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Seit Tagen warte ich auf eine Antwort von ihm. Ich habe Rick mehrere Nachrichten geschrieben, doch keine davon hat er beantwortet...nicht einmal gelesen hat er sie und das macht mich irgendwie wütend. Keine Ahnung, aber in solchen Momenten fange ich an, an ihm zu zweifeln. Ich schreibe ihm eine letzte Nachricht, bevor ich das Schulgebäude verlasse, um nach Hause zu gehen.
Was ist los?
Habe ich irgendetwas falsch gemacht?
Es klingt voll verzweifelt, aber ich muss wissen, was bei ihm los ist.
Ich überquere die befahrene Hauptstraße und gehe schnellen Schrittes auf unser Viertel zu.
Als ich die Wohnungstür aufschließe ist es still. Was ja auch logisch ist, da Sissy arbeiten und Me noch in der Schule ist. Es ist gerade mal halb zwei und da meine Cousine mit dem Bus fahren muss, kommt sie wahrscheinlich eh erst halb vier.
Auch Sibel wird etwas später kommen, wie sie mir geschrieben hat, da es zurzeit bei ihr viel zu tun gibt.
Also verbinde ich mein Handy mit der Bluetooth Box in meinem Zimmer und entscheide mich dazu, endlich mal Staub zu wischen.
Ich muss mich mit irgendetwas ablenken...ablenken, von dem Gedanken an Rick. Warum beherrscht er auf einmal mein Gehirn. Ich verstehe es nicht. Wir waren...sind Freunde. Aber ich kann trotzdem nicht aufhören, an ihn zu denken.
Als mein Zimmer ordentlich aussieht, ziehe ich mir meine Sportsachen an und entscheide mich, in dem Park, bei uns in der Nähe, joggen zu gehen.
Ich war ewig nicht mehr joggen und glaube, dass ich kaum mehr Ausdauer habe. Aber eigentlich geht es mir nur darum, dass wenn ich renne, es für mich so anfühlt als würde ich wegrennen...vor der Wirklichkeit, es fühlt sich an, als wäre es möglich, der Realität zu entfliehen. Was natürlich kompletter Quatsch ist...
Ich renne also den kleinen Hügel hinauf und komme an den Büschen vorbei...zwischen diesen gibt es ein ruhigen Platz, an welchem ich mich gern zum Lesen hinsetzen würde, wäre es nicht so arschkalt hier draußen.
Ich kann nicht mehr, trotzdem renne ich weiter, meine Beine fühlen sich an, als könnten sie jeden Augenblick unter mir zusammenbrechen, doch das ist mir egal. Noch gut zwanzig Meter dann kommt eine Bank. Da das ganze Areal hier etwas höher ist, hat man eine schöne Aussicht auf die rundum liegende Landschaft. Ich erreiche die Bank, auf welcher zum Glück niemand sitzt, und lasse mich nieder. Der See in weiter Ferne glitzert im Sonnenlicht und ich hole tief Luft. Warum vergesse ich jedes Mal, eine Wasserflasche mitzunehmen?
Ein alter Herr kommt auf mich und die Bank zu, da ich annehme, er will sich setzen, rutsche ich ein Stück zur Seite.
"Guten Tag", begrüßt er mich und ich sage: "Hallo."
"Schönes Wetter heute, oder?", versucht er ein Gespräch anzufangen und ich nicke: "Jap, dafür, dass wir gerade mal Ende Februar haben." Er nickt und verzieht die Lippen zu einem Lächeln.
Die Situation ist keineswegs unangenehm und ich lehne mich zurück.
Vor uns landet ein Schwarm Vögel im Baum und der Mann beginnt davon, mir etwas von den Vögeln zu erzählen.
Da ich nicht unhöflich sein möchte, nicke ich immer wieder und stelle Fragen. Er scheint ein richtiger Vogelfan zu sein, denn er erzählt, dass er im Sommer normalerweise jeden Tag hier sitzt und die Natur beobachtet. Als er das erwähnt, deutet er auf das Fernglas um seinen Hals und ich muss schmunzeln.
Mein Handy beginnt zu klingeln und ich entschuldige mich und wir verabschieden uns.
"Ja?", frage ich in den Hörer und am anderen Ende höre ich Me fluchen.
"Wo bist du denn?", fragt sie und ich sage: "Joggen." Ich höre sie schnaufen: "Nicht dein Ernst? Hatte ich nicht erwähnt, dass heute ein Paket kommt? Kannst du bitte versuchen so schnell wie möglich nach Hause zu gehen? Das ist wirklich wichtig!"
Ich atme tief ein: "Was ist denn da drin?", frage ich und Me schnappt nach Luft.
"Is egal...aber es ist wichtig. Ich habe diese Woche keine Zeit mehr zur Post zu gehen und es abzuholen. Also...biiiiiitte Belle."
"Okay, ich beeile mich ja schon", sage ich und lege auf. Das ist typisch meine Cousine...
Ich erreiche gerade unseren Vorbau, als der Postbote die Einfahrt hinaufkommt.
Er übergibt mir das Paket, ich unterschreibe und gehe hoch.
Ich tippe eine Nachricht an Esmeralda:
Hab den Postboten noch erwischt...
Da sie mir nicht gleich antwortet, füge ich hinzu:
Wenn du mir nicht selber sagst, was drin ist, öffne ich es.
Sofort ist sie online und schreibt:
Untersteh dich
Du wirst es noch früh genug mitbekommen
Ich schicke bloß ein okay und lege mein Handy zur Seite. Was ist denn das für ein Mist. Da bin ich extra wegen diesem blöden Paket nach Hause...jetzt habe ich auch keinen Bock mehr, nochmal rauszugehen, dabei ist voll schönes Wetter.

Der Nachmittag geht schnell rum und bald ist auch schon Me zu Hause, die sofort ins Wohnzimmer und auf mich zukommt und fragt: "Wo ist mein Paket?" Ich zeige mit dem Finger unter den Wohnzimmertisch und sie geht drauf zu und nimmt die sperrige Pappschachtel und verschwindet damit in ihrem Zimmer. Da mich das nicht weiter interessiert, wende ich mich wieder dem laufenden Fernseher zu und muss schmunzeln als die eine Person einen dummen Witz macht.
Ich höre einen Schrei aus Me's Zimmer und springe auf. Schnell laufe ich durch den Flur und klopfe an, bevor ich eintrete.
"Was ist denn?", frage ich und sie deutet auf die offene Kiste.
Drinnen liegen Scherben und meine Cousine hält sich die Hände vor den Mund, während ihre Augen verschwimmen. Dann nimmt sie eine der Porzellanstücke raus und hält es mir hin. Doch ich verstehe nicht, was sie von mir will, also frage ich: "Was ist das?", sie schnieft.
"Du weißt doch noch...unsere Uroma...die...die ist doch vor zwei Jahren gestorben...", ich nicke und während sie das sagt, bemerke ich, dass mir die Farben des Geschirrs doch ziemlich bekannt vorkommen.
"Sie hatte mir das Set hier vererbt. Aber ich hatte es doch damals erst mit zu Oma genommen und dann dort vergessen...", meine Cousine schnieft. Und ich ziehe die Augenbrauen hoch, um nicht doch vielleicht in Tränen auszubrechen.
"...und jetzt ist es kaputt...", ich weiß, wie sehr sie an unserer Uroma hing, im Gegensatz zu mir...
Weil mir echt nicht einfällt, was ich in dieser Situation machen soll, umarme ich Me einfach und sie weint sich an meiner Schulter aus.

"Ich habe es immer noch nicht verkraftet. Es gibt Momente, da denke ich gar nicht an sie und dann...in anderen", wieder schnieft sie, "da fällt es mir umso schwerer." Ich nicke, denn ich weiß wovon sie spricht. Dasselbe fühle ich bei meinem Opa...ich stand ihm sehr nah...
Nur ist er jetzt schon noch länger nicht mehr bei uns...
Als ich an ihn denke, treten auch mir die Tränen in die Augen und wir sinken, in einander verschlungen auf die Couch nieder. Jede von uns ist in Gedanken versunken, als sich der Schlüssel im Schloss dreht und kurze Zeit später Sissy die Wohnstube betritt und uns verwundert ansieht.
"Was ist denn bei euch passiert? Ist jemand gestorben?", fragt sie und wir schniefen beide.
Me nickt und ich auch, denn ich finde keine Worte, um meiner besten Freundin die Situation zu erklären. "Soll ich was kochen?", fragt sie und wir nicken, dann macht Sissy sich auch schon auf den Weg in die Küche. Man hört die Schranktüren und Töpfe klirren. Ich bin gespannt, was sie macht...
"Okay...hören wir auf, daran zu denken, das verdirbt uns bloß den Tag", sage ich zu meiner Cousine, die nickt und wir stehen auf, um Sissy in der Küche Gesellschaft zu leisten.

Wo die Liebe hinfällt... (1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt