Als ich am Montag wieder in der Imbissbude stand drehten sich meine Gedanken immer noch um die Demo am Samstag. Nachdem die Sitzblockade aufgelöst worden war erhielten wir Platzverweise und gingen mit gesenkter Stimmung unserer Wege. Piet wollte noch mit Pauli ein Bier trinken gehen, doch ich hatte abgelehnt, da ich erstens nicht das fünfte Rad am Wagen sein wollte und zweitens meine Stimmung echt im Keller war. Finn hatte sich seltsam benommen und dann kurzangebunden verabschiedet. Den Sonntag über hatte ich mich miserabel gefühlt und viel über Finn nachgedacht. Ich hatte es verdammt mutig gefunden, wie er einfach über die Polizeiabsperrungen gesprungen war und seinem Vater den Rücken gekehrt hatte, auch wenn es irgendwie eine dumme Aktion gewesen war. Und dann dieser Moment als die Sitzblockade aufgelöst wurde. Ich weiß nicht warum, aber irgendwas hatte das mit mir gemacht. Ich hatte Sorge, dass Finn vielleicht wütend oder enttäuscht sein könnte, weil ich ihn in Gefahr gebracht hatte oder er wegen mir Stress mit seinem Vater bekam. Auf der anderen Seite war es ja seine Entscheidung gewesen mitzukommen und dann auch den Sprung über die Absperrung zu wagen.
Sandra hatte mich am Morgen gut gelaunt begrüßt und wir hatten uns ein wenig über meine Musik unterhalten. Sie erzählte, dass sie mal Bass gespielt hat, aber in letzter Zeit nicht mehr dazu kam, zumal sich ihre Band aufgelöst hatte. Ich spielte ihr etwas von meiner Band auf dem Handy vor und sie wusste nicht so ganz, ob sie verstört das Gesicht verziehen oder lachen sollte. Das war eigentlich die normale Reaktion auf unsere Musik, außer wenn man betrunken war und eh auf Krach stand. Sandra wurde mir immer sympathischer und inzwischen war ich ganz froh den Job angenommen zu haben, auch wenn ich deswegen nicht wirklich zum Schreiben meiner Hausarbeit kam. Als sie sich verabschiedet hatte bat sie mich noch, heute hinter der Bude aufzuräumen und dort die Kisten zu sortieren, da morgen eine Getränkelieferung kommen sollte.
Missmutig beschloss ich mich dieser Aufgabe zu widmen, da es fast Nachmittag war und eh nicht mehr so viel Kundschaft kommen würde. Die Sonne brannte von oben und der Asphalt unter mir strahlte die Hitze zurück. Ich schwitzte abartig und begann die leeren Bierkisten zu stapeln. Eine Möwe stand etwas abseits und beobachtete mich.
„Guck doch nicht so blöd", motzte ich das verdattert dreinblickende Tier an.
„Was hat dir denn die Möwe getan?", motzte es hinter mir zurück und ließ mich zusammenzucken. Finn stand an die Rückseite der Imbissbude gelehnt und schaute mich an. Grinsend entblößte er eine Reihe strahlend weißer Zähne und fuhr sich mit einer Hand durch die dunkelbraunen Locken, die verdammt nochmal wirklich weich aussahen. Was zur Hölle? Seit wann interessierte ich mich für Haare irgendeines anderen Jungens?
„Wie lange stehst du denn da schon?" Ich fühlte mich ertappt.
„Lange genug, um zu sehen, wie du die arme Möwe anmeckerst." Finn kam einen Schritt auf mich zu. Auch auf seiner Stirn waren einige Schweißperlen zu sehen. Statt seiner typischen Arbeitsjacke trug er ein schwarzes T-Shirt, bei dem die Ärmel abgetrennt worden waren, was seine Arme noch kräftiger aussehen ließ. Nur seine Augen wirkten wieder traurig und leicht geschwollen.
„Alles klar bei dir? Gabs Stress mit deinem Vater?", erkundigte ich mich möglichst beiläufig, während ich weiter die Kisten stapelte. Ich wollte ihm nicht zu nahetreten, doch mich interessierte es, was bei ihm los war.
„Ähm ja, natürlich gabs Stress, den gibt's immer. Nur diesmal gabs auch ne Schelle." Schnell schaute Finn auf seine ausgelatschten Arbeitsschuhe, als ich mich umdrehte. Dann zuckte er mit den Achseln.
„Tut mir leid Mann", sagte ich schnell. Am liebsten hätte ich ihn in den Arm genommen. Er sah auf einmal aus, wie ein Häufchen Elend.
„Schon gut, bins ja gewohnt. Außerdem war es meine Schuld", quetsche er hervor.
„Sag sowas nicht, es ist nie die Schuld des Opfers."
„Naja als Opfer sehen, will ich mich auch nicht."
„Du weißt, was ich meine. Er hat kein Recht dazu dich zu schlagen oder dir vorzuschreiben, was du zu tun hast, du bist ja schließlich volljährig."
„Tja, das sieht er wohl anders", sagte Finn und schaute mir endlich wieder in die Augen, „Sag mal, brauchst du eigentlich Hilfe?", versuchte er das Thema zu wechseln und deutete auf den Berg Kisten, den ich gerade dabei war zu stapeln.
Jetzt war ich es, der die Achseln zuckte.
„Wenn du nichts Besseres zu tun hast?", fragte ich. Ich wäre nicht undankbar für etwas Hilfe.
Doch Finn schnappte sich schon die erste Kiste und trug sie rüber zu den anderen. Kurz beobachtete ich ihn dabei, wie er seine muskulösen Arme anspannte, wischte mir den Scheiß aus dem Gesicht und machte mich auch wieder an die Arbeit.
„Wie hoch willst du die denn stapeln?", fragte Finn belustigt, als er sah, wie ich versuchte die sechste Kiste auf einen Turm zu hieven. Auf einmal war ich dabei durch das Gewicht nach hinten umzukippen, als Finn schon neben mir stand und versuchte den Turm zu stabilisieren. Nur leider war er ein gutes Stück kleiner als ich und erreichte die oberste Kiste nicht, die den Turm zum Einstürzen brachte. Dann passierte alles blitzschnell. Mit einem Krachen landete die Kiste, die ich gerade noch versucht hatte zu stabilisieren neben mir, sodass ich einen Satz zur Seite machte, doch dadurch auch den Rest des Turmes zum Einstürzen brachte. Ich versuchte mit einem Sprung nach hinten vor den stürzenden Kisten zu fliehen doch prallte so hart gegen Finn, dass ich ihn mit zu Boden riss.
Ich landete unsanft auf Finns Körper und schloss instinktiv die Augen, doch keine der fallenden Kisten traf uns. Die letzte Kiste krachte scheppernd zu Boden und ich traute mich endlich wieder zu atmen. Als ich die Augen wieder öffnete sah ich in Finns erschrockenes Gesicht, das dicht unter mir lag. Seine grünen Augen waren weit aufgerissen und fixierten mich, so intensiv. Ich hielt gespannt die Luft an. Es fühlte sich an als würde die Luft knistern und ich verlor jegliches Gefühl für Zeit. Wie lange starrte ich ihn schon so an? Ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken schloss ich die Augen wieder, bewegte meinen Mund nach vorne und drückte meine Lippen auf seine. Ein Stromschlag fuhr durch mich hindurch. Es war als wäre ich einem Instinkt gefolgt, etwas das ich schon lange hatte tun wollen. Seine Lippen fühlten sich weich an, schmeckten süßlich und salzig zugleich und mit einem Mal spürte ich auch seinen warmen Körper unter mir. Dann erwiderte Finn den Druck meiner Lippen leicht und bewegte seine Lippen sanft, kaum merklich gegen meine.
Wie vom Blitz getroffen riss ich die Augen auf und sprang so schnell ich konnte von ihm runter, um mich aufzurichten. Es war als wäre ich mit einem Mal wieder auf den Boden der Realität aufgeprallt. Kurz starrte Finn mich verwirrt an und war dann auch in Windeseile wieder auf den Füßen. Er fixierte mich schwer atmend mit seinem Blick, während ich versuchte einen Schritt nach hinten zu machen, um Abstand zwischen uns zu bringen. Ich konnte seinen Blick nicht deuten. War das Abscheu oder Angst? Eine gefühlte Ewigkeit schauten wir uns so an, auch wenn alles in mir mich anschrie wegzurennen.
Stattdessen war Finn es, der sich rasch umdrehte und wie als würde er gejagt werden davonrannte. Verdutzt schaute ich ihm hinterher, bis ich wieder Fassung erlangte. Ich spürte wieder dieses Brodeln in der Magengegend, doch mein Kopf war wie leergefegt. Was war das denn gewesen?
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Wenn dann das hier
RomanceEgal, wie ehrlich und aufrichtig ich versuchte zu sein, es führte trotzdem nicht zu meinem Happy End. Die kleine, graue Hafenstadt, die Jannik sein Heimatkaff nennt, liegt an der Nordsee, doch fühlt sich für ihn wie eine andere Welt an, im Gegensatz...