Ich kann nicht

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Nach einer Woche in der Schweiz begann ich damit langsam wieder arbeitstechnisch einzusteigen. Ich beantwortete Mails, sowohl vom Verein als auch von Leonie. Ich nahm an einigen Videokonferenzen teil. Die Kontaktversuche von Roman ignorierte und löschte ich aber auch weiterhin. Ich wusste es war egoistisch, aber ich konnte nicht mit ihm reden.
Eine Videokonferenz mit Aki, Michael und dem neuen Leiter der Physioabteilung hatte ich geführt. Als ich aber im Kraftraum Roman gesehen hatte, wo der Physiotherapeut skypte, klinkte ich mich nach einer gestammelten Entschuldigung sofort aus. Ihn zu sehen, auf dem Bildschirm, war zu viel für mich. Es würde immer schmerzen.
Knapp drei Wochen war ich aus Dortmund weg, als ich früh am Donnerstag Morgen auf den Gipfel gestiegen war. Ich hatte zwei Stunden am Gipfelkreuz gesessen. Ich hatte geweint, ich hatte meinen Gedanken nachgehangen. Als ich dann aber nach dem Abstieg in der Einfahrt ankam traf mich fast der Schlag.
Karin stand dort. Sie sah mich eindringlich an. "Ich weiß nicht warum, aber ich musste gucken, ob Du hier bist! Irgendwas trieb mich her.", gab sie an. Ohne ein Wort ging ich ins Haus.
Ich bat sie rein. Mit einer Flasche Orangensaft und zwei Gläsern gingen wir auf die Terrasse. Dort hatten wir Schatten, dort blickten wir über gepflegte Beste auf das Bergpanorama. Sie schwieg, bis wir sassen.

"Roman geht es schlecht!", begann sie in einem sanften Tonfall. Da war er, der Hinweis auf das was ich angerichtet hatte. Ich wusste, das es ihm nicht gut gehen konnte, weil es mir nicht gut ging. Ich hatte ihm das angetan. Mein Magen zog sich zusammen, der gefühlte Schmerz wurde brennend schlimmer. Meine Augen brannten. Ich wartete auf Vorwürfe. Ich nickte nur. "Dir geht es schlechter!", bemerkte sie. Mein Blick schnellte zu ihr. Sie griff meine Hand, streichelte meine Wange, was die erste Träne kullern ließ. "Was ist passiert? Roman hat nichts gesagt! Zumindest nicht viel.", wollte sie wissen. Ihre Stimme klang einfühlsam, kein bisschen vorwurfsvoll.
"Ich war schwanger.", flüsterte ich. Jetzt begannen meine Schultern zu zittern, das Weinen ließ meinen ganzen Körper zittern. Karin zog mich in eine mütterliche Umarmung. Zusammengekauert lag ich neben ihr. Mein Kopf in ihrem Schoss. Sie streichelte meine Wange, über mein Haar, ganz so wie es auch meine Mutter getan hätte. "Wolltet ihr es nicht?", kam eine behutsame Frage. "Es war eine Überraschung, aber wir wollten es, aber wir konnten es nicht bekommen, es war eine Eileiterschwangerschaft. Wenn es nach Roman ginge, hätten wir drei oder vier Kinder und das sehr schnell!", Karin lachte kurz auf. "Und die Vorstellung mit meinem Sohn eine Familie zu haben ist jetzt so furchtbar! Was ich mir fast nicht vorstellen kann, vom Hören nach hattet ihr immer Spaß miteinander. Ihr liebt euch, ihr wart glücklich. Wie ihr euch immer angesehen habt, das habe ich mir für meine Jungs immer gewünscht.", versuchte sie mich aufzumuntern. Ich richtete mich auf. Ganz kurz huschte ein Lächeln über mein Gesicht. Ich sah sie an, mit Tränen in den Augen.
"Sie mussten den Eileiter mit entfernen und der zweite ist nicht ganz in Ordnung. Ich werde seinen Wunsch nach einer Familie zu 75% nicht erfüllen können. Und ich will nicht diejenige sein, die seinem Traum im Weg steht! Wenn ich könnte würde ich ihm jedes Baby schenken, jedes das er will! Aber ich kann es nicht. Ich werde es nie können.", erklärte ich ihr. "Du stellst also sein Glück über deines? Du machst Dich selber unglaublich unglücklich damit er Kinder haben kann? Damit er seinen Traum leben kann.", wollte sie überwältigt wissen und ich nickte. Sie drückte mich an sich, küsste meine Wangen. "Ich danke Dir, das Du meinen Sohn derart liebst, aber Du kannst ihm diese Entscheidung doch nicht einfach so abnehmen!"
Seufzend nahm ich einen Schluck Saft. "Das stimmt, ich kann nicht. Ich musste es tun. Ich weiß, daß er seinen Familienwunsch begraben würde. Er würde bei mir bleiben und es würde ihm immer etwas fehlen! Ich will nicht, daß er etwas verpasst, das er wegen mir auf etwas verzichtet. Ich möchte nicht, daß er mich irgendwann hasst dafür.", erklärte ich meine Beweggründe weiter. Sie sah mich an, beliess es aber nun dabei.
Sie streckte ihre Beine aus und trank von ihrem Orangensaft. Ihr Blick ging in die Ferne. "Roman ist ein, wie nennt man das heute, Regenbogenbaby. Nach der dritten Fehlgeburt hatten wir aufgeben wollen. Und dann kam Roman, als ich es gemerkt habe war ich in der vierzehnten Woche. Er hat sich nicht bemerkbar gemacht. Er hat uns keine Wahl mehr gelassen. Ich denke oft zurück wie schwer der Verlust war, aber als wir Roman damals das erste Mal im Arm hielten, so winzig, war der Schmerz leichter. Und wenn die vorherigen Babies es geschafft hätten, hätte ich jetzt nicht meinen Roman und nicht Marco. Und Du hättest Roman nicht.", offenbarte sie mir. "Ich habe ihn nicht, nicht mehr!", sagte ich leise.
Dann saßen wir schweigend nebeneinander. Sie hielt meine Hand und ich musste mich meiner Tränen nicht schämen.

Pflichtgefühl - Herz über KroneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt