Kapitel 11

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Schreie. Es waren ihre Schreie, die Loki drei Stunden später aus seinen Schlaf rissen. Er öffnete desorientiert die Augen und blickte verwirrt um sich. Sein Zimmer lag in völliger Dunkelheit und war bis auf den Trickster in seinem Bett leer. Es war absolut still. Loki dachte bereits, dass die Schreie aus einem Traum stammten, als er erneut eine Stimme in der Nacht um Hilfe rufen hörte. Er richtete sich wachsam in seinem Bett auf. Die Schreie kamen aus dem Nebenzimmer.

Darcy! Mit einem Schlag war Loki hellwach. Dem Eisriesen war plötzlich eiskalt, als er die Panik in ihrer Stimme hörte.

„Sie bringen sie um!", dachte er sich entsetzt. Eine Angst wie er sie nie zuvor gekannt hatte, umklammerte sein Herz, als der Trickster mit einem grazilen Satz aus seinem Bett sprang und in das Zimmer der jungen Praktikantin eilte. Zum Glück hatte es Darcy an diesem Abend nicht für notwendig gehalten, die Türe abzusperren. Loki stürzte mit erhobenen Dolchen und brennenden Augen in ihr Zimmer, bereit es mit allen Schergen von Thanos aufzunehmen, die Darcy schaden wollten, aber zu seinem Erstaunen war der Raum leer. Darcy war allein. Die junge Frau lag in ihrem Bett und wälzte sich unruhig hin und her, wobei sie mit den Händen wild in der Luft wedelte, als versuchte sie, Angreifer abzuwehren.

„Nein!", stöhnte sie mit angstverzerrter Stimme. „Bitte nicht! Hilfe!"

Loki blieb einen Augenblick überrascht stehen, bis er begriff. Er ließ die Dolche in seine Händen verschwinden und ging mit großen Schritten an Darcys Bett. Der Trickster packte die junge Frau sanft aber bestimmt an ihrer Schulter.

„Darcy Lewis, duhast einen Alptraum!", sprach er eindringlich auf die Praktikantin ein. „Du musst aufwachen!" Er umfasste vorsichtig ihre Hände, um zu verhindern, dass Darcy sich oder ihn verletzte. „Hörst du mich? Es ist nur ein Traum!", sagte er beschwörend. Loki berührte Darcy kurz an ihrer Wange und in diesem Moment schlug sie endlich die Augen auf.

Darcy blickte ihn mit großen, runden Augen angsterfüllt an. „Loki?", fragte sie mit zitternder Stimme. Lokis Herz wurde klamm vor Sorge um die junge Frau.

„Es ist alles in Ordnung!", sagte er schnell und strich ihr beruhigend über das schokoladenbraune Haar, so wie Frigga das bei ihm immer getan hatte, als er noch ein kleiner Junge gewesen war. „Du hattest einen Alptraum", erklärte der Trickster ruhig. „Ich habe dich geweckt, als ich deine Hilferufe hörte."

Darcy nickte langsam und Loki bemerkte erleichtert, wie ihre Miene sich allmählich entspannte. Tatsächlich wirkte sie plötzlich peinlich berührt.

„Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe", murmelte sie und senkte den Blick. „Ich wollte deinen Schlaf nicht stören." Darcy wandte ihr Gesicht von Loki ab. „Ich bin in Ordnung. Du kannst wieder zurück in dein Bett gehen."

Lokis Blick flackerte irritiert. Weshalb war es ihr peinlich, so von ihm gesehen zu werden? Der Trickster dachte, sie wären über dieses Stadium ihrer Bekanntschaft hinaus. „Nicht sehr wahrscheinlich, Darcy!", entgegnete er knapp und schob sie mit einem Arm sanft auf die Seite,so dass er neben ihr auf dem Bett Platz hatte. Loki streckte seine langen, schlanken Beine auf der Matratze aus, wobei seine Augen sich nicht von Darcy entfernten, die ihn überrascht beobachtete.

„Was hast du geträumt?", wollte der Trickster wissen. Die Praktikantin schwieg eine Sekunde. „Von den Dunkelelfen", antwortete sie schließlich widerstrebend. „Wie sie mich angegriffen haben ..." Lokis Gesicht verhärtete sich. „Sie haben mich umzingelt und ich war unbewaffnet und alleine", fuhr Darcy fort. Sie hatte diesen Traum nicht das erste Mal durchleiden müssen. Die junge Frau runzelte die Stirn als sie sich daran erinnerte, dass der Traum dieses Mal jedoch anders als bisher verlaufen war. War es sonst Darcy gewesen, die alleine und schutzlos von einer Gruppe bewaffneter Soldaten der Dunkelelfen umringt war, war es dieses Mal Loki gewesen, der verletzt am Boden lag, während Krieger von Malekith ihn erbarmungslos angriffen. Es war nicht ihr eigenes Leben, um das Darcy gefürchtet hatte, sondern das von Loki. Seltsam und beunruhigend.

Darcy schüttelte den Kopf um die Emotionen des Traumes abzuschütteln. „Du hältst mich jetzt vermutlich für eine feige Sterbliche, weil ich vor einer Gruppe Dunkelelfen Angst habe", murmelte sie verlegen. Loki lachte bei ihren Worten höhnisch auf. „Angst bewahrt uns vor Gefahren", sagte er ernsthaft. „Nur ein Narr behauptet, nichts zu fürchten!"

Der Trickster schwieg einen Moment, bevor er weiter sprach. „Ich hatte früher auch oft Alpträume", erzählte er.

Darcy hob erstaunt den Kopf. „Wirklich?", fragte sie neugierig. Loki nickte.

„Als Thor und ich noch Kinder waren, erzählte uns meine Mutter jeden Abend wenn es Zeit wurde, in das Bett zu gehen, eine Geschichte", sagte er und lächelte bei der Erinnerung. „Thor liebte die Legenden der großen Schlachten seines Vaters und seines Großvaters gegen die Eisriesen oder die Dunkelelfen. Er konnte nicht genug von ihren Heldentaten und ihren Siegen über gefährliche Monster bekommen." Loki verzog gequält das hübsche Gesicht. „Mir jedoch jagten die Geschichten über Monster und Kriege furchtbare Angst ein und raubten mir nachts den Schlaf." Vielleicht weil ein Teil von ihm bereits damals geahnt hatte, dass er selbst eines dieser Monster war, die sein eigener Bruder so gerne zerstört hätte?

Darcy musterte ihn mitfühlend. „Was hast du dann getan?", fragte sie. Lokis Mundwinkel hoben sich. „Frigga", antwortete er schlicht. „Sie hörte meine Schreie und kam in meine Kammer. Meine Mutter setzte sich zu mir an mein Bett und erzählte mir eine neue Geschichte, eine von der sie wusste, dass sie mir gefallen würde. Märchen voller Magie und Zauberer und magischer Wesen. Sie hörte erst auf zu reden und verließ mein Gemach erst, nachdem ich erneut eingeschlafen war."

Darcy lächelte und lehnte sich unwillkürlich näher gegen Loki. „Das klingt schön!", flüsterte sie. „Das war es", stimmte ihr der Trickster zu. Diese Augenblicke hatten nur Frigga und ihm gehört. Anders als Odin oderThor hatte sie Loki nie für schwach gehalten, weil er für Geschichten voller Krieg und Blutvergießen nichts übrig hatte.Frigga hatte an ihn geglaubt und ihn akzeptiert, so wie er war.

Ehe ihn die Trauer überwältigen konnte, merkte Loki wie Darcy sich an ihn schmiegte und tiefer in ihre Decke kuschelte. „Du musst mir bei Gelegenheit auch eine dieser Geschichten erzählen", murmelte sie. Sie könnte Lokis samtener Stimme stundenlang zuhören.

Der Trickster betrachtete die junge Frau liebevoll. Darcys Kopf lehnte gegen seiner Schulter, ihre Augen waren geschlossen. „Schlaf jetzt, Darcy", sagte er und mit einer Sanftheit, die Loki selbst überraschte, strich er ihr über die Wange. „Nichts kann dir Schaden zufügen, solange ich hier bei dir bin", versprach er ihr.

Darcy seufzte wohlig. „Ja ...", flüsterte sie. „An dir kommt keiner vorbei..." Ihre Stimme wurde schwächer und ihre Atmung entspannte sich. Ihre warme Hand auf Lokis kalter schlief sie langsam ein. Sie schien sich so wohl zu fühlen. Als würde sie keine Sekunde an Lokis Schutz zweifeln. Er erstarrte neben ihr.

„Was mache ich hier eigentlich?", dachte sich Loki. Er war wütend auf sich selbst, weil er sich in diese Situation gebracht hatte. Er sollte jetzt aufstehen und zurück in sein Zimmer gehen, sofort. Das Spiel mit Darcy, hier mit ihr in diesem alten Haus zu leben, als sei er ein normaler Mann, als hätte er ein normales Leben verdient, war gefährlich. Darcy sollte nicht in diese dunkle Welt des Chaos, in der Loki sich bisher so wohl gefühlt hatte, hineingezogen werden.

Trotzdem ...

Loki konnte es nicht über sich bringen, zu gehen. Er wollte Darcys Wärme weiter neben sich spüren. Zumindest für eine Nacht wollte er so tun, als verdiene er ihr Vertrauen und ihre Freundlichkeit. Nur für wenige Stunden wollte er der einen Person nahe sein, die ihn ohne Vorbehalte akzeptiert hatte, mit all seinen Stärken und Schwächen. Der Trickster schloss in einen Akt grimmiger Verzweiflung die Augen. Wenigstens für eine Nacht wollte er alles vergessen, außer Darcy Lewis, die friedlich neben ihm schlief.

Suddenly DarcyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt