Kapitel 36

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Noch am späten Abend waren sie in Arlagon eingetroffen. Nach einem bescheidenen Mal waren sie schlafen gegangen. Als Siena am Morgen erwachte, schaute sie zunächst aus dem Fenster ihres Zimmers. Sie hatte diesen Blick schon immer geliebt. Sie konnte sich erinnern, dass sie als kleines Mädchen eigens eine Truhe vor das Fenster hat stellen lassen, um hinauf klettern zu können. Nur so war es ihr möglich, den Blick aus dem Fenster zu werfen.

Unter ihr lagen der Burghof und etwas weiter weg das Dorf. Dahinter breiteten sich die Felder und Äcker aus. Die Bewohner sahen aus, wie kleine Ameisen, die emsig hin und her liefen. Die liebste Jahreszeit war ihr der Sommer, wenn die Kornfelder gelb zu ihr heraufleuchteten und der Wald ganz hinten ein sattes Grün hatte. Von hier aus erschien ihr die Welt so friedlich.

Gerudin schlief noch. Doch Siena trieb es nach draußen. Sie zog sich an und schlenderte durch die Gänge. Das war nun ihre Burg, sie war die Alpha und sie hatte das Sagen. Ohne lange nachzudenken, ging sie in die Küche. Als sie die Tür öffnete und hineinschaute, fiel ihr sofort auf, dass alles neu war. Der Raum war heller und freundlicher, es standen zahlreiche Maschinen herum und es herrschte ein reges Treiben.

„Hast du nichts zu tun? An die Arbeit", wurde sie angebellt.

Siena blickte etwas überrascht drein. Dann fiel ihr Blick auf Linda, die wie erstarrt vor ihr zum Stehen gekommen war.

„Alpha ... Seine ... ach du Scheiße ... verzeiht! Das war ein Missverständnis", stotterte die Küchenchefin. „Ich habe Euch, Sie, dich nicht erkannt. Ich dachte, es wäre Marie. Wo ist die bloß."

„Mach dir keine Sorgen, Linda", kicherte Siena versöhnlich und legte der verdutzten jungen Frau einen Arm ganz freundschaftlich auf die Schultern. „Die Küche sieht echt viel besser aus."

„Und es lässt sich viel besser arbeiten", ergänzte Linda.

„Wie geht es Euch allen?", rief Siena in den Raum.

Einen Moment herrschte absolute Stille. Alle drehten sich zu Siena um. In ihren Gesicherten konnte sie lesen, dass sie nicht wussten, ob sie nun wirklich angesprochen waren.

„Ja, Euch meine ich. Oder seht Ihr jemand anderen?"

„Oh, Verzeihung", sagte eine junge Frau, die neu in der Küche war. Siena hatte sie hier noch nie gesehen.

„Es ist ein Traum", antwortete eine etwas ältere Frau. Sie war der Alpha gut bekannt. Sie hatte sie öfters vor der alten Küchenchefin in Schutz genommen und dafür selbst gelitten.

„Und wie ist Linda?", erkundigte sich Siena.

„Einfach super!", hallte es aus allen Ecken der Küche.

„Dann war meine Entscheidung nicht so schlecht?", grinste Siena.

„Das Beste, was uns hat passieren können", sagte die ältere Frau von vorhin und alle anderen stimmten ihr zu.

„Dann macht weiter. Danke für Euren Einsatz", sagte Siena. „Auf Wiedersehen."

„Die Alpha kommt in die Küche", hörte Siena ein Mädchen flüstern. „Das hätte es früher nicht gegeben. Sie ist wirklich eine gute Alpha."

Siena hatte das nur noch dank ihres besonders guten Gehörs mitbekommen. Deshalb reagierte sie nicht drauf. Schließlich waren die anderen im Glauben, sie hätte es nicht hören können. Sie schlenderte also in den großen Speisesaal, um zu Frühstücken. Dort traf sie auf Vera. Als diese Siena erblickte, sprang sie sofort auf.

„Hallo Siena, wie geht es dir?"

„Danke und dir?"

Vera blickte die Alpha an und bekam wässrige Augen. Eine Träne löste sich sogar und kullerte ihr über die Wange.

„Was ist los", wollte daraufhin Siena wissen.

Sie überbrückte die wenigen Schritte und nahm die junge Frau liebevoll in den Arm. Sie drückte sie an sich und streichelte ihr über den Rücken.

„Was ist los?", wiederholte sie.

„Ich bin so glücklich. Du hast keine Ahnung!"

„Dann ist ja alles gut?", beruhigte Siena das junge Mädchen.

„Hier sind alle so freundlich, reden und scherzen zusammen und helfen sich. Du hast auch keine Ahnung, wie sehr dich alle verehren."

„Dabei habe ich doch nichts getan", wehrte Siena ab.

„Du bist eine Alpha, wie es sie noch nie gegeben hat. Du stellst dich zurück und kümmerst dich um alle. Ich kenne das nicht. In Gorland traut keiner keinem, alle sind bedrückt und vor dem Alpha haben alle Angst. Was hatte ich für ein Glück, dass ich mit meinem Bruder fliehen konnte."

„Wie wirst du als Luna-Assistentin aufgenommen?"

„Einfach unglaublich. Alle helfen mit, alle sind froh, wenn ich etwas mache und es macht unglaublich Spaß. Ich hätte nie gedacht, dass ich so schnell so gut aufgenommen werde. Schließlich komme ich von einem fremden Rudel, das Euch zudem auch noch angegriffen hat."

„Du und dein Bruder haben ihre Alpha gerettet. Vergiss das nie!"

„Ich glaube eher, die Alpha hat mich und meinen Bruder gerettet. Hättest du meinen Vater nicht beim Verlassen des Kerkers besiegt, wären wir beide mit Sicherheit tot oder müssten für die Versuche deines Onkels herhalten."

„Vergessen wir, was war und schauen in die Zukunft. Wir haben noch viel vor uns. Wir müssen meinen Onkel daran hindern, andere anzugreifen und wie müssen diese Welt anschließend zu einem friedlichen Ort machen."

„Das klingt gut", lächelte Vera.

„Übrigens, ich bin nun auch Alpha von Wersilia. Da ich nicht überall gleichzeitig sein kann, vertritt mich dort der Beta. Dessen Frau habe ich damit beauftragt, die Luna für das Rudel zu sein. Sie heißt Violetta. Ich würde vorschlagen, du triffst dich in den nächsten Tagen mit ihr, damit ihr Euch kennenlernt und Ideen austauschen könnt. Schon bald wird es ein Kommunikationsnetz geben und ihr könnt Euch auch darüber austauschen."

„Du bist Alpha von zwei Rudel? Das gab es noch nie!"

„Ihr Alpha hat mich zum Kampf herausgefordert. Offenbar drehen die alten Alpha alle durch", lächelte Siena. „Tatsache ist nun aber, dass wir vor Herausforderungen gestellt sind, weil es so etwas noch nie gegeben hat. Gleichzeitig aber bietet uns diese Situation Chancen, die wir ergreifen sollten."

„Ich werde Violetta besuchen und habe auch schon verschiedene Ideen."

„Das mag ich an dir", lobte Siena.

Gerade als sie den ersten Schluck von ihrem Kaffee nehmen wollte, gab es lautes Getöse und Nefta kam in den Saal gestürmt.


„Wir werden angegriffen, wir werden angegriffen", rief er.

„Von wem?", wollte Siena wissen und sprang auf.

„Es sind Krieger aus Gorland."

„Führt sie mein Onkel an?"

„Ja."

„Wie ist die Lage?"

„Sie haben den ersten Sicherheitswall überwunden und sind auf dem Weg hierher."

„Verstärkt sofort die Wachen um das Dorf. Sie dürfen nicht die Gelegenheit bekommen, dort einzufallen. Bringt zudem alle Frauen, Kinder, Kranke, Alte, also alle, die nicht kämpfen können, in den Burghof", wies Siena den Chef der Wache an. „Ich komme gleich selbst zum Tor."

Kampf um ArlagonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt