Kapitel 17

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Die Zeit verflog. Siena plauderte gerne mit Gerudin und sog seine Worte in sich auf. Sie vergaß für ein paar Stunden sogar, wo sie sich befand. Ihr war egal, ob sie im Kerker einsaß oder nicht. Hautsache er war bei ihr.

„So, wir müssen langsam raus hier", meinte er und grinste.

Dabei zog er aus seiner Hosentasche einen Schlüssel und sperrte damit die Zelle auf. Siena schaute ihm dabei staunend zu.

„Hättest du das nicht schon früher machen können?"

„Und was, wenn jemand gekommen wäre. Wie hätte das ausgesehen?"

„Glaubst du, da wäre noch jemand gekommen?"

„Meinem Vater wäre es schon zuzutrauen. Er hat ein Auge auf dich geworfen. Deshalb hat er mich, seinen eigenen Sohn, mit der Bewachung beauftragt. Er traut nur mir und das auch nicht wirklich. Er hat Angst, dass dich jemand anfasst, vor allem in der Nacht."

„Eifersüchtig ist der Mann auch noch", kicherte Siena.

„Eifersüchtig oder besitzergreifend, such es dir aus?"

„Und um diese Zeit sind wir vor ihm sicher?", erkundigte sich Siena.


„Keine Ahnung, aber irgendwann muss er doch auch schlafen und wir müssen es riskieren, wenn wir nicht ewig hier herumwarten wollen", antwortete er. „Mein Vater ist Frühaufsteher. Außerdem ist es um diese Zeit weitgehend ruhig in der Burg und wir haben genügend Zeit, um einen möglichst großen Abstand hinter uns aufzubauen. Das sich doch ideale Voraussetzungen."

Er reichte ihr die Hand und zog sie galant aus der Zelle. Anschließend ging er zur Tür und öffnete sie vorsichtig einen Spalt, um nachzusehen. Er schaute hinaus und öffnete dann ganz. Der Gang war leer und er zog Siena an der Hand hinter sich her. Sie schlichen leise durch das düstere, nur von Fackeln schwach beleuchtete Gewölbe. Sie gaben sich große Mühe, kein Geräusch zu verursachen. Als sie aber um eine Biegung kamen, stand plötzlich Ferim vor ihnen. Alle drei brauchten eine kurze Zeit, um die Situation zu erfassen.

„Du Verräter!", zischte er. Seine Augen waren weit aufgerissen und auf seinen Sohn fixiert.

Siena reagierte blitzschnell, als ihr klar wurde, dass er sich in seinen Wolf verwandeln würde. Sie schob Gerudin hinter sich und verwandelte sich ebenfalls. Sie tat dies, ohne lange zu überlegen. Es war ein Reflex. Zum Glück hatte sie, ohne es zu wissen, inzwischen tatsächlich die Kontrolle wiedererlangt. Die Verwandlung ging blitzschnell und schon standen sich ein großer dunkelgrauer Wolf und ein noch größerer weißer Wolf gegenüber. Siena griff sofort an, als sie bemerkte, dass ihr Gegner zögerte. Offenbar war er überrascht von ihrer Wölfin. Ob es nun die Tatsache war, dass sie sich überhaupt verwandeln konnte oder ob es an der Größe lag, das konnte sie nicht einschätzen. Das interessierte sie aber auch nicht. Siena zögerte keinen Augenblick, sie sprang dem steif dastehenden Ferim an die Kehle und hatte sie mit einmal zuschnappen durchgebissen. Er hatte nicht einmal den Hauch einer Chance, irgendwie zu reagieren. Noch bevor er einen Laut von sich geben konnte, sackte er leblos zu Boden. Sofort wandelte sich Siena zurück.

„Entschuldige, es musste schnell und so lautlos wie möglich gehen", sagte sie schulterzuckend zu Gerudin.

Dieser starrte sie immer noch an. Er brachte die längste Weile kein einziges Wort heraus. Erst mit der Zeit konnte er sich wieder fangen.

„Du kannst dich wieder verwandeln?"

„Offenbar. Das war ein Reflex. Ich wollte dich schützen."

„Das hast du auch. Du hast mir das Leben gerettet. Danke! Mein Vater hätte mich auf der Stelle zerfleischt. Hast du den Hass in seinen Augen gesehen? Ich hätte nie im Leben eine Chance gegen ihn gehabt. Er ist immerhin der Beta des Rudels."

„Er war zu allem bereit. Entschuldige, dass ich ihn getötet habe."

„Er hat es nicht anders verdient", antwortete Gerudin. „Aber deine Wölfin ist gewaltig. Gegen dich hatte er keine Chance."

„Ich bin eine Alpha und ich habe oft und hart trainiert."

Das sagte sie nicht ohne Stolz. Ihre Wölfin bedeutete ihr viel und in der Zeit, in der sie sie nicht spüren konnte, hatte sie sehr darunter gelitten.

„Wir müssen weiter", mahnte sie Gerudin.

Er ergriff erneut ihre Hand und zog sie hinter sich her. Sie schlichen hinauf ins Erdgeschoß, mussten sich dort an der Wand entlangdrücken, um unbemerkt zu einem Hintereingang zu gelangen. Dort trafen sie auf ein etwa 15 Jahre altes Mädchen.

„Das ist Vera, meine Schwester", stellte Gerudin sie flüsternd vor. „Und das ist Siena, meine Mate."

„Hallo", sagte das Mädchen schüchtern.

„Hallo", antwortete Siena.

„Kommt, wir müssen weiter", drängte Gerudin.

Von der Stelle an der Rückseite der Burg gelangten sie über eine Mauer hinunter auf die Wiese neben der Burg. Gerudin hatte im Laufe des Tages dort eine Leiter deponiert. Als Wölfe hätten sie auch springen können, aber er konnte nicht mit Sicherheit davon ausgehen, dass Siena sich bis dahin bereits verwandeln könnte.

An der Außenmauer der Burg entlang schlichen sie weiter auf den nahegelegenen Wald zu. Als sie endlich zwischen den Bäumen eintauchen konnten, atmete Gerudin deutlich hörbar auf.

„Ich denke, wir haben es geschafft", meinte er.

„Freu dich nicht zu früh. Mein Onkel wird nicht ruhen, bevor er mich nicht wieder eingefangen hat", ermahnt ihn Siena.

Gerudin senkte etwas schuldbewusst den Kopf und schlich weiter. Ihm wurde bewusst, dass seine Euphorie fehl am Platz war. Sie erreichten eine Viertelstunde später eine Höhle, in der bereits die fünf Wachleute von Siena auf sie warteten. Außerdem standen drei zusätzliche Pferde für sie bereit. Nach einem kurzen Gruß schwangen sich alle in den Sattel und ritten los. Im gestreckten Galopp ging es einen Waldweg entlang. Durch den moosigen Boden wurden die Geräusche der Pferde gedämpft. Nach einigen Kilometern erreichten sie einen Fluss und durchquerten ihn. Allerdings folgten sie dem Flusslauf einige Kilometer im seichten Wasser. Damit würden sie die Hunde verwirren, sollten die Verfolger, welche einsetzen.

„In Kürze erreichen wir den ersten Ring der Wachen. Wir müssen vorsichtig sein", mahnte Gerudin.

Siena konzentrierte sich noch stärker auf ihre Sinne und schon bald konnte sie Wachleute ausmachen. Ihr Gehör und der Geruchssinn waren höchst sensibel. Auch das ein Zeichen, dass sie ihre vollen Fähigkeiten wiedererlangt hatte. Sie hob die Hand und alle bleiben stehen.

„Es sind zweit. Die erledige ich", meinte Siena.

Die Wachen wollten protestieren, da es schließlich ihre Aufgabe war, ihre Alpha zu beschützen. Aber Siena brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. Sie stieg ab, verwandelte sich und schlich, ohne auch nur das leiseste Geräusch zu machen, auf die Wache zu. Die Wartenden vernahmen nur ein leises Knurren, dann schien schon wieder alles vorbei zu sein. Zumindest blieb es danach völlig still. Wenig später kam Siena aus dem Unterholz und schwang sich erneut aufs Pferd.

„Wir können", sagte sie nur.

Ihre Begleiter warfen ihr einen bewundernden Blick zu und stiegen ebenfalls in den Sattel. Erneut setzten sie ihren Weg schweigend fort. Sie wussten, dass sie schnell und ohne Aufsehen zu erregen weiterkommen mussten. Gerudin staunte, denn seit dem Zusammentreffen mit den Wachen übernahm Siena die Führung. Er stellte sich zwar die Frage, wie sie sich zurechtfinden konnte, da sie noch nie in dieser Gegend gewesen sein konnte, aber er hatte an ihrer Wahl der Route nichts auszusetzen.

Siena suchte sich gezielt den dichten Wald aus, der ihnen perfekten Schutz bot. Nur einmal mussten sie über eine offene Wiesenfläche reiten. Siena blieb einen Moment stehen und lauschte. Dann trieb sie ihr Pferd an und überquerte mit ihrem Gefolge dicht hinter sich das Gebiet im gestreckten Galopp. Offenbar wollte sie die offene Fläche schnell hinter sich bringen.

Als sie wieder den Schutz des Waldes erreicht hatten, blieb Siena stehen und blickte, geschützt von weit herabhängenden Ästen, auf die freie Fläche. Es dauerte nicht lange, da tauchten Wachen auf. Als Siena sah, dass sie in eine andere Richtung unterwegs waren, wendete sie ihr Pferd und setzte, ohne ein Wort zu verlieren, den Weg fort.

Kampf um ArlagonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt