Kapitel 34

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"Und ihr seid euch sicher, dass er uns hier treffen will?", fragte ich zweifelnd in die Runde und sah mich um. Es war kurz vor Beginn der Elementbeherrschungs-Stunde und unsere gesamte Klasse stand sorgfältig aufgereiht vor dem Innenhof der Akademie, wo wir normalerweise immer Flugtraining hatten.
"Es steht hier in meinen Aufzeichnungen, ich habe es mir aufgeschrieben! Oder willst du behaupten dein Gedächtnis wäre besser, als mein Terminplaner?", erwiderte Elizabeth süßlich und wedelte mit einem karierten Buch vor meiner Nase herum. Halbherzig griff ich danach, doch da hatte sie ihre Hand schon wieder zurückgezogen.
"Sollte dieses Ding ...verschwinden, müssen wir dich dann ins Bedlam einweisen?", fragte ich mit dem Gedanken an Londons berühmtestes Irrenhaus und beobachtete, wie Elizabeth den Planer in ihre prall gefüllte Tasche stopfte. Dabei konnte ich spüren, wie die Rädchen in meinem Kopf begannen, sich zu drehen. Was würde sie wirklich tun, wenn der Terminplaner verschwinden würde?
"Denk nicht mal dran.", zischte es neben mir und unterbrach so meinen Denkprozess.
"Was genau meinst du denn?", erwiderte ich schadenfroh und betont unschuldig, woraufhin Flo die Augenbrauen hochzog:
"Ich stimme dir zu, es wäre wirklich lustig ihr den Kalender zu klauen, aber wir haben Besseres zu tun."

"Besseres, als Elizabeth zu ärgern?", ertönte es leise von Jake, der sich neben uns stellte, "Gehört das vielleicht zu dem geheimen Drei-Personen-Club, in dem ihr mit Evan seid?"
"Ich weiß wirklich nicht, wovon du redest.", lachte Florence so überzeugend, das mir beinahe die Kinnlade herunterfiel. Mir war schon immer klar gewesen, dass sie zu der Art Mensch gehörte, die geübter im Lügen und Täuschen war, als man annahm. Doch trotzdem überraschte es mich, wann immer dieses Talent zum Vorschein kam.
"Sicher, ihr habt absolut keine Ahnung. Dann wünsche ich euch weiterhin viel Spaß beim Putzen.", antwortete er, nachdem ein letzter prüfender Blick seiner grauen Augen über uns gewandert war. Dann schob Jake die Hände in die Hosentaschen und ging hinüber zu James, der bereits auf ihn wartete.
"Er vermutet doch nichts, oder?", fragte ich beunruhigt und sah ihm hinterher, als Evan von hinten an uns herantrat:
"Ich denke nicht.", antwortete er mit gerunzelter Stirn, "Er hat bloß von James gehört, dass wir gestern zu dritt gekifft haben."
"Uns hätte klar sein sollen, dass er sich ausgeschlossen fühlen wird.", schlussfolgerte Flo und sah ein wenig unzufrieden mit sich selbst aus.
Am liebsten hätte ich vorgeschlagen, dass wir ihm zumindest von einem Teil der Wahrheit erzählen könnten, doch die Antwort kannte ich bereits selber. Wenn wir die anderen aus der Angelegenheit heraushalten wollten, dann mussten wir unsere Pläne für uns behalten.
Pläne, die in etwa einer Stunde Gestalt annehmen würden. Nach Elementbeherrschung stand nämlich Geschichte auf dem Stundenplan.

Doch vorerst war es Professor Grahams Unterricht, mit dem wir uns befassen mussten.
Pünktlich trat er mit fliegenden Rockschößen auf den Hof hinaus, wobei uns sein falkenhafter Blick selbst auf die Entfernung hin zu durchbohren schien. Sein rotes Haar leuchtete in dem tristen Licht des wolkenverhangenen Vormittags wie ein Leuchtsignal und er bedeutete uns mit einer Handbewegung zur Seite zu treten.
Wie eine Herde Schafe trotteten wir also über den Platz bis zum Schulgebäude, woraufhin sich Graham vor uns aufbaute:
"Ich heiße Sie hiermit zu Ihrer ersten Stunde des Faches Elementbeherrschung willkommen, die außerhalb des Klassenzimmers stattfindet!
Ab heute widmen wir uns nicht mehr der Theorie, sondern ihrer praktischen Anwendung. Sollten Sie also nicht entsprechend mitgelernt haben,...", dabei sah er James, von dem wir alle wussten, dass er seine Hausaufgaben nur sporadisch machte, besonders eindringlich an, "...haben Sie nun schlechte Karten."
James grinste bloß verschwörerisch und hielt dem Blick des Professors stand, bis der schließlich fortfuhr:
"Ich bitte Sie, holen Sie die Tabellen und Mitschriften hervor, die mit einem Partner ausgearbeitet werden sollten. Das ist alles, was Sie als Grundlage für diese Stunde benötigen."
Ich kramte also in meiner Tasche herum, um die besagten Zettel zu finden. Erst, als jeder seine Unterlagen in den Händen hielt, fuhr Graham fort:
"Wenn Sie sich an meine Anweisungen gehalten haben, dann sollten vor Ihnen die zwölf Grundformeln der Elementbeherrschung stehen und ebenfalls, wie sie hergeleitet werden."
Daraufhin tauschte ich einen verstohlenen Blick mit Jake aus. Er war mein Projektpartner gewesen und wusste genauso wie ich, dass wir die Formeln zwar selbstständig erarbeitet hatten, doch die Herleitungen stark von Flos und Evans Arbeit inspiriert worden war. Immerhin konnten wir uns so sicher sein, dass sie stimmten.
"Ich werde Ihnen nun das elementarste Hilfsmittel für die Elementbeherrschung überreichen!", verkündete der Professor, "Stellen Sie sich bitte in einer Schlange vor mir an!"

Sofort begann ein Geschiebe und Geschubse, bis wir es schließlich wirklich geschafft hatten, uns hintereinander aufzustellen. Ich war relativ weit hinten und erst an der Reihe, als June, die vor mir gestanden hatte, zur Seite trat.
Was ich nun unter Grahams strengem Blick in die Hand gedrückt bekam, war ein etwa 30 Zentimeter langer, schlanker Holzstab.
"Ist das ein Zauberstab?", fragte ich aufgeregt, woraufhin er tief durchatmete und angestrengt antwortete:
"Sie haben ja keine Ahnung, wie oft ich diesen Begriff in meiner Zeit als Lehrer nun schon gehört habe. Das führt jedoch zu massiven Missverständnissen, denn der Stab an sich ist nicht magisch. Es ist ein Medium, damit Sie ihre sonst emotionsgesteuerte Magie kanalisieren können.
Für gewöhnlich läuft es so ab:
Sie wollen einen neuen Zauber lernen, dafür benötigen Sie die Formel, den Stab und die richtigen Worte. Haben Sie all das, so müssen Sie üben, bis Sie den Zauber korrekt beherrschen. Das erkennen Sie daran, dass sich die Formel in den Stab einbrennt.
Dieses Prinzip sollte Ihnen von den Flugstunden her bekannt sein."
Beeindruckt dachte ich an die Besen und ihre Oberfläche zurück, die ich fälschlicherweise für Schnitzereien gehalten hatte.
"Also kann ich nur mit meinem Zauberstab zaubern und zwar die Sprüche, die ich bereits gelernt habe?", fragte ich nach, woraufhin der Professor scharf nickte:
"Denken Sie gar nicht einmal daran den Stab eines älteren Magischen zu verwenden, damit richten Sie bloß Chaos an."
Ein wenig beleidigt runzelte ich die Stirn. Dieser Graham traute mir viel mehr Blödsinn zu, als ich tatsächlich im Sinn hatte.
"Als letztes muss ich von Ihnen erfahren, mit welchem Element Sie als Erstes in Berührung kamen.", meinte er, woraufhin ich in verwirrt anblinzelte.
"Haben Sie aus Versehen etwas angezündet? Gab es ein kleines Erdbeben in Ihrer Stadt? Wie sah ihre erste magische, emotionsgesteuerte Erfahrung aus?"
Nun verstand ich, was der Lehrer meinte:
"Ich habe einen kleinen Tornado in meiner ehemaligen Schulbibliothek ausgelöst."
Er nickte, dann zog er mir meine Aufzeichnungen aus den Händen. Er suchte sie mit den Augen ab, während er meinte:
"Jede Hexe und jeder Zauberer hat eine besondere Begabung, was eines der Elemente betrifft. Aus der Emotion heraus wird dieses meistens eingesetzt, deshalb sollten Sie auch mit diesen drei Formeln hier beginnen."
Arthur Graham zeigte auf die letzten Zeilen, wo ich mir die drei grundlegenden Windzauber notiert hatte.
Ich bedankte mich und lief hinüber zu Evan, Flo und Jake, die bereits auf mich warteten.

Da ich eine der Letzten gewesen war, die einen Stab erhalten hatten, fuhr Professor Graham nun mit dem Unterricht fort:
"Wie ich Ihnen bereits in der ersten Stunde mitgeteilt habe, wird die Elementbeherrschung vor allem in der Selbstverteidigung eingesetzt. Deshalb können Sie sich darauf einstellen, dass wir uns schon sehr bald mit dem Duellieren beschäftigen werden!"
Wenig begeistert verzog ich den Mund. Mit körperlichen Auseinandersetzungen hatte ich noch nie besonders viel anfangen können. Anstatt mich im Prügeln zu trainieren, hatte ich das Gegenteil von davon getan: geübt, wie man sich aus diesen Situationen herausreden konnte.
Doch das würde mir beim Duellieren keine große Hilfe sein.
"Ihre Aufgabe wird also sein bis zur nächsten Stunde mindestens die Hälfte ihrer Formeln umzusetzen.", fuhr der Direktor fort, "Drei davon sollten Ihnen sehr leicht fallen, da sie ein Talent dafür besitzen, doch alle weiteren müssen Sie sorgfältig üben. Es ist Ihnen nur erlaubt im Innenhof der Akademie zu zaubern! Sollten Sie sich nicht an diese Vorschrift halten, können Sie auf Konsequenzen zählen!
Haben Sie noch weitere Fragen?"
Augenblicklich schossen mehrere Hände in die Höhe.
"Ja bitte, Mr. Chase?", rief er Evan auf, der fragte:
"Professor, wie wird festgelegt, welches Element uns am leichtesten fällt?"
Graham runzelte die Stirn:
"Es ist das selbe Prinzip, nachdem Sie überhaupt magische Kräfte haben."
Als daraufhin die gesamte Klasse weiterhin ratlos dreinsah, seufzte er tief:
"Ist das noch nicht in Geschichte behandelt worden?"
Kollektives Kopfschütteln.
Der Lehrer murmelte irgendetwas von "Sokrates weicht schon wieder vom Lehrplan ab...", bevor er lauter antwortete:
"Wie Ihnen vielleicht schon aufgefallen ist, hat es nichts mit Vererblichkeit zu tun, ob jemand magisch ist oder nicht. Wir haben es hier mit gewissen Sternkonstellationen und Mondzyklen bei der Geburt zu tun, in denen unsere Forscher ein Muster erkannt haben. Es wäre zu aufwendig jeden Aspekt zu erklären. Doch wenn eine Hexe oder ein Zauberer auf die Welt kommen, müssen bestimmte Bedingungen herrschen, die beeinflussen wer magische Fähigkeiten besitzt. Das beantwortet auch Ihre Frage, Mr. Chase, mit dem selben Prinzip wird bestimmt, für welches Element Sie ein Talent besitzen."
Als nächstes hielt er auf die Frage, welches Element er am besten beherrschte, einen ellenlangen Vortrag darüber, dass ein wirklich guter Zauberer nichts darauf gab. Wir sollten unsere Schwächen trainieren und nicht unsere Stärken.

Nachdem Graham endlich alle weiteren Fragen beantwortet hatte, war ich schon so gespannt auf diese Zauber, dass ich wirklich enttäuscht war, als die Schulglocke das Ende der Stunde verkündete.
Besonders, da wir nun jede Menge Hausaufgaben bis zum nächsten Mal aufbekommen hatten. Erst als ich Flos nervös zitternde Hände sah, fiel mir wieder ein, dass ich in diesem Moment wirklich nicht an der Reihe war mich zu beschweren. Denn nun war ihre Überredungskunst gefragt: der Geschichtsunterricht bei Sokrates begann in fünf Minuten.


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