2.

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2. Kapitel

Montag, 13. April

Ich hasse Mathe. Wenn man denkt, man hätte es verstanden, dann kommt etwas neues dazu und man muss von vorn anfangen. Ich starre auf mein Aufgabenblatt und wünsche mir, ich wäre heute zuhause geblieben. Dann wäre ich jetzt in meinem warmen Bett und könnte Netflix schauen. Stattdessen sitze ich hier und hab mal wieder keine Ahnung, was uns gerade unsere Mathelehrerin beigebracht hat. Meine verzweifelten Gedanken wurden in dem Moment unterbrochen, als die Tür ohne Vorwarnung aufgerissen wird. Natürlich ist es Kadir, der wie ein nasser Hund in der Tür steht und sich umschaut. Scheiße, Vertretungstunde, dass heißt, man kann sich aussuchen, wo man sitzt und die einzigen Stühle, die noch frei sind sind die neben mir und neben Karl. Und jeder hasst Karl. Karl einer dieser Schüler, der immer die Lehrer dran erinnert, dass wir eigentlich einen Test schreiben müssen, der gerne Unterricht macht und der alles besser weiß. „Würdest du uns bitte die Ehre erweisen, uns zu sagen, warum du erst jetzt erscheinst?", fragt unsere Lehrerin und Kadir schaut sie kalt an. "Es regnet.", sagt er monoton und geht auf die hintere Reihe zu. In meine Richtung. Ich rücke meinen Stuhl so weit wie es geht von seinem weg und tue so als wäre ich extrem konzentriert. Aber mir geht sein nasses graues T-Shirt, welches an seiner Brust klebt nicht aus dem Kopf. Ich kenne seinen Oberkörper, da er gerne Oberkörperfrei rumläuft, aber irgendwie ist das was anderes. Vielleicht spielen auch gerade meine Hormone verrückt, weil ich mich danach sehne einem Jungen nah zu sein, der nicht Lukas ist. Sein Parfüm steigt mir in die Nase und ich beuge mich näher an mein Aufgabenblatt. „Auch wenn du das Blatt so intensiv anstarrst. Es wird dir nicht die Lösungen verraten.", sagt er leise und grinst. Ich verenge meine Augen und wünschte meine Augen könnten ihn grillen. „Das weiß ich.", sage ich leise und versucht ruhig. Aber es hört sich trotzdem giftig an. „Darf ich mal sehen?", fragt er jetzt ruhiger und netter. Und ich bin erschrocken, das kenne ich kaum von ihm. Kadir ist ein Mathegenie. „Man muss nicht schlau sein, um das zu verstehen.", sagt er jetzt und ich verdrehe die Augen. War ja klar, dass das jetzt kommt. „Ist wirklich nicht schwer.", sagt Marius jetzt, der sich umgedreht hat. „Hab ich mit dir geredet?", fragt Kadir jetzt aggressiv. Marius hebt die Hände hoch und dreht sich eingeschüchtert um. Jeder macht einen großen Bogen um Kadir, weil er meistens aggressiv und impulsiv handelt. Ich wende mich von Kadir ab und gehe nochmal meine Mitschriften durch, dann lege ich sie zwischen Kadir und mich, damit er abschreiben kann. Auch das Aufgabenblatt lege ich zwischen uns auf den Tisch und dann versuche ich mich an den Übungen. Auch wenn ich Kadir hasse, bin ich kein schlechter Mensch.

Nach der Stunde, nachdem ich gefühlt nur noch aus der aus der Parfümluft von Kadir bestehe, gehe ich so schnell wie möglich aus dem Klassenraum. Ich halte keine weitere Minute neben Kadir aus. Erstens, weil er es nicht lassen konnte mich immer wieder daran zu erinnern, warum Niklas und ich nicht mehr zusammen sind und das Leonie fast immer bei den beiden zuhause ist. Zweitens, weil er mich an seinen Bruder erinnert. Sie sind sich zwar wirklich nicht ähnlich, aber sie sind Brüder. "Hey, warte doch mal kurz", sagt er, aber ich denke nicht mal dran. Seine Finger schlingen sich um mein Handgelenk und ziehen mich zurück zu ihm. Jetzt kann ich seine vereinzelten Sommersprossen sehen, die seine buckeligen Nase verzieren. Seine grünen Augen ruhen auf mir und ich verenge meine zu kleinen Schlitzen. "Was ist? Hast du mich noch nicht genug verletzt?", frage ich ruhig. Zumindest versuche ich so zu klingen, meine Stimme ist dünn und ich fühle mich viel kleiner und schwächer als ich eigentlich bin. "Du hast deinen Taschenrechner vergessen.", sagt er, nachdem wir uns eine gefühlte Ewigkeit angestarrt haben. „Ok, danke", antworte ich überrumpelt und nehme den Taschenrechner entgegen.

„Warum läufst du in unsere Richtung? Musstest du nicht nach Hause?", frage ich Kadir, als wir nach der Schule denselben Weg laufen. "Ja, muss nur meine Sachen holen.", sagt er und ich laufe schneller. „Trotzdem müssen wir ja nicht gleich zusammenlaufen.", sage ich und Kadir grinst. Seine blonden Haare fallen ihm auf die Stirn und bilden Schatten. Schweigend laufen wir weiter und ich mustere sein Gesicht. Er hat sich wieder geprügelt. Sein Kinn ist dicker und die Haut auf seinem Kieferknochen ist aufgeplatzt, aber es interessiert mich nicht. Ich schaue wieder auf den Fußweg. Hier und da haben sich Pfützen gebildet, zwischen den Steinplatten wachsen Unkraut und Moos. Nach zwei Minuten hab ich keine Lust mehr stumm neben Kadir zu laufen und setze meinen Rucksack ab und halte ihn vor meinem Bauch. Ich krame nach meinem Handy und meinen Kopfhörern. Als ich sie aufgesetzt habe und die Musik mich einhüllt, entspanne ich mich heute zum ersten Mal.
Als wir zuhause sind, geht Kadir gleich duschen, nach zehn Minuten lernen, macht sich aber meine Blase bemerkbar. „Warum musst du jetzt duschen? Ich muss aufs Klo, du Blödmann!", schreie ich gegen die mintgrüne Tür. „Ich war den kompletten Tag in nassen Klamotten und ich muss mich hier fertig machen!", ruft er zurück. Ach ja stimmt, die Feier von seinem Vater.
Die Tür wird geöffnet und ich gehe vorsichtshalber einen Schritt nach hinten. Auf Kadirs Brust fließen die Wassertropfen und sein Körper dampft vom heißen Wasser. Als er an mir vorbeigeht, rempelt er mich an.
Beim Händewaschen betrachte ich mein Spiegelbild. Durch meine dünne und kleine Statur kommen meine Haare voller und voluminöser zum Vorschein. Meine hellblonden Haare gehen mir bis zur Schulter und sehen trocken aus. Meine Augen haben eine himmelblaue Farbe und sind eines der einzigen Dinge, die ich an mir mag. Meine große, gerade Nase ist das Zentrum meines Gesichts. Dann kommen meine Wangenknochen, die meinem Gesicht eine reife Form geben. Und meine Lippen, die perfekt geschwungen sind. Plötzlich hört man draußen die Haustür zuknallen. Jetzt bin ich allein. Zufrieden laufe ich wieder zurück in mein Zimmer und widme mich meinen Geschichtshausaufgaben. Erst als ich einen Krampf in der Hand hab, lege ich den Stift beiseite und räume meinen Schreibtisch auf. Danach ziehe ich mir meine Schlafsachen an, mit einem Pullover und mache mir die Pizza von gestern warm. Mit dem aufgewärmten Essen setze ich mich auf die Couch im Wohnzimmer und schaue die Folge von Friends zuende, die ich gestern angefangen hab.

What if I trust youWo Geschichten leben. Entdecke jetzt