Die Flügelschläge der Tauben, die unter dem Dach des Astronomie-Labors nisteten, die Großstadthitze und der muffige Geruch des so lange ungenutzten Raums; all das erschuf eine so friedliche Kulisse, dass es unter normalen Umständen unmöglich gewesen wäre, mir auch nur einen leichten Schauer über den Rücken zu jagen.
Doch die Umstände waren alles andere als normal.Natürlich hatte Evan nicht sofort damit begonnen von seinen Entdeckungen zu erzählen, sondern zuerst darauf bestanden fünf Minuten lang zu warten.
„Wetten, dass jemand seine Tasche vergessen hat und deshalb nochmal schnell zurückkommt?", meinte er, während er halbherzig ein abgebrochenes Stuhlbein aus einem Haufen Gerümpel zog. Evan hatte seine Ärmel hochgekrempelt und das Hemd hing lose aus der Hose, außerdem hatten sich Spinnenweben in seinen braunen Locken verfangen.
„Wetten, dass du bloß abergläubisch bist und uns niemand stört?", erwiderte ich verstimmt und strich mir eine Haarsträhne aus den Augen, um besser sehen zu können.
Was dort vor mir hinter mehreren Leinentüchern verborgen lag, war ein blinder Spiegel mit einem kitschigen Goldrahmen. Ich trug ihn zu den anderen Sachen, die wir vielleicht behalten würden.
„Fünf Minuten mehr oder weniger machen jetzt auch keinen Unterschied mehr.", fügte Florence diplomatisch hinzu, sie kam gerade hinter einem der Regale hervor.
Die Sonne warf Lichtflecken auf ihr gebräuntes Gesicht, als sie sich erschöpft mit dem Handrücken über die Stirn fuhr und den Blick über das Chaos wandern ließ. Wieder einmal bewunderte ich, wie gut ihr der graue Rock unserer Schuluniform stand, der sich bei mir immer an den falschen Stellen ausbeulte.Kurz darauf war Evan endlich zufriedengestellt, weshalb wir alles stehen und liegen ließen, um uns gemeinsam auf der Holzkonstruktion fallen zu lassen. Die Plattform knarzte ein wenig, doch so hatten wir einen wunderbaren Ausblick auf unser Königreich des Gerümpels und konnten uns die Sonnenstrahlen in die müden Gesichter scheinen lassen. Ich war dankbar für die frühlingshafte Wärme und die Nähe zu meinen Freunden, denn so wirkten die Geschehnisse, in die wir verstrickt waren, nicht ganz so bedrohlich.
„Könnt ihr euch rein zufällig noch an den ersten Satz erinnern, der in dem letzten Brief stand, den Charlie bekommen hat?", fragte Evan ruhig und zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen. Er lehnte mit dem Rücken an einem der Holzpfosten und machte mit seinem ernsten Auftreten und den Hemdsärmeln ganz den Eindruck eines politischen Widerstandkämpfers, der eine Verschwörung plant.
„Keine Ahnung.", gab ich zu, doch Flo schien für einen Moment zu überlegen, bevor sie meinte:
„Ich kann mich nicht mehr an den genauen Wortlaut erinnern, aber es ging darum, dass niemand den Tod wirklich kennt. Es ist mir im Gedächtnis geblieben, weil es ein wenig wie ein Zitat klang."
Evan grinste breit:
„Du weißt ja gar nicht wie Recht du hast, Flo.
Niemand kennt den Tod; es weiß auch keiner, ob er nicht das größte Geschenk für den Menschen ist.
Wir haben es hier tatsächlich mit einem Zitat zu tun, was auch der Grund war, weshalb es mich so beschäftigt hat. Ich hatte es schon mal irgendwo gehört und es kam mir bekannt vor. Also habe ich ein wenig recherchiert."
Mit einer geschmeidigen Handbewegung griff er in seine Tasche, die neben ihm auf dem Boden lag und in der er immer seine Schulbücher transportierte. Doch was er nun hervorzog, war definitiv kein Bestandteil unserer Lehrbücher:
Stevenson's kleine Schule der griechischen Philosophen
„Woher hast du das?", fragte ich ehrfürchtig und nahm das kleine, grau angelaufene Buch in die Hände, um durch die vergilbten Seiten zu blättern.
„Aus der Bibliothek. Es war ganz einfach, ich musste bestimmt nur eine Stunde lang die Griechisch-Abteilung durchsuchen."
Wahrscheinlich hätte ich mich darüber gewundert, dass er eine Stunde lang suchen als einfach betitelte. Doch ich selbst hatte so meine Erfahrungen mit der Bibliothek des Arcanums gemacht, als wir auf der Suche nach einer Anleitung für die Beschwörung Jack the Rippers gewesen waren.
„Und das Zitat stammt von einem griechischen Philosophen?", fragte Florence neugierig, woraufhin er nickte und mir das Buch wieder abnahm. Er blätterte konzentriert die Seiten um, bis er schließlich triumphierend auf eine Textstelle deutete.
„Nicht irgendein griechischer Philosoph, sondern Sokrates höchstpersönlich. Hier steht es.", erklärte er, woraufhin Flo und ich uns selbst überzeugen konnten.
„Aber was bringt es uns zu wissen wen dieser Briefeschreiber zitiert?", fragte ich weiter. Ich verstand nicht ganz, worauf Evan hinauswollte.
„Das Zitat ist nicht das Einzige, was wir wissen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass unser nächster Hinweis in den weiteren Zeilen des Gedichts steckt."
Er schlug die letzte Seite von auf und zog einen Zettel hervor, auf den jemand etwas gekritzelt hatte.
„Du hast den Brief abgeschrieben!", rief Flo überrascht aus, als sie den Inhalt des Geschreibsels entziffert hatte, woraufhin sich Evan verlegen am Kopf kratzte:
„Ich wollte ihn mir unbedingt nochmal alleine ansehen. Es hat mich einfach sehr gereizt und ich hasse es, wenn ich Rätsel nicht lösen kann."
„Und? Wie weit bist du gekommen?", hakte ich gespannt nach, woraufhin er sofort wieder in seinem Element war:
„Niemand kennt den Tod; es weiß auch keiner, ob er nicht das größte Geschenk für den Menschen ist.
So sprach der alte Marmorkopf, doch er ist zu Staub zerfallen und nur ich kenne die Wahrheit.
Doch bei dem, was du hörtest in des Direktors Büro, da weiß er Rat.
Forscht weiter, denn ihr stellt die richtigen Fragen für die unumgänglichen Antworten.
Lest, was einst sprach das Orakel.", las Evan vor, um uns dann erwartungsvoll anzusehen.
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Arcanum - die Akademie der Hexenkunst
FantasyAgatha Young sah mich nachdenklich an, dann blickte sie um sich und zog mich zu einem der Fenster. Mit einem Satz saß sie auf der Fensterbank und bedeutete mir es ihr gleichzutun. Also kauerte ich mich neben sie, woraufhin sich die Frau räusperte un...