Ablenkung

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- Chester -

Seit fünf Tagen kann ich an nichts anderes mehr denken als daran, wann ich Jaime wieder in eine blickgeschützte Ecke der Ranch ziehen und um den Verstand küssen kann. 

Auch ihm scheint es nicht anders zu gehen, denn jedes Mal, wenn mein Blick auf sein schönes Gesicht fällt, blitzen seine honigfarbenen Augen schon erwartungsvoll und er kommt gar nicht schnell genug weg von dem, was er gerade tut.

Einerseits ist das natürlich ein Kompliment für mich, andererseits mache ich mir ein wenig Sorgen, ob wir dadurch zu offensichtlich sind. Nicht, dass ich mich für meine Sexualität oder gar meine Gefühle für Jaime schäme oder ähnliches, aber wir sind sehr abgelenkt und arbeiten deutlich weniger effektiv - und das könnte dann doch auf Unzufriedenheit stoßen.

Bis jetzt haben wir aber nie mehr als verwunderte Blicke kassiert, wenn wir mal wieder "auf die Toilette" mussten oder "ein Werkzeug vergessen" hatten und schnell zurück in die Scheune gerannt sind.

Leider sind wir aber nie weiter gegangen als Küssen. Es sind zwar wirklich, wirklich heiße Küsse, aber trotzdem drängt alles in mir danach, die nächsten Schritte zu machen. Wenn ich nur daran denke, wie Jaime in der Nacht vor fünf Tagen ausgesehen hat, als ich ihn nach seiner Fastschlägerei nach Hause gebracht habe, spüre ich, wie ich hart werde.

Sein wunderschöner Körper, der, obwohl Jaime schlank ist, trainiert ist, als würde Jaime ins Studio gehen. Die dunkelblonden Haare, die ihm unordentlich in die strahlenden Augen gefallen sind. Seine leicht geöffneten, einladenden Lippen, von denen ich nicht genug bekommen kann. Und schließlich die Spur feiner, heller Haare, die in seiner Boxer verschwinden, wie die Versuchung selbst. 

Frustriert stöhnend lasse ich den Eimer mit Wasser zu Boden knallen, den ich gerade ins Round Pen bringen wollte, um den neu angekommenen, aufgeregt schnaubenden Mustang zu tränken. Jetzt schwappt das Wasser über den Rand und lässt mich leise fluchen.

Wieso kann ich mich nicht mehr konzentrieren? 

Ich hätte nie gedacht, dass es mal so anstrengend sein könnte, jemanden zu wollen. Und verdammt, ich will Jaime. Am liebsten jetzt sofort - und genau das ist mein Problem.

Mehr als die Zähne zusammenzukneifen bleibt mir nicht übrig, während ich dem nicht ganz ausgewachsenen Fuchshengst das Wasser hinstelle und warte, bis er sich herantraut und trinkt. Mein Blick wandert über seine noch hagere, untrainierte Gestalt und die lange, an den Spitzen ausgeblichene Mähne, die ihm in die großen Augen fällt.

Er heißt Lucky Strike, das habe ich aus einer Unterhaltung von Jesse und Joe mitbekommen, als er vor drei Tagen hier auf der Ranch angekommen ist. Als der Kleine fertig getrunken hat, nehme ich den Eimer wieder mit und stapfe in Gedanken versunken zurück in die Stallungen, um Peter Pan fertig zu machen.

Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, kann er wieder geritten werden. Zwar nur im Schritt und ich muss immer noch aufpassen, aber immerhin muss der Arme nicht mehr nur rumstehen.

Als ich mit dem Sattel und der Trense in den Armen an seine Box komme, schießt sofort sein Kopf hoch und er stößt ein bollerndes Wiehern aus.

Grinsend lade ich die Sachen auf meinen Armen ab und öffne die Boxentür, um den Wallach ordentlich begrüßen zu können.

"Hallo mein Kleiner", murmle ich und merke wieder einmal, wie meine Stimme eine ganz besondere Tonlage annimmt - so zärtlich rede ich nur mit Pan. Ich glaube nicht, dass mir irgendwas wichtiger ist als dieses Pferd. Dafür hat er schon zu viel für mich getan und zu viel mitgemacht in den 12 Jahren, die ich ihn habe.

"Dann lass uns mal einen Ausflug machen, was sagst du?"

Er lässt sich das Halfter überziehen, während sein breites Maul liebevoll an meiner Schulter herumspielt. Schmunzelnd streiche ich ihm über die Stirn und kraule eines seiner langen, weichen Ohren.

Gerade als ich ihn an dem Ring vor seiner Boxentür anbinde, ertönen Schritte hinter mir, die ich mittlerweile blind zuordnen kann. Leises Prickeln zuckt durch meine Magengrube und ich hebe den Blick voller Erwartung.

Jaime, anziehend wie eh und je, kommt durch die Stallgasse auf mich zu. Überrascht stelle ich jedoch fest, das der Blick, den er mir unter der Krempe seines Huts hervor zuwirft, voller Trauer und Bedauern ist.

Sofort alarmiert lasse ich die Bürste in meiner Hand fallen und eile um Peter Pan herum auf den blonden Cowboy zu. 

"Hey, was ist passiert?", frage ich ihn vorsichtig und will ihm eigentlich nur den Hut ein wenig aus dem Gesicht schieben, um ihn besser ansehen zu können. Jaime jedoch schlingt seine Arme um mich und umarmt mich wohl mit aller Kraft, denn mir bleibt kurz die Luft weg.

Ich will mich schon beschweren, doch dann spüre ich seinen abgehackten Atem an meiner Halsbeuge und verkneife es mir. Irgendwas ist ganz und gar nicht in Ordnung.

"Jaime?", frage ich, aber es ist mehr ein leises Raunen. 

Er hebt den Kopf von meiner Schulter und sieht mir ins Gesicht. Jetzt kann ich seine geröteten Augen erkennen. Schließlich holt er tief Luft und murmelt: "Sie holen Coco heute schon ab. Ich wusste nichts davon, wollte sie gerade reiten und dann kommen die mit ihrem polierten, nagelneuen Hänger und wollen sie einfach mitnehmen."

Seufzend streiche ich ihm über die Arme. Coco steht erst seit kurzem zum Verkauf, aber eine reiche Familie aus Florida hat sie sofort ins Auge gefasst. Die Übergabe sollte eigentlich erst nächste Woche stattfinden und Jaime hatte alles so eingerichtet, dass er an dem Tag nicht hier ist.

Ich kann in etwa nachvollziehen, wie sehr er an der kleinen schwarzen Stute hängen muss, in die er so viel investiert hat, nur um sie jetzt mit solchem Schnöseln wegfahren zu sehen. Dass es heute so überraschend passiert, hat ihn offensichtlich hart getroffen.

Gerade, als ich den Mund öffne und hoffe, dass mir irgendetwas tröstendes einfällt, fragt Jaime mit einem hoffnungsvollen Unterton:

"Können wir ausreiten?"

Als ich überrascht die Augenbrauen hochziehe, erklärt er, jetzt mit mehr Energie in der Stimme: "Ein Ausritt, einfach nur raus hier. Wir nehmen ein Zelt mit und bleiben draußen, bis die Luft hier wieder rein ist. 

Bitte, Chester, ich kann das nicht mit neutraler Miene mit ansehen. Ich brauche eine Ablenkung."

Er blickt mir bittend in die Augen, sodass mir gar nichts anderes übrig bleibt, als ergeben zu nicken. Ich wollte ja sowieso ausreiten. Und dass wir uns gegenseitig ablenken können, haben wir in den letzten Tagen ja zuhauf bewiesen.

"Danke!", haucht er und beugt sich vor um mir einen kurzen, sanften Kuss auf die Lippen zu hauchen. Gerade als ich den Kuss intensivieren will, löst er sich von mir und lächelt.

"Ich packe dann mal meine Sachen." 

Seufzend nicke ich und beobachte, wie er aus dem Stall eilt. Seit wann bin ich denn so gutmütig und leicht zu überreden?

Peter Pan stößt ein Schnauben aus und hebt ungeduldig sein Vorderbein, wie um mir mitzuteilen, dass ich genug rumgestanden und nichts getan habe. Schnell hebe ich die Bürste auf, die ich fallen gelassen habe und mache mich wieder daran, sein seidiges Fell zu bürsten.

Catch Me, Cowboy!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt