Chapter 55

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Meine Zeit in Australien verbrachte ich nicht sehr produktiv. Mein Tag bestand aus essen, schlafen, Serien schauen, Spaziergänge mit den Hunden und Onlineshopping. Ich wollte nicht mal ins Einkaufzentrum gehen. Ich wollte nirgendwo hin, außer zum Strand. Der Strand war bereits mein Lieblingsplatz gewesen. Ich schloss meine Augen, während das Geräusch des Meerrauschens meine Haut in Sekunden in eine Gänsehaut überzog. Meine Füße und Hände vergrub ich in den warmen, nahezu weißen Sand und saß dort für Minuten. Und für einen Moment konnte ich einfach abschalten.

Wenn ich zu Hause war, war ich manchmal wütend - wütend auf Dinge, die meine Energie nicht Wert waren. Jede Kleinigkeit konnte mich binnen Sekunden von 0 auf 100 bringen - ich wusste nicht mal warum. Die Wut kam wie aus dem Nichts. Es geschah einfach.

Manchmal aber war ich traurig. Ich war mir nicht mal sicher, ob dieses komische Gefühl in mir die Trauer war. Ich konnte es kaum beschreiben.

Glücklich war ich aber auch nicht. Ich meinte, ich hatte das Lachen nicht verlernt. Ich konnte lächeln, wenn mir etwas gefiel, ich konnte mit meinem Vater scherzen, ohne mich dabei schlecht zu fühlen, ich konnte gemeinsam mit meiner Mutter lachen, ohne danach in Tränen auszubrechen.

Ich weinte auch nicht mehr. Ich hatte aufgehört damit. Und manchmal jedoch, wenn ich nachts alleine im Bett lag, vergaß ich wie ich mich fühlen sollte. Es war ein Kampf zwischen dem Fühlen und dem vergessenen Fühlen. Wenn die Erinnerungen nicht wären, wäre es vielleicht nicht so kompliziert gewesen.

Ich wünschte, ich könnte ihn hassen, aber es war unmöglich. Ich hasste nur das, was er mir angetan hatte. Ich hasste die Worte, die er nie zu aussprechen schien, wenn wir mal streiteten. Ich hasste es, dass wir nicht persönlich über all das reden konnten. Ich hasste es, dass ich den Mut nicht dazu hatte, ihn um ein normales Gespräch zu bitten. Vielleicht wollte ja ich nicht diejenige sein, die nachgab. Vielleicht wollte ich einfach auf ein Zeichen von ihm warten - ein Zeichen von Sorge, oder vielleicht von einem Funken Liebe.

Der schwerste Teil einer Trennung ist nicht der Abschied. Es ist das Leben ohne die Person, die man liebte, oder gar noch liebt. Man versucht jedes Mal vergeblich diese imaginäre Lücke im Herzen zu füllen, wobei man sich nur selbst verletzt und schadet. Man versucht es, will es wirklich schaffen, doch dann realisiert man, dass man langsam und schmerzhaft daran scheitert.

Ich wollte wissen, ob er sich auch wie ich den Kopf zerbrach. Ich wollte wissen, ob er mich vermisste, oder möglicherweise noch liebte. Weinte er? Bereute er die Sachen, die er zu mir gesagt hat? Trank er noch? Trank er wegen mir? Ich hoffte, es ging ihm gut. Wenigstens einem von uns sollte es gut gehen. Ja, ich wünschte es mir sogar. Ich würde ihn jetzt am liebsten anrufen, um sicher zu gehen, dass er glücklich war... und das ohne mich. Ich wusste, dass er derjenige war, der mir diesen Schmerz in mein Herz zugefügt hatte, doch ich wollte trotzdem nicht, dass er das durchmachen musste wie ich. Kein Mensch verdiente es sich so zu fühlen, wie ich mich gerade fühlte - vor allem nicht Harry.

Ich sollte endlich aufhören, über eine vergangene Beziehung, die wahrscheinlich nichts als eine große Lüge war und sich aber wie die Welt anfühlte, so viel nachzudenken. Ich musste versuchen ihn aus meinem Kopf zu löschen. Doch ich wusste, dass mein Versuch der Tropfen war, der alles zum Überlaufen brachte...

***

Der letzte Tag des Jahres war gekommen. Sieben Uhr morgens und ich lag wie immer im Bett und las mein Lieblingsbuch schon zum fünften Mal, da es mich immer und immer wieder faszinierte. In den vergangenen Tagen hatte sich meine Liebe zu Büchern wesentlich verstärkt. Beim Lesen fühlte ich mich jedes Mal so, als ob ich die Geschehnisse aus dem Buch auch erleben würde. Ich fühlte mich in diesem Buch gefangen. Und ich mochte dieses Gefühl. Sogar sehr.

Nachdem ich das Buch ausgelesen hatte, ging ich mit den Hunden spazieren. Ich trainierte sie und spielte mit ihnen, brachte ihnen neue Tricks bei, bis jeder von uns nicht mehr konnte und erschöpft war. Dieses Programm zog ich seitdem ich in Australien war durch. Es half den Hunden und auch mir fit zu bleiben.

Ich machte mich barfuß durch den heißen Sand gehend auf den Weg nach Hause. Ich sah mich um, genoss das Rauschen des Meeres und das Schreien der Möwen. Ich lief die weißen Holztreppen zum Haus meiner Eltern hinauf, machte die ebenfalls weiße Eingangstür auf, betrat das Vorzimmer und bemerkte die Stille, die ich zuvor nicht wahrgenommen hatte, die hier herrschte. Ich nahm die Leinen von den Hunden ab und schmiss meinen Schlüssel auf den kleinen Tisch neben der großen Haustür.

"Mom? Dad?", rief ich in die vermutlich leeren Räume, doch ich bekam keine Antwort. Ich zuckte mit meinen Achseln, ehe mir einfiel, dass sie gestern Abend auf Hawaii geflogen waren. Die Reise bekamen sie von mir zu Weihnachten. Zuerst wollten sie nicht weg, da sie meinten, es wäre unmenschlich von ihnen, mich zu Silvester alleine in ihrem Haus zurückzulassen. Doch ich bestand darauf und überredete sie, für zwei Wochen auf Hawaii zu fliegen. Sie haben mich zwar mit einem schlechten Gewissen hier in Australien zurückgelassen, doch ich war mir sicher, dass dieses Gefühl nicht lange anhalten würde, da sie auf dieser Insel bestimmt auf andere Gedanken gebracht werden würden. Und wenn es mich stören würde, hier alleine mit den Hunden in Australien zu bleiben, hätte ich es ihnen schon längst gesagt.

Ich lief in mein Badezimmer und nahm dort eine kalte Dusche. Ich zog mich danach an und während ich mein nasses Haar zusammenband, sprang ich in mein Bett, legte meine Hände auf meinen knurrenden Bauch und überlegte mir, was ich mir zum Frühstück machen sollte. Als ich gerade aus meinem Bett hüpfen wollte, klopfte es an meiner Tür. Sofort bekam ich Panik, da meine Eltern und deren Haushälterin, die sich zu Silvester und Neujahr frei genommen hatte, nicht zu Hause waren. Es klopfte erneut. Ich sah mich um und suchte vergeblich nach einem Gegenstand, den ich dem mutmaßlichen Einbrecher über den Kopf ziehen konnte. Doch letzendes fand ich nichts und stand nervös vor der Tür.

"Who's there?", fragte ich und lehnte mich an die Tür, damit sie nicht aufgemacht werden konnte.

"Room service!", ertönte es im Flur. Ich erkannte die Stimme jedoch nicht, was mir umso mehr Angst bereitete.

"Beste Freunde" [ hs.ff ]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt