27.

4 0 0
                                    

Ich weiß nicht, wie ich es vom Bad aus in mein Klassenzimmer geschafft habe, aber jetzt sitze ich hier und betrachte die anderen. Alle kennen Rick, aber sie haben keine Ahnung, was ich gerade wegen dieser winzigen Nachricht von ihm durchmache. Fast ist es witzig...
Am Ende der ersten Stunde muss ich Doreen glatt fragen, ob ich mir ihre Seite abfotografieren kann, denn ich war so abwesend, dass ich nicht mitgeschrieben habe.
"Was ist denn in letzter Zeit mit dir los?", fragt sie mich und Clara, die neben ihr sitzt dreht sich interessiert zu uns um.
Ich schüttele den Kopf: "Naja...keine Ahnung. Bei mir ist halt viel los...", sage ich und erzähle den beiden von meiner WG. Doreen und Clara sind die einzigen aus meiner Klasse, mit denen ich mich noch einigermaßen vertrage.
Interessiert hören sie zu und auch Doreen erzählt von ihrer aktuellen Wohnsituation, das Zimmer ihrer Schwester wird nämlich renoviert weshalb diese bei ihr schlafen muss. Wir unterhalten uns noch über alles Mögliche aber als es dann zur Stunde klingelt, drehen die beiden sich um und ich hole noch schnell meinen Hefter aus dem Rucksack.
Meine Gedanken sind immer wieder bei Rick und der Text über zwei Liebende in Englisch bringt mich nicht gerade auf andere Gedanken.
Während die anderen noch lesen, kritzele ich bereits verschiedene Symbole in meinen Block. Alles, was mir einfällt kommt da rein. Gerade sind es Herzen mit Ricks Namen drin...auf einer anderen Seite habe ich versucht, ihn so gut wie es geht zu skizzieren.
Ich glaube ich werde verrückt.
Scheiße!
Schnell schlage ich den Block zu und ziehe das Buch zu mir ran.

- - -

Am Nachmittag, als ich zu Hause ankomme, bin ich wie immer alleine. Ich klicke mich durch das Fernsehprogramm, auf irgendso einem Sender, den keiner kennt, kommt eine Liebesschnulze, die gerade erst angefangen hat.
Ich liebe diese Filme...
Ich bemerke, wie ich mit der Hauptfigur mitfiebere und mir wünschte, in meinem Leben wäre es genauso...zufällig fühlt der andere genauso und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage...
Aber so funktioniert das nicht!
Das Leben ist viel schlimmer!
Ich bin schon wieder kurz davor, Rick zu schreiben...was ist bloß mit mir los???
Anstelle dessen, schreibe ich meinem Bruder und lasse mich von ihm auf den neuesten Stand bringen.
Er schreibt, dass er mit seiner Computer AG an irgendeinem Roboter Wettbewerb teilgenommen hat und sie sogar den ersten Platz gewonnen haben. Wieso erfahre ich das erst jetzt?
Ich schreibe auch ein bisschen, was bei mir abgeht und so vergeht die Zeit bis Esmeralda nach Hause kommt.

"Hello!", ruft sie in den Flur, als sie die Wohnungstür öffnet.
Ich grummele nur und nachdem sie sich in ihrem Zimmer umgezogen hat, kommt meine Cousine zu mir auf die Couch.
"Wie machst du das eigentlich?", frage ich sie, total kraftlos und matt.
"Was?", fragt sie verwundert und ich wische mit der Hand in der Luft rum: "Leben..."
Sie lacht leise: "Was ist dir denn für eine Laus über die Leber gelaufen?", fragt Me und ich schnaufe.
Dann erzähle ich ihr davon, dass Rick eine Pause braucht, ich das aber nicht will.
Sie erklärt mir, dass ich seine Entscheidung akzeptieren muss, findet es aber auch nicht okay von ihm, so zu reagieren.
Ich heule mich bei ihr quasi komplett aus.

Als ich mir den größten Schmerz von der Seele geredet (und geheult) habe, frage ich sie, was bei ihr so los war.
Esmeralda zuckt mit den Schultern: "Nichts Besonderes..."
Ich ziehe eine Augenbraue hoch, so wie sie das sagt, klingt es nicht ganz nach der Wahrheit.
"Och komm' schon...ich höre dir zu. Habe ich schon gesagt, dass man mir alles anvertrauen kann? Ich bin quasi wie ein Tagebuch. Ich höre zu...kommentiere nicht", eine kurze Pause, "...okay, bei manchem vielleicht schon. Aber der Punkt ist, wenn du einen Rat brauchst oder einfach nur quatschen willst...ich bin da."
Me nickt und holt tief Luft.
"Also...wie du dir denken kannst...äh...geht es um einen Jungen...", ich hole vor Überraschung tief Luft.
Wow...es ist das erste Mal, dass ich mit meiner Cousine darüber rede und es um ihren Schwarm geht.
"Okay...schieß los! Ich muss alles wissen!", sage ich und Esmeralda lächelt.
"Er heißt Kamil und geht in meine Klasse. Er ist wie ich vierzehn Jahre alt und in den Pausen spielt er mit seinen Kumpels Basketball auf dem Schulhof."
Ich nicke...oh Mann...die erste Liebe...ach...
Sie erzählt außerdem davon, wie sie sogar letztens zusammen mit diesem Kamil und einigen Freunden noch was nach der Schule gemacht hat.
Ich finde es schön, wie ihre Augen zu leuchten anfangen, wenn sie von ihm spricht. In genau diesem Moment frage ich mich, ob ich genauso aussehe, wenn ich über Rick rede.
Ach verdammt...jetzt habe ich doch an ihn gedacht!

Me redet und redet, es ist so viel, dass ich gar nicht alles mitbekomme. Nach mindestens einer dreiviertel Stunde gebe ich vor, Kopfschmerzen zu haben und mache mich auf den Weg in mein Bett.

Dort starre ich die Decke an und endlich fließen die Tränen, mit denen ich schon die ganze Zeit rechne.
Ich muss mich zusammenreißen, damit Me mich nicht weinen hört. Aber diese Kunst habe ich ja zu Hause schon quasi perfektioniert. Tja...praktisch, wenn der Bruder direkt im Nebenzimmer ist.
Keine Ahnung, wie lange ich so daliege und einfach über alles Traurige, was mich beschäftigt nachdenke, nur um mit einem Mal alle meine Tränen auszunutzen.
Ich bekomme nur flüchtig mit, wie Sissy nach Hause kommt. Doch ich höre, wie sie und meine Cousine in der Küche über irgendetwas reden. Da sie sehr leise sprechen könnte ich wetten, dass ich es bin, über die sie sich unterhalten.
Kurz darauf klopft es an meiner Tür.
"Ja?", frage ich und bin mir meiner zitternden Stimme nur zu bewusst.
"Hey", begrüßt mich Sibel, schließt die Tür hinter sich und kommt auf mich zu.
Ich setze mich auf und sie nimmt neben mir Platz. Fest umschließt sie meinen Oberkörper mit ihren Armen.
"Willst du mir erzählen, was passiert ist?", fragt sie und ich nicke.

Wo die Liebe hinfällt... (1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt