Trieb

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- Jaime -

Honeys großer Kopf dreht sich zu mir herum und sie beobachtet interessiert, wie ich ihr den Sattel auf den Rücken lege und zurechtrücke. Als ich nach dem Gurt greife und ihn um ihren Bauch festschnallen will, stupst sie mich mit ihrem weichen Maul spielerisch an.

Unvermittelt muss ich lachen und hauche ihr einen Kuss auf die Nüstern, woraufhin die cremefarbene Stute die Nase krauszieht. Und schon hat sie es schon wieder geschafft, dass ich, anstatt mich an den Zeitplan zu halten, lieber mit ihr schmuse.

Sie weiß einfach, wie sie mich rumkriegt.

Irgendwann schiebe ich sie dann doch mit einem bedauernden Seufzen von mir und greife nach ihrer Trense. "Komm schon, Honey. Wir müssen jetzt echt los", murmle ich, während ich sie in wenigen, geübten Handgriffen aufzäume und zum weißen Holztor führe, hinter dem sich die Rinderweide befindet. Auf dem Weg stoße ich einen Pfiff aus, woraufhin Ticky hechelnd auf mich zu geschossen kommt und sich schwanzwedelnd an meine Fersen heftet.

Chester wartet schon mit Gismo am Tor und blickt mir entgegen. Optisch passen die beiden nicht wirklich zusammen, denn ich kann mir Chester Hale nur schwer auf einem braun gescheckten Mähnenmonster vorstellen. Trotzdem würde ich meine Hand dafür in Feuer legen, dass die beiden gut miteinander auskommen. Gismo ist ein herzensguter Kerl und selbst wenn Chester nicht gut reiten können sollte, würde der Wallach ihm die meisten Fehler einfach verzeihen.

"Morgen", grüße ich ihn kurz angebunden und führe Honey zum Weidentor, um es zu öffnen. Nachdem wir vier hindurchgelaufen sind, schließe ich es wieder und steige auf. Während ich mein rechtes Bein über die Kruppe meiner Stute und die Taschen, die hinten am Sattel befestigt sind, schwinge, kann ich aus dem Augenwinkel erkennen, dass auch Chester sich mit einer fließenden Bewegung mühelos in den Sattel zieht.

Zickig presse ich die Lippen zusammen und treibe Honey zum Schritt an, ohne ein weiteres Wort an den anderen Cowboy zu richten, während ich meinen Hund dabei beobachte, wie sie begeistert durch die Gegend tollt und ihre Energie rauslässt.

Während wir uns im gemächlichen Tempo von der Ranch entfernen, lasse ich meine Gedanken schweifen und gebe mich sogar der Wunschvorstellung hin, jetzt alleine durch die friedliche Morgenlandschaft zu reiten. Zwar bessern der laue Wind und das leise Vogelgezwitscher meine Laune um einiges, aber ich kann dennoch nicht ignorieren, dass ich einen unerwünschten Begleiter habe.

Es ist, als hätte man einen Fleck auf dem Rücken seines T-Shirts - man sieht ihn zwar nicht und er behindert einen grundsätzlich auch nicht, aber weil man weiß, dass er da ist, stört er trotzdem ungemein. Chester ist genau so ein Fleck auf dem Rücken eines strahlend weißen T-Shirts.

Gestern während des Grillens schien er sich prächtig mit den anderen verstanden zu haben, Ray hat ihn sogar zum Lachen gebracht. Trotzdem liegt in seinem Blick mir gegenüber dieselbe unnahbare Arroganz wie an dem Tag, als Mick ihn uns in der Bar vorgestellt hat. Und es stört mich ungemein, dass er kein Wort über sich und seine Familie spricht, auch nachdem die anderen Jungs ihm ihre Lebensgeschichten dargelegt haben.

Grummelnd beuge ich mich unter einem Ast hindurch, der niedrig über den Pfad hängt, dem wir gerade folgen. Honey stapft fröhlich vor sich hin und genießt es offensichtlich, endlich mal wieder rauszukommen.

"Wie lange werden wir zur Brighton Farm brauchen?", durchbricht Chester plötzlich das Schweigen zwischen uns. Ich zucke mit den Schultern und überlege kurz, bevor ich erkläre: "Wir müssen jetzt erst mal die Herde finden, aber da sie immer relativ am selben Ort bleibt, dürfte das kein Problem sein. Der reine Weg hin und zurück wird bis morgen Abend, vielleicht übermorgen Früh dauern."

Ich höre ein zustimmendes Brummen, dann ist er wieder still. Als der Weg wieder etwas breiter wird, lasse ich Honey anhalten, bis Gismo zu ihr aufgeschlossen hat und die beiden Quarterhorses gemütlich nebeneinanderher trotten können.

Ich werfe dem dunkelhaarigen Cowboy neben mir einen Blick zu und schaue schnell wieder weg, ein Kribbeln im Magenbereich. Trotzdem hat sich das Bild seines perfekten Seitenprofils mit dem starken Kinn und der geraden Nase in mein Gedächtnis gebrannt. Wieso sieht dieser Kerl so verflucht heiß aus? Immerhin hat er sich mit seinem hellen Hut und der dunklen Jacke, die er trägt, überhaupt gar nicht herausgeputzt.

Frustriert von mir selbst und meinen Gedanken blase ich die Wangen auf, dann räuspere ich mich: "Chester?"

Er zieht augenblicklich eine dunkle Augenbraue hoch und mustert mich fragend von der Seite. Schnell rede ich weiter, den Blick auf den trockenen Boden zwischen Honeys Ohren gerichtet. "Du kommst also aus Los Angeles?" Er gibt nur einen zustimmenden Laut von sich, was mich aber nicht davon abhält weiterzufragen.

"Was ist mit deinen Eltern? Hast du Geschwister?"

Der stechende Blick, der mich trifft, macht offensichtlich, dass er sich durchlöchert von Fragen fühlt. Trotzdem lasse ich mich nicht kleinkriegen und mustere ihn jetzt herausfordernd. Nach einer Weile des unnachgiebigen Starrens seufzt Chester.

"Keine Geschwister. Meine Eltern leben beide in L.A."

Als er nicht weiterspricht, schnaube ich enttäuscht. Vielleicht muss ich mein Vorurteil gegen Chester ja aus dem Weg räumen, aber wie bitte soll das gehen, wenn dieser wortkarge Kerl nichts von sich preisgibt?!

"Okay, und was arbeiten sie?", hake ich also nach, entschlossen, zumindest das Gröbste über diesen Kerl herauszufinden. Chester atmet tief durch und seine Antwort lässt noch länger auf sich warten. "IT Management."

Ich bin ehrlich beeindruckt, dass er anscheinend aus ziemlich gutem Hause kommt, aber als  danach wieder Schweigen  folgt, habe ich endgültig die Nase voll und meine kurzweilige Sympathie verpufft. Er will kein Gespräch? Gut, denn ich kann gerne weiterhin so tun, als wäre er nicht existent.

Arroganter Vollidiot!

...

Nach etwa einer halben Stunde erreichen wir einen kleinen Hügel, von dessen Kuppe wir auf die Herde von etwa zwanzig Tieren blicken können, die friedlich grasen. Ich schnalze einmal mit der Zunge und Ticky kommt sofort zu mir herüber, den Blick ihrer braunen Augen aufmerksam auf mich gerichtet. Sie weiß, was jetzt kommt, denn sie hat es schon unzählige Male gemacht.

Dann gebe ich ihr mit dem Finger das Zeichen und der weiße Fellball schießt los in Richtung der Tiere. Chester und ich treiben unsere Pferde in stummer Übereinkunft im Trab den sanften Hügel hinunter und als wir bei der Herde ankommen, sind die Rinder zu einem annähernd runden Kreis zusammengetrieben.

Mit einem sanften Schenkeldruck gebe ich Honey Anweisungen, sodass sie, Gismo und Ticky die Herde umkreisen und vorantreiben. Wieder einmal bin ich unfassbar stolz darauf, dass meine Stute und mein Hund so gut ausgebildet sind. Es ist alles andere als arrogant zu sagen, dass ich einen verdammt guten Job bei den beiden gemacht habe.

Mittlerweile muss ich eins jedoch auch zugeben: Chester ist ein wirklich guter Reiter und er weiß, was er tut. Er manövriert seinen Schecken souverän und ruhig an den Rindern entlang, sodass ihnen klar vermittelt wird, in der Gruppe zu bleiben. Und dass, obwohl er heute zum ersten Mal auf Gismo sitzt.

Natürlich ist er jetzt kein Versager, wie hätte es auch so sein können, denke ich sarkastisch und rolle die Augen.

Catch Me, Cowboy!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt