16. Kapitel
Samstag, 09. Mai
Schnell setze ich mich auf. Es ist kalt, aber auch gleichzeitig heiß im Zimmer. Im Dunkeln stelle ich meine Füße auf das kalte Parkett und versuche meine Atmung zu kontrollieren. Ich hatte lange keine Alpträume mehr, aber dass ich vor dem Einschlafen, die lauten schmerzerfüllten Schreie von dem Computerspiel der Jungs hören musste, macht es nicht besser. Ich habe von Niklas geträumt, der mich angeschrien hat, weil ich so dumm war um zu glauben, dass er mich tatsächlich geliebt hat. Ich wische mir stumm die Tränen aus dem Gesicht und laufe in Richtung Küche. Stella, der Hund von Oma und Opa folgt mir und beobachtet mich aufmerksam, als ob ich mir etwas antun würde. Ich kraule ihren Kopf und reibe mir die Arme, weil mir plötzlich die Kälte bewusst wird.
Als ich mir das Glas mit Wasser geholt habe, setze ich mich auf die Couch und schalte den Fernseher an. Dank Papa und Luzie haben Oma und Opa Netflix auf dem Fernseher. Ich schaue eine Folge Riverdale, die mich von meinen eigenen Problemen ablenkt. „Maia?", ertönt plötzlich eine tiefe Stimme hinter mir. Ich zucke zusammen und schaue hinter mich, um dort direkt auf den nackten Oberkörper von Kadir. „Warum bist du wach?", frage ich leise. Eingeschüchtert von seiner Anwesenheit. „Dasselbe könnte ich dich fragen.", sagt er und lässt sich neben mich auf die Couch fallen. Ich könnte weiter nach links rutschen und uns würde ein Meter trennen, aber das tat ich nicht. „Darf ich?", fragt Kadir und hebt die kuschlige Decke an, die ich über mir ausgebreitet hab. Ich könnte nein sagen. Ich könnte jetzt auch ins Bett gehen. Aber ich tue nichts davon. Kadir hat mich nicht verletzt. Nicht so wie sein Bruder. Er ist netter. Zu mindestens im Moment. Außerdem bin ich zu kraftlos nach dem Alptraum, um mich jetzt mit Kadir und meinem Gefühlschaos auseinanderzusetzen. Also nicke ich. Er lächelt und kuschelt sich neben mich unter die Decke. „Cool, du guckst auch Riverdale?", bemerkt er jetzt und lehnt sich zurück. „Wollte mal reinschauen.", gebe ich knapp von mir und bewundere die Dramatik von Cheryl Blossom. „Ich liebe sie.", sagt Kadir rau neben mir. „Auf solche stehst du also?", frage ich mit einem leichten Grinsen auf den Lippen. Er schaut zu mir und mustert mein Gesicht, dabei bleibt sein Blick ein wenig zu lange an meinen Lippen hängen. Starrt etwa gerade Kadir meine Lippen an? Panik breitet sich in mir aus. Vielleicht ist er deswegen so nett zu mir, um mich zu verführen und dann fallen zu lassen. Für anderes ist Kadir nicht bekannt. Er hatte noch nie eine richtige Beziehung. Zumindest nicht das ich wüsste. Schnell widme ich wieder meine Aufmerksamkeit auf den Fernseher. Aber ich bekomme kaum was mit, denn ich spüre seinen Blick immer noch auf mir. Ich versuche mich wieder zu entspannen, aber es hilft nichts. Nicht mal der Trick, dass ich alle meine Muskeln anspanne und dann alles wieder entspanne. „Kannst du bitte aufhören mich anzuschauen?", flüstere ich, nicht in der Lage meine Stimme lauter klingen zu lassen. „Mach ich dich etwa nervös?", fragt er und grinst anzüglich. „Ja", gebe ich leise zu und Kadir scheint zu bemerken, dass es mir unangenehm ist und presst seine Lippen zusammen. „Ist es so schlimm?", fragt er plötzlich ernst. Verwundert schaue ich ihn an. Riverdale habe ich schon längst vergessen. Kann ich auch morgen nochmal schauen. „Was meinst du?", frage ich jetzt etwas lauter als vorher. „Ich weiß, dass du seit Niklas Angst vor Bindungen hast. Aber es scheint nicht nur die Angst vor Bindungen zu sein. Ich glaube, du hast Angst vor mir.", sagt er und dreht seinen Körper in meine Richtung. „Warum? Seh ich ihm zu ähnlich? War das wirklich so fies, was ich dir an den Kopf geschmissen hab?", fragt er und ich schlucke, aber ich bleibe stumm.
„Du hast mir wehgetan.", flüstere ich schließlich, nachdem wir uns Minuten angestarrt haben um in dem anderen die Gefühle zu lesen. In seinen Augen ist es Reue. „Nicht einen einzigen Tag hast du mir das Gefühl gegeben es wert zu sein. Du hast mir gezeigt, wie es sich anfühlt verachtet zu werden. Jeden einzelnen Tag, Kadir. Was glaubst du sollte ich sonst dir gegenüber empfinden?", frage ich ihn mutig. Auf Kadirs Gesicht bildet sich Schmerz. „Ich war so blind vor Wut und Eifersucht wegen meinem Bruder, dass er das nettere Leben bekommen hat. Es tut mir so leid, dass ich dich so fühlen lassen hab. Ich werde dir beweisen, dass hinter dem attraktivem Kerl auch ein besonders guter Mensch steckt.", sagt er mit einem arroganten Grinsen und ich verdrehe grinsend die Augen. „Der Anfang klang gut, aber der Rest war Müll. So attraktiv bist du nun auch nicht.", sage ich und Kadir beugt sich vor. „Du findest mich attraktiv, das verrät die Röte deiner Wangen, wenn du mich ansiehst.", sagt er und lächelt mich warm an. Ich spüre, wie die Hitze sich in meinen Wangen ausbreitet. „Das gefällt mir.", sagt er rau und bevor ich etwas erwidern kann ist seine Hand auf meiner Wange. Mir stockt der Atem. Sein Daumen streicht mir sanft über die Haut und ich lehne mich unbewusst in seine Berührung. Er kann so arrogant sein. Ich schlucke und schiebe vorsichtig seine Hand von meiner Wange runter. „Ich kann dir nicht vertrauen.", sage ich leise, als er mich enttäuscht anstarrt. Er presst seine Lippen aufeinander und mustert mich. „Seit wann interessierst du dich so für mich?", spreche ich die Frage aus, die mir die ganze Zeit auf der Zunge liegt. „Ich mein, warum verhältst du dich mir gegenüber so anders?", frage ich, nachdem er meine Frage ignoriert. „Ich bereue mein Verhalten dir gegenüber. Du warst halt da und hast das perfekte Leben meines Bruders vervollständigt. Aber nachdem ich gemerkt hab, dass er dich betrügt, habe ich es nicht gecheckt, dass du es nicht mitkriegst. Die zwei haben sich so oft ohne dich getroffen, während du bei mir und Lukas warst. Ich hätte es dir so gern gesagt, einfach, weil ich ihn genauso hasse, wie du. Du hast einen so tollen Charakter und bist einfach wunderschön.", erzählt er jetzt. Warte mal, hat Kadir gerade mir ein Kompliment gemacht? Verwirrt mustere ich ihn. Aber seine Miene bleibt ernst. „Warum hast du mir das dann einfach nicht gesagt?", frage ich und er schaut mir tief in die Augen, so dass ich vergesse, wie man richtig atmet. Wenn Kadir eines kann, dann einen so intensiv anstarren, dass man vergisst zu atmen. „Du warst so glücklich und ich wollte dich nicht brechen.", sagt er schließlich. „Außerdem wollte ich, dass er es selbst sagt.", fährt er fort und rückt näher. „Aber er hat es mir nicht gesagt.", sage ich ganz leise, dass es eher wie ein Flüstern über meine Lippen kommt. Kadir nickt traurig. „Feigling.", schimpft er und schaut auf seine Hände. „Willst du mir jetzt verraten, warum du hier unten sitzt und nicht in deinem Zimmer liegst und schläfst?", fragt er, als kurz Stille zwischen uns herrscht. „Ich hab von ihm geträumt. Er hat mich angeschrien und war total aggressiv.", rutscht es aus mir heraus. Ich weiß nicht, woher ich plötzlich das Bedürfnis bekommen habe, ihm meinen Traum zu offenbaren. Meine Augen fangen an zu brennen, als ich an den Schmerz zurück denke, den ich gespürt habe, als sei es wirklich passiert. Zwei Sekunden später finde ich mich in den Armen von Kadir wieder. Ich verschränke meine Arme hinter seinem Nacken und ziehe ihn zu mir heran. Immer noch unsicher und verkrampft, denke ich über die Situation nach. Aber sein Geruch benebelt meine Gedanken. Er beruhigt mich, warum auch immer. Aber ich lasse es einfach über mich gehen und genieße seine Nähe. Ich schniefe und lächle. „Jetzt ist deine Schulter voller Rotz und Tränen.", stelle ich schniefend fest und Kadir lacht ganz leise. „Das ist mir gerade völlig egal. Ich will nur, dass du weißt, dass ich dir nicht mehr wehtun will.", sagt er ganz rau. Die Wärme die er ausstrahlt lässt mich wieder müde werden und ich beruhige mich wieder. Ich atme zittrig aus und löse mich vorsichtig von ihm. Auf seinen Lippen liegt ein warmes Lächeln und in dem Moment erinnert er mich an seine Mutter. Ich vermisse Laura. Ihre Liebe zu den Jungs und zu mir, als ob ich auch zur Familie gehören würde. „Wollen wir wieder hochgehen?", frage ich leise und nasal vom Weinen. Kadir benetzt seine Lippen mit seiner Zunge und schluckt hart, so dass sein Adamsapfel hüpft. Dann nickt er und hält mir seine Hand hin. Immer noch verunsichert, aber beruhigter nehme ich seine Hand in meine und er verschränkt seine Finger mit meinen.Vor unseren Zimmern bleiben wir stehen und lächeln beide verunsichert den anderen an. „Gute Nacht, Maia.", sagt er und er spricht es so weich aus, dass ich meine Verunsicherung vergesse. „Gute Nacht, Kadir.", flüstere ich und schlüpfe ins dunkle Zimmer und ins Bett.

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What if I trust you
Ficção AdolescenteMaias Welt ist zerstört, als sie am Morgen über eine Instagram Story erfährt, dass ihr Freund Niklas sie mit ihrer besten Freundin Leonie betrügt. Sie beschließt niemandem mehr zu vertrauen und an sich heranzulassen. Nur Kadir, der Bruder von Niklas...