Kapitel 2

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Siena und Floyd streiften nun schon seit rund einer Stunde durch das Dorf. Es war Markttag und Siena bewunderte wie schon so oft die Kleider, die dort feilgeboten werden. Obwohl sie die Tochter des Alpha war, hatte sie sich noch nie etwas kaufen dürfen. Ihr Vater gab ihr trotz bitten und flehen kein Geld. Sie würde es sowieso nur für Dummheiten oder Süßigkeiten ausgeben, gab er ihr immer zur Antwort, wenn sie ihn doch wieder einmal um ein paar Münzen bat. Inzwischen hatte sie es aufgegeben und schon seit Jahren nicht mehr gefragt.

Sie war noch nie sonderlich glücklich darüber gewesen, die Tochter des Alpha zu sein. Sie hatte sich immer gefragt, was der Vorteil dabei sein sollte. Seit Kindertagen war sie in der Burg eingesperrt. Nur in Begleitung von Wachen und auch das nur in Ausnahmefällen hatte ihr Vater erlaubt, dass sie die schützenden Mauern verlassen durfte. Doch auch das kam höchst selten vor. Sie verbrachte fast ihr ganzes bisheriges Leben hinter diesen Mauern. Wären da nicht die heimlichen Ausflüge ins Dorf durch den Geheimgang gewesen, hätte sie keinen blassen Schimmer davon gehabt, wie die Welt draußen aussah

Kein Ausgang, kein Geld und nur altmodische Kleider tragen, das sollte ihr Leben sein. Darauf hätte sie liebend gerne verzichtet. Siena war zwar die Tochter des Alpha, besaß aber nur Kleider, die kein anderes Mädchen in ihrem Alter jemals tragen würde, weil sie überhaupt nicht mehr zeitgemäß oder modisch waren. Das war auch kein Wunder, wenn eine fast 70 Jahre alte Schneiderin bestimmen durfte, was sie tragen sollte und was nicht. Die war ja von vorgestern!

Dafür glauben alle, sie würde als Tochter des Alpha im puren Luxus leben. Dem war aber nicht so. Sienas Vater war ein ausgesprochener Geizkragen und spart besonders bei sich und seiner Familie. Dabei gab es doch nur noch sie zwei. Ihre Mutter war bei einem Unfall gestorben, da war Siena gerade mal sieben Jahre alt gewesen. Ihr Vater hatte sich daraufhin sehr zurückgezogen und manchmal hatte Siena den Eindruck, als habe sie damals nicht nur ihre Mutter, sondern gleich beide Eltern verloren. Zum Glück hatte sie ihre Freunde. Sonst wäre sie völlig vereinsamt.

„Junge Frau, soll ich Ihnen die Zukunft vorhersagen?", rief plötzlich eine Wahrsagerin. Sie riss Siena aus ihren trüben Gedanken.

„Äh, ja, nein, äh, ich habe kein Geld", stotterte Siena entschuldigend.

„Du bist eine wichtige Persönlichkeit. Von dir nehme ich kein Geld", antwortete die Alte.

„Ich und eine wichtige Persönlichkeit?", staunt Siena. „Ich doch nicht."

„Heute noch nicht. Aber du wirst es schon bald sein, sehr bald."

Siena war, wie alle Werwölfe neugierig. Deshalb wollte sie sich diese Gelegenheit einfach nicht entgehen lassen und folgt der Frau in ein Zelt, das am Markplatz ein wenig hinter den Verkaufsständen versteckt war. Drinnen war alles düster und Siena wurde nun doch etwas mulmig zumute. Sie wollte sich aber nichts anmerken lassen und gab sich tapfer. Als ihr die Alte einen Platz am Boden anbot, kauerte sie sich im Schneidersitz nieder. Sie saß vor einer Feuerstelle. Die Wahrsagerin hingegen begab sich auf die gegenüberliegende Seite und ließ sich dort ebenfalls nieder.

Mit wachen Sinnen verfolgte Siena, was die Frau tat. Sie legte ein einzelnes Holzscheit in die erkaltete Feuerstelle, goss eine klare Flüssigkeit drüber, murmelte eine unverständliche Formel und schon loderte ein kleines Feuer empor. Wie durch Zauberhand hatte sich das Feuer entfacht, ohne Zutun der Frau.

„Du wirst schon bald Verantwortung übernehmen müssen, das spüre ich deutlich", sagte die Frau.

„Du wirst einen langen Kampf führen müssen, der dich viel Kraft kosten wird. Hüte dich vor falschen Freunden und achte darauf, wem du vertraust. Die Verräter sitzen mit dir am Tisch", fuhr die Frau in ihrer krächzenden Stimme fort.

„Was für einen Kampf muss ich führen?", bohrte Siena nach.

„Die Verantwortung für viele Menschen und Werwölfe wird auf deinen Schultern lasten. Du tust es für sie. Das darfst du niemals vergessen."

„Auch für Menschen?"

„Ja, auch für Menschen."

„Aber worum geht es?"

„Das kann ich dir nicht sagen."

„Werde ich es schaffen?"

„Du musst dich auf deine Kraft und Stärke verlassen. Und du musst vor allem dir selbst treu bleiben und auf dein gesundes Urteilsvermögen vertrauen. Nur so kannst du den Kampf zu einem positiven Abschluss bringen."

„Aber werde ich es am Ende schaffen?"

„Das steht noch nicht fest. Es hängt sehr viel von deinen Entscheidungen ab."

Siena war aufgewühlt. Sie glaubte an übernatürliche Kräfte und sie glaubte an Weissagungen. Aber mit diesen wenigen Anhaltspunkten konnte sie nicht viel anfangen.

„Was kannst du mir sonst noch sagen?"

„Im Augenblick noch nichts. Die Zukunft verändert sich und du wirst ein wichtiger Teil davon sein."

„Aber das, was du mir gesagt hast, ist wenig."

„Mehr kann ich dir leider nicht bieten. Leider! Doch denk immer an meine Worte!"

Frustriert stand Siena auf und verließ das Zelt. Sie murmelte noch einen Dank, verbunden mit einem Gruß. Das gebot ihr ihre gute Erziehung. Sie war allerdings in Gedanken noch immer bei dem, was die alte Frau gesagt hatte. Ihre Worte ergaben einfach keinen Sinn.

„Und, was hat sie dir alles verraten?", wollte Floyd wissen.

„Nicht viel. Es waren nur einzelne Sätze, die etwas wirr klangen. Ich bin mir nicht sicher, ob die Alte nicht doch etwas dement ist."

„Naja, zumindest hast du kein Geld verschwendet", meinte Floyd.

Im nächsten Moment machtesich Siena auch schon auf den Weg zurück zum Wasserfall. Sie schien noch immerverwirrt und vor allem nachdenklich zu sein. Floyd blickte ihr ein paarSekunden überrascht hinterher und stellte sich die Frage, was in dem Zelt wohl vorgefallensein konnte. So einsilbig und nachdenklich kannte er seine Freundin nicht. Er beeiltesich dann aber doch, sie einzuholen. Sie zwängten sich durch das Gestrüpp zumWasserfall. Siena blickte sich aufmerksam um, bevor sie hinter demherabfallenden Wasser verschwand und in den Tunnel schlüpfte. Sie war immerausgesprochen vorsichtig, damit ja niemand ihr Geheimnis entdecken konnte. Daswar schließlich ihr Tor in eine kurze Freiheit.

Kampf um ArlagonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt