Das Wochenende war schneller gekommen, als ich erwartet hatte, ein Phänomen, das Schulwochen nun mal so an sich hatten. Ich brannte schon seit dem Vorfall in Grahams Unterricht auf die freien Tage, denn der Windzauber hatte mir einiges an Kräften geraubt.
Laut Professor Ardelan war weder meine Psyche noch meine körperliche Verfassung ideal dafür gewesen, weshalb ich mich auch so schlapp und müde gefühlt hatte. Jake und ich waren natürlich nicht sofort zu ihm gegangen, nachdem uns Graham entlassen hatte. Doch irgendwann wirkte es doch wie eine ganz gute Idee, sich den Schnitt auf meiner Wange und seinen geprellten Arm ansehen zu lassen.
Danach hatten wir uns auf die Suche nach unseren Freunden gemacht. Tatsächlich waren nur wenige Erinnerungen davon bei mir hängen geblieben, mein Kurzzeitgedächtnis schien auch unter dem Energieverlust zu leiden. Eines der einzigen Dinge, die ich mir gemerkt hatte, war Dylans oberlehrerhafte Erklärung zu meinem Windzauber gewesen:
"Ich habe das mal nachgelesen, Charlie! In unserem Schulbuch ist das, was du gemacht hast, unter unkontrollierten Emotionszaubern angeführt. Es gibt keine richtige Lehrbuch-Anleitung dafür, was wirklich schade ist, aber schau mal: hier steht, dass..."
An den Rest des Tages erinnerte ich mich nur noch sehr verschwommen. Das Letzte, woran ich mich erinnerte, war Flo, die mich in mein Bett bugsierte.Deshalb kam ich auch ganz gut damit klar, dass mich meine Freunde an diesem Wochenende alleine in der Akademie zurückließen. Ich hatte ja immer noch Ausgangssperre und konnte sie nicht jedes Mal um ihre Ausflüge bringen, nur weil ich nicht teilnehmen durfte. Der Sommer war in London eingezogen und trieb meine Mitschüler nach draußen in die Sonne. Schon seit Wochen kehrten sie nach Zuckerwatte duftend und mit Grasflecken auf den Hosen zur Akademie zurück, um von Picknicks und Spaziergängen im Hyde Park zu erzählen. Aus diesem Grund war ich auch nicht beleidigt darüber gewesen, dass meine Freundinnen bereits verschwunden waren, als ich aufgewacht war.
Das Frühstück war schon abgeräumt worden, als ich endlich das Zimmer verließ und mich auf Erkundungstour durch die Schule machte. Sporadisch traf ich ein paar der älteren Schüler auf den Gängen, die in der Akademie geblieben waren, um zu lernen. Die wenigsten von ihnen kannte ich, doch mir war ohnehin nicht nach reden zumute. Ich wollte schon seit längerem einen Stephen-King-Roman beginnen, den mir Flo geliehen hatte. Und da das Wetter so gut war, beschloss ich dafür nach draußen zu gehen. Mein unbestimmtes Ziel war eine ungestörte Ecke, wo es schön schattig war. Der Grund dafür, warum ich mich nicht einfach in den Innenhof setzte, war, dass ich ungern von einem Lehrer gesehen werden wollte. Bei mehr als der Hälfte von ihnen hatte ich schon Nachsitzen müssen. Sollten sie also gerade Arbeit anstehen haben, bei der sie Hilfe brauchten, würde ich meinen freien Tag mit dem Schrubben von Reagenzgläsern verbringen.
Ich spazierte also an dem verlassenen Glashaus vorbei und entdeckte zufrieden, dass hier außer mir niemand war. Diesen Teil des Innenhofs kannte ich nicht besonderes gut, da er etwas versteckter lag. Im Allgemeinen war die Akademie hufeisenförmig um den Hof gebaut, sodass er auf der offenen Seite durch eine hohe Mauer begrenzt wurde. Man konnte sie durch die Fenster des Gewächshauses sehen, doch wenn dort nicht gerade unterrichtet wurde, war man ungestört. Deshalb trafen sich dort laut Evan auch die Raucher und Pärchen. Von denen war aber niemand zu sehen, als ich um die Ecke trat. Hier waren nur eine alte Linde, die von Efeu bewachsene Mauer und ich. Da ich mich ungern auf das dreckige Pflaster setzen wollte, zog ich mir eine alte, umgedrehte Schubkarre heran, die hinter dem Glashaus stand. Mit einem Satz ließ ich mich darauf nieder und begann zu lesen.
Die Handlung und der Schreibstil zogen mich bald in ihren Bann, weshalb ich auch entsprechend verwirrt war, als ich das Räuspern hörte. Ich hatte gerade Kapitel 6 beendet und wollte weiterlesen, doch das Geräusch ließ mich aufschrecken.
Instinktiv hatte ich mich aufgesetzt und starrte den fremden Mann an, der mir etwa zwei Meter entfernt gegenüberstand.
Ich hatte ihn noch nie auf dem Schulgelände gesehen. Man muss es wohl meiner Paranoia und nicht meinem Bauchgefühl zuschreiben, dass mein erster Gedanke Jack the Ripper war. Wenn ich bloß nicht Recht gehabt hätte.
Seine Kleidung sah entsprechend altertümlich und gebraucht aus:
Er trug dunkelbraune Hosen und ein stellenweise dreckiges Hemd, in seinen Händen hielt er einen Bowler. Nervös drehte er ihn zwischen den Fingern, während er mir immer wieder ein wenig zu lang in die Augen sah, um dann schnell wegzuschauen.
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Arcanum - die Akademie der Hexenkunst
FantasyAgatha Young sah mich nachdenklich an, dann blickte sie um sich und zog mich zu einem der Fenster. Mit einem Satz saß sie auf der Fensterbank und bedeutete mir es ihr gleichzutun. Also kauerte ich mich neben sie, woraufhin sich die Frau räusperte un...