Kapitel 42

160 7 0
                                    

Siena stand in menschlicher Gestalt auf der Anhöhe vor Gorland. Von diesem Hügel aus hatte sie bereits bei ihrem ersten Besuch auf die Burg ihres Onkels hinabgeschaut. Sie hatte die Strecke bis hierher als Wolf zurückgelegt. Da sie darauf bestanden hatte, keine Wachen mitzunehmen, konnte sie die Strecke ausgesprochen schnell zurücklegen. Sie hatte eine Begleitung mit dem Argument abgelehnt, dass in Arlagon jeder Mann gebraucht werde und sie ihr sowieso keine Hilfe sein konnten.

Noch am Nachmittag hatte Nefta zwei Boten losgeschickt, die sich über den Hintereingang geschlichen und auf dem Weg nach Wersilia und Oristin gemacht hatten. Vermutlich hatten sie ihre Ziele bereits erreicht und würden mit Gerundium und Terus sprechen. Vor allem Vera war der Abschied sehr schwergefallen. Aber auch die anderen waren in Sorge. Nur Siena selbst war entspannt. Sie war aber sichtlich gerührt von dem Wohlwollen und der Liebe, die ihr entgegengebracht wurde. Selbst Linda, die Chefin der Küche, konnte nicht an sich halten. Als sie ihr zum Frühstück ein Stück Schokokuchen brachte, umarmte sie ihre Alpha ganz spontan. Sie hatte Tränen in den Augen.

Nun blickte Siena von der Anhöhe herab auf Gorland. Sie hatte sich kurz vor dem Ziel bewusst in einen Menschen zurückverwandelt. Serbin sollte auf keinen Fall ihre Wölfin sehen. Sie wusste nicht warum, aber Siena war trotz der kritischen Situation vollkommen ruhig. Sie würde sich auf diese Mission konzentrieren und nicht durch Angst oder sonst eine Regung ablenken lassen.

Entschlossen machte sich Siena auf den Weg. Sie durchquerte dabei bewusst das Dorf. Nur wenige Menschen zeigten sich und auch diese blickten Siena misstrauisch an. Viele verschwanden schnell in den Häusern und selbst die Kinder schienen regelrecht zu flüchten. So etwas hätte es in Arlagon nicht gegeben. Natürlich gab es dort auch schüchterne Kinder, die meisten waren allerdings neugierig und hätten sie beobachtet und wären ihr gefolgt.

„Na, mein Kleiner, wie geht es dir?", erkundigte sie sich.

Der Bub, der offenbar mit etwas beschäftigt war, drehte sich ruckartig um. Er hatte sie offenbar nicht gehört. Panik stand in seinen Augen. Siena hatte noch nie so etwas gesehen.

„Keine Angst, ich tu dir ganz bestimmt nichts. Ich bin nur eine junge Frau, die dir sicher nichts Böses will."

„Ich soll aber mit niemand reden."

„Mit keinen Fremden, nehme ich an."

„Mit niemandem!"

„Auch nicht mit deinen Freunden?"

„Mit welchen Freunden?"

„Mit denen du Fußball spielst oder sonst deine Zeit verbringst."

„Was ist Fußball?"

Siena war völlig überrascht. Ein Junge, der nicht wusste, was Fußball war. So etwas hätte es in Arlagon nicht gegeben. Sie sah aber auch, wie der Bub Angst hatte. Er zitterte am ganzen Körper.

Plötzlich ging eine Tür auf und eine Frau schaute heraus. Als sie Siena bemerkte, wurde ihr Blick feindselig, sie kam eilig aus dem Haus gelaufen und packte den Jungen grob am Arm.

„Was machst du da? Du sollst mit niemandem sprechen. Schon gar nicht mit Fremden."

„Die Frau hat mich angesprochen. Ich konnte nicht mehr abhauen."

„Ich habe ihm nichts getan. Sie brauchen vor mir keine Angst haben", versicherte Siena.

„Das behaupten alle", giftete die Frau sie an. „Verschwinden Sie!"

Die Mutter lief mit dem Buben auf die Haustür zu, verschwand mit ihm darin und ließ Siena einfach draußen stehen. Diese schüttelte den Kopf, drehte sich um und ging weiter. Je mehr sie über das, was gerade geschehen war, nachdachte, umso schockierter war sie. Die Menschen hier hatten Angst, panische Angst.

Kampf um ArlagonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt