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Als ich 13 Jahre alt war zog mein Bruder von Zuhause aus. Zwischen uns liegen gute 7 Jahre und ich schiebe es auf den Altersunterschied, dass wir uns so fremd sind. Ich war immer neidisch auf die Kinder, deren Geschwister ungefähr im gleichen Alter waren. Sie konnten miteinander spielen und fernsehen, wohingegen mein Bruder mich nur missmutig babysitten musste. Und als ich dann in ein Alter kam, wo man mal zusammen hätte ein Bier trinken können, da war er schon fast erwachsen und interessierte sich für Dinge wie teure Autos und Bausparverträge. Ja, wir sind sehr verschieden.

„Und wie läuft die Arbeit?", fragte ich meinen Bruder aus Mangel an anderen Ideen, worüber wir uns unterhalten könnten. Er saß mir gegenüber am Esstisch unserer Eltern und schlürfte seinen Kaffee, den unsere Mutter uns wieder, ohne zu fragen, eingeschenkt hatte. Er besuchte sie regelmäßig und heute hatte meine Mutter ihn unter dem Vorwand eingeladen, dass er doch seinen kleinen Bruder mal wiedersehen müsste. Also ich würde auch wunderbar als Einzelkind klarkommen, aber tief im Inneren war ich ihm dankbar, dass er in unserer Heimatstadt geblieben war und sich im Notfall um unsere Eltern kümmern konnte. Nicht, dass sie krank waren oder so, aber wenn man seine Eltern alt werden sieht wird einem auch ihre unvermeidbare Vergänglichkeit bewusst, so wie die Eigene.

„Ganz gut, wurde in der Firma befördert, mache jetzt mehr Büroarbeit, aber dafür kriege ich auch mehr Geld", verkniffen schaute er mich an. Er versuchte wohl zu lächeln, doch es sah eher aus, als hätte er Verstopfungen.

„Schick, schick!", stieß ich gespielt anerkennend aus. Er nickte nur langsam als Antwort. Toll, und jetzt? Was sollte ich noch sagen? Mein Bruder war ungefähr so spannend, wie sein Bausparvertrag.

„Sag mal, hast du Schwierigkeiten?", durchbrach er schließlich die Stille.

Ich stutzte.

„Was meinst du?"

„Na deine Schürfwunde da am Kinn", antwortete er und deutete auf mein Gesicht.

Ich schluckte. Seit dem Zusammenprall mit den Hafenarbeitern fühlte ich mich benommen. Der Vorfall hatte mich ganz schön aus der Bahn geworfen. Als sie abgehauen waren, hatte ich mich schnell aus dem Staub gemacht, aus Angst sie könnten wiederkommen. Wer weiß, was passiert wäre, hätte der Jüngere den Dicken nicht aufgehalten. Aus heiterem Himmel einfach so angegriffen zu werden hatte ich nicht erwartet – noch nicht einmal hier. Mein Kinn tat zwar nicht mehr weh, aber der Schock saß tief.

„Nur ein kleiner Unfall mit dem Fahrrad. Ist heute auf dem Heimweg von meiner neuen Arbeit passiert. Hat Mama dir schon von meiner neuen Stelle im Imbiss erzählt?", versuchte ich das Thema zu wechseln.

Doch mein Bruder machte nur eine wegwerfende Handbewegung und zog eine Augenbraue hoch. Ich starrte auf sein glattgestriegeltes blondes Haar. So ordentlich.

„Das mit dem Fahrradunfall kannst du vielleicht unserer Mutter erzählen", er hatte die Stimme gesenkt, damit unsere Mutter, die in der Küche herumwirbelte, uns nicht hören konnte.

„Ich lüge nicht", log ich.

„Doch, ich wusste schon immer, wenn du lügst. Also, mit wem hast du dich angelegt?" Er schaute mich auffordernd an. Der gleiche Blick, den er schon draufhatte, als wir noch Kinder waren.

„Ich hab mich mit niemandem angelegt, ich wurde angegriffen", zischte ich leise, damit auch ja nicht unsere neugierige Mutter mitlauschen konnte.

„Warum denn das?", hakte er nach.

„Denen hat nicht gepasst, wie ich aussehe", gestand ich schließlich und versuchte seinem aufspießenden Blick auszuweichen.

„Na damit musst du doch wohl rechnen, wenn du so aussiehst", schnaubte mein Bruder und schaute mich abschätzig an. Ich musste schlucken.

„Wie bitte? Das kann doch wohl nicht dein Ernst sein", spuckte ich zurück. Ich sehnte mir die Langeweile von eben zurück.

„Aber es stimmt doch, würdest du nicht aussehen wie so ein ...", er hob die Hände und wedelte damit in der Luft herum.

„Wie so ein was?", fragte ich langsam mit ungläubig aufgerissenen Augen.

„Keine Ahnung, wie so ein Obdachloser, der mit einem Paradiesvogel rumgemacht hat. Und dann noch deine T-Shirts, da musst du doch damit rechnen, dass es jemandem nicht passt", verkündete er als wäre er allwissend.

„Also ist es meine Schuld, dass ich verprügelt wurde?", stieß ich etwas lauter aus.

Ich kniff die Augen zusammen. Langsam wurde ich richtig wütend.

„Ich mein ja nur, wenn du normal aussehen würdest..."

„Normal? So wie du? Wie ein Spießer?", schrie ich ihm beinahe entgegen.

„Jungs es reicht jetzt! Immer müsst ihr euch streiten", unterbrach unsere Mutter unsere Rangelei mit herrischer Stimme als sie das Wohnzimmer betrat, „Geht jetzt einer von euch mit Camus Gassi oder soll ich das übernehmen, damit ihr euch weiter zanken könnt?"

Mein Bruder stieß hörbar die Luft aus und senkte die Schultern.

„Ich geh schon, wollte eh noch Piet Hallo sagen gehen", murmelte ich, während ich schon fast aus dem Raum raus war.

Wenn dann das hierWo Geschichten leben. Entdecke jetzt