Abschied

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- Jaime -

Erleichtert strecke ich mich und genieße das Gefühl meiner steifen Muskeln, die sich nach stundenlangem Sitzen endlich wieder lockern. Es ist ein angenehm warmer Samstag Vormittag und normalerweise wäre ich an einem Tag wie diesem super gut gelaunt. Normalerweise, denn heute ist mir nicht nach Lächeln.

Meine Schwester Virginia hievt ihre Reisetasche von der Lagerfläche unseres Pick-Ups. Schnell umrunde ich das staubige Auto und helfe ihr mit dem monströsen Koffer, als sie dabei gefährlich ins Schwanken gerät. Nachdem ich ihn zu Boden habe fallen lassen, stoße ich ein theatralisches Ächzen aus und halte mir grinsend den Rücken. 

"Sag mir bitte nicht, dass du deinen gesamten Kleiderschrank eingepackt hast!" 

Ginny pustet sich eine rote Haarsträhne aus dem Gesicht und funkelt mich empört an, bevor sie ebenfalls grinst. "Sehr witzig, Jaime. Aber nein, meine alten Unterhosen hab ich euch dagelassen - damit ihr mich bloß nicht vergesst!" 

Kopfschüttelnd schultere ich ihre riesige Reisetasche und nehme den Koffer in die andere Hand, bevor ich mich in Bewegung setze. Ginny schlendert schweigend neben mir her und unsere Eltern folgen mit etwas Abstand. 

Während der gesamten dreistündigen Fahrt bis zum Flughafen von Lewistown haben sich die beiden in beharrliches Schweigen gehüllt. Sie würden es Ginny nie ins Gesicht sagen, aber sie sind enttäuscht und vielleicht auch ein wenig beleidigt, dass ihre kleine Tochter zum Studieren wegzieht. 

Auf den ersten Blick mag das so klingen, als seien die beiden schlechte Eltern. Aber so ist das nicht, sie wollen nur auf ihre Art das Beste für Ginny und mich. Unsere Ranch, die etwas abseits von dem kleinen Örtchen Blue Buffalo Creek mitten in Montana liegt, ist ihr Ein und Alles und Mum und Dad haben immer gehofft, dass Ginny und ich diese Einstellung weiterleben würden. 

Bei mir hat das auch funktioniert, denn ich habe mein Jura-Studium nach einigen Monaten abgebrochen, weil ich neben der Arbeit auf der Ranch kaum Zeit zum Lernen hatte und schnell eingesehen habe, dass beides auf einmal keinen Sinn macht. Anders als Virginia sind mir die Arbeit mit den Pferden und der Frieden der Ranch wichtiger als eine Zukunft in einem sterilen Bürohochhaus irgendeiner Großstadt. 

Was nicht heißt, dass ich nicht verstehen kann, dass sie das nicht für den Rest ihres Lebens will. Deswegen habe ich Ginny auch von Anfang an unterstützt. Das Letzte, das ich will, ist, dass sie ihren Traum aus einem Pflichtgefühl uns gegenüber heraus aufgibt. 

Gemeinsam durchqueren wir den Check-In, bevor Ginny sich vor den Security-Schaltern mit einem gequälten Lächeln zu uns umdreht. "Jetzt heißt es wohl Abschied nehmen", murmelt sie und fummelt an ihrer Umhängetasche herum. Es ist so offensichtlich, dass sie nervös ist und sie tut mir in diesem Moment echt leid. Ich würde jetzt nicht mit ihr tauschen wollen.

Mit einem beruhigenden Lächeln überreiche ich ihr ihre Reisetasche, bevor ich sie in eine feste Umarmung ziehe, die sie sofort erwidert. Der vertraute Geruch ihres Shampoos steigt mir in die Nase und lässt mich schlucken. Es wird ungewohnt und wahrscheinlich auch ziemlich einsam ohne sie werden. Keine heimlichen Filmabende in ihrem Bett mehr, keine Gespräche über unsere Probleme und keine heimlichen Geschwister-Blicke, wenn wir mal wieder das gleiche denken.

Obwohl mir gerade zum Heulen ist, zwinge ich mich zu einem aufmunternden Lächeln, während ich mich von ihr löse und ihr sanft in die Wange pikse. "Ich wünsche dir eine unglaubliche Zeit in North Carolina. Pass auf dich auf und ruf mich ab und zu mal an, ja?"

Kichernd schlägt sie meine Hand weg und nickt. "Natürlich, wenn du denn mal an dein Handy gehst. Pass du auch auf dich auf - und auf die Jungs auf der Ranch und Mum und Dad. Die beiden wirken, als würden sie noch eine Weile dicke Luft schieben und es würde mir total leid tun, wenn ihr das abbekommt", fügte sie etwas leiser hinzu, ihre Brauen unglücklich zusammengezogen. Ich nicke nur. Natürlich hat Ginny Mum und Dad sofort durchschaut, darin ist sie unschlagbar. 

Schließlich atmet sie tief durch und geht dann zu unseren Eltern herüber, um sich von ihnen zu verabschieden. Nachdenklich lasse ich den Blick über die drei gleiten. Meine Mum, Rebecca Williams, ist eine zierliche Frau mit langen, hellbraunen Locken, während mein Vater Joseph groß und athletisch gebaut ist und seine Haare in einem glänzenden Rotton leuchten. Es ist offensichtlich, dass Ginny mit ihrem sportlichen Körperbau und den roten Locken ihre Tochter ist. 

Die drei unterhalten sich eine Weile leise, während ich etwas abseits stehe, um ihnen etwas Freiraum zu geben. Als mir dann doch irgendwann langweilig wird, widme ich mich dem, was mir mit am meisten Spaß macht - die Menschen zu beobachten, die an uns vorbei eilen. 

Ein junger Mann, höchstens ein paar Jahre älter als ich, trifft meinen Blick und lächelt mir zu. Er hat blonde Haare und strahlend blaue Augen - also genau mein Geschmack. Für einen Moment durchzuckt mich die freudige Aufregung, die mit der Aufmerksamkeit einer attraktiven Person einhergeht. Ich erwidere das Lächeln, aber im nächsten Moment fällt es mir aus dem Gesicht, als ein Mädchen an den Kerl herantritt und ihm einen Arm um die Hüfte legt. 

Nun deutlich missmutiger beobachte ich, wie das Pärchen Arm in Arm davon schlendert, bevor ich die Hände in meinen Hosentaschen vergrabe und zurück zu meinen Eltern und Ginny gehe. Sie lösen sich gerade aus einer Gruppenumarmung und meine Schwester wirft mir einen letzten Blick zu. Ihre wunderschönen, grüngrauen Augen glänzen vor zurückgehaltenen Tränen. 

"Ich hab euch lieb!", lächelt sie, bevor sie sich umdreht und in Richtung des Security-Checks losläuft. Mom und Dad stehen schweigend da, beide lächeln schwach und als Ginny sich ein letztes Mal umdreht und winkt, erwidern wir es gemeinsam. Unwillkürlich muss ich schmunzeln. Meine kleine Schwester wird ebenso glücklich werden, wie wir es hier in Montana schon sind. Nur muss sie dazu eben an die andere Seite des Kontinents ziehen. 

Irgendwann seufzt Dad und fährt sich durch das kurze Haar. "Lasst uns nach Hause fahren. Sie wird das schon schaffen." Ich nicke und folge ihnen zurück zum Parkplatz, wo wir wieder ins Auto steigen. Meine Eltern unterhalten sich darüber, was es heute Abend zu Essen geben wird, aber ich halte mich zurück. Meine Gedanken hängen bereits dem nächsten Problem nach, das sich uns stellt - wer wird Ginnys Arbeit auf der Ranch jetzt übernehmen?

Mum, Dad, Kenneth, Raymond, Jesse und ich haben alle mehr als genug zu tun und bald beginnt die Viehtrieb-Saison, in der alles noch anstrengender wird. Seufzend lehne ich den Kopf gegen die Fensterscheibe und schließe die Augen. 

Wir werden schon eine Lösung finden, hoffe ich. 

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