dem Stuhl gegenüber saß und breit grinste. 
"Es ist dringend, komm' bitte einfach mit!" erwiderte Flo mit beinahe flehendem Unterton, während ich mir größte Mühe gab, das Spielbrett nicht einfach umzuwerfen. 
"Ja, hau ruhig ab, du gewinnst eh nicht.", stimmte Jake mit ein, woraufhin Evan mit einem verärgerten Gesichtsausdruck aufsah. Doch seine gereizte Stimmung verflog sofort, als er zu Flo und mir sah. 
"Was ist passiert?", fragte er ernst und erhob sich halb, doch bei Jakes misstrauischem Blick versuchte ich dagegen zu steuern:
"Nichts Schlimmes, wir müssen es nur schnell erledigen. Es hat mit dem Astronomielabor zu tun!"
Evan nickte und stand auf, wobei er betreten versuchte nicht zu seinem Kumpel zu schauen. 
Gemeinsam gingen wir in Richtung Ausgang, doch ich konnte trotzdem hören, wie uns Jake halblaut hinterher rief:
"Ihr seid nicht halb so unauffällig wie ihr denkt."
Seine Stimme klang verärgert, aber ich konnte nicht zurücksehen. Die Tür fiel zu und die Dunkelheit des Ganges umfing uns.

Obwohl es nur eine Notlüge gewesen war, steuerten Evan und ich tatsächlich das Astronomielabor an, doch Florence hielt uns zurück. 
"Nicht dort.", war alles ,was sie auf unsere fragenden Blicke hin meinte und führte uns in die Richtung der Bibliothek. Kurz bevor wir den Widderkopf aus Marmor zu sehen bekamen, stoppte sie. Umsichtig blickte sie sich nach links und rechts um, dann ging sie auf den riesigen, geräumigen Wandschrank zu, der dort stand. Er war aus dunklem Holz gefertigt und voller detailverliebter Schnitzereien, doch ich hatte ihn bis jetzt nur als überdimensionalen Staubfänger wahrgenommen. Als Florence jedoch die Schwingtüren öffnete und Anstalten machte hineinzusteigen, wurde mir langsam klar, was sie vorhatte. 

"Ich bin mir ziemlich sicher, dass sich hier hauptsächlich Pärchen treffen.", stellte Flo fest und trat beiseite, damit Evan und ich auch Platz hatten.
"Dann kennt James diesen Schrank bestimmt auch.", meinte er daraufhin trocken, was mir ein humorloses Lachen entlockte. 
Es war dunkel und roch abgestanden, die einzige Lichtquelle war das Schlüsselloch, in dem kein Schlüssel steckte. Ich sah zuerst nur undeutliche Umrisse, doch mit der Zeit gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit. Zu zweit war es sicherlich leichter hier drinnen Platz zu finden, doch zu dritt war es eindeutig zu eng. Florence stand mir gegenüber, doch unsere Gesichter waren dabei keinen halben Meter entfernt. Gegenüber der Tür und zwischen uns hatte sich Evan gequetscht, wobei er den Kopf ein wenig einziehen musste. Sein Arm streifte immer wieder meine Schulter, während er versuchte sich so klein wie möglich zu machen, damit wir genug Platz hatten. Als er sich jedoch einmal im Kreis gedreht hatte und die Situation immer noch nicht besser geworden war, hatte Evan kurzerhand den Arm um Flo gelegt. 
"Also...", begann er mit einem Seufzen, "...warum genau habt ihr mich an den Ort gebracht, wo wahrscheinlich schon mehr gebumst wurde, als in den Schlafsälen zusammen?"

Flos Erklärung war einfacher als erwartet:
"Ich habe hier mal einen Typen mit seiner Freundin herauskommen gesehen und was die beiden getrieben hatten, war ziemlich klar. Weil man aber nichts davon gehört hat, bin ich davon ausgegangen, dieser Schrank ist schalldicht. Und das ist genau was wir brauchen, damit dir Charlie erzählen kann, was heute passiert ist."
"Wieso? Denkst du, dass wir belauscht werden?", fragte ich halb im Scherz, doch die ernste Stille, die daraufhin folgte jagte mir einen kalten Schauer über den Rücken. 
"Ich will nicht zu pessimistisch sein,...", begann Flo, "Aber genau das ist es, was ich befürchte. Wir wissen, dass jemand in der Schule mit den Umschlägen und Jack the Ripper zu tun hat. Es ist nur eine ungefähre Ahnung. Trotzdem denke ich nicht, dass wir einfach so herumbrüllen sollten, was hier vor sich geht. Es kann nicht schaden vorsichtiger zu werden."
Erneut stiegen die Tränen auf, doch ich schluckte sie herunter. Normalerweise weinte ich nicht so viel wie heute, aber die Erschöpfung der restlichen Woche und diese ganzen deprimierenden Erkenntnisse zermürbten mich. 
"Du hast Recht, Florence.", meinte Evan langsam, aber beeindruckt. "Wahrscheinlich ist er sogar näher als wir uns bisher vorstellen können."

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