Kapitel 1

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Der Wecker klingelte und riss mich schlagartig aus meinen Träumen. Schweißgebadet lag ich in meinem Bett und atmete schwer. Ich hatte wieder einen dieser schrecklichen Albträume, aus denen man einfach nur fliehen möchte, es aber einfach nicht kann. Da war ich sogar froh, dass der Alarm geklingelt hat. Es war sechs Uhr und ich hatte jetzt genau eine Stunde Zeit, um mich für die Schule fertig zu machen. Ich ging aus meinem Zimmer in das direkt angrenzende Bad, so wie jeden Tag, um eine kalte Dusche zu nehmen, welche ich jetzt unbedingt brauchte. Ich schloss also kurzerhand die Tür ab, zog meinen Schlafanzug aus und schlüpfte in die Dusche. Das kalte Wasser prasselte mir meinen Rücken runter, während sich meine Atmung langsam wieder beruhigte.

Der Albtraum war schrecklich gewesen: Ich wurde von jemandem verfolgt und rannte so schnell ich nur konnte, doch es gab einfach kein Entkommen . Er war schneller als ich und hatte mich im Handumdrehen eingeholt. Die Person ergriff mich am Handgelenk, doch ich schaffte es mich loszureißen und stolperte ungeschickt die Treppe hinunter. Hastig rannte ich weiter, ohne mich nach hinten umzusehen und als ich endlich dachte, die Luft wäre rein, blieb ich stehen und lehnte mich an einem Spind an. Schwer atmend und mit einem Herzrasen stand ich da, bis ich meinen Blick nach links wendete und direkt in das Gesicht des maskierten Unbekannten schaute. Ohne überhaupt eine Möglichkeit zum Handeln zu bekommen, ergriff er mich und schlängelte seinen Arm um meinen Hals, sodass ich kaum Luft bekam. Ich versuchte mich zu wehren, doch die Lage war aussichtslos für mich. In dieser Position verharrte ich, bis ich schließlich endlich aufwachte.

In letzter Zeit plagten mich so viele Albträume, dass ich kaum schlafen wollte und konnte. Als ich fertig mit dem Duschen war, stieg ich vorsichtig aus der Dusche und wickelte mir ein Handtuch um. Anschließend betrachtete ich mich im Spiegel und starrte meinen müden Augen entgegen. Unter meinen blauen Augen, welche heute noch trüber wirkten als sonst, hatten sich starke Augenringe gebildet. Oh man, dann wird es heute mal etwas mehr Make-Up. Ich schmierte mir ungefähr drei Lagen Concealer unter die Augen, welche ich geschickt verblendete, und trug noch etwas Mascara und Lippenbalsam auf. Schon viel besser, jetzt waren noch meine Haare an der Reihe und mit einem Pferdeschwanz verließ ich nun endlich das Bad. Ich hatte noch eine halbe Stunde Zeit, um mich anzuziehen und etwas zu essen, bevor ich mich auf den Weg in die Schule begeben musste. Wieder in meinem Zimmer angekommen, stand ich vor meinem Kleiderschrank und bemühte mich, etwas Passendes zu finden. Ich hatte nicht so viele Klamotten, wie meine beste Freundin Anna. Sie hatte ein riesen Anwesen mit einem traumhaften Zimmer und allem drum und dran. Geldprobleme oder sonstiges hatte sie nie, sie lebte ihr perfektes Leben.

Ich hingegen lebte in einer kleinen Wohnung mitten in London, nichts Großartiges. Nicht, dass ich mich beschwerte, ich war relativ zufrieden, da ich alles hatte, was ich brauchte, aber manchmal wünscht man sich doch ein kleines bisschen mehr, oder nicht? Letztendlich entschied ich mich für ein schlichtes Kleid und eine Jeansjacke, was ich geschickt mit einem Paar weißen Sneakern kombinierte. Anna hatte mich gestern quasi dazu angewiesen, heute ein Kleid zu tragen, damit ich optisch zur Gruppe passte. Seitdem ich mit meiner Mutter nach London gezogen war, wünschte ich mir nichts sehnlicher, als irgendwo dazu zu gehören. Noch nie hatte ich einen bestimmten Platz gehabt, immer war ich die Außenseiterin gewesen. An meinem ersten Tag an der High-School lernte ich dann gleich Anna kennen, welche mich mehr oder weniger direkt für sich selbst beanspruchte. Sie gab mir ein Umstyling, stellte mich ihrer Gruppe vor und seit dem gehörte ich irgendwie dazu. Ich fühlte mich nicht wirklich fehl am Platz, aber ich war auch nicht immer mit allem einverstanden, was sie so taten. Sagte ich je etwas dagegen? Nein! Nicht, weil ich mich nicht traute ihnen meine Meinung zu sagen, sondern weil ich Angst hatte, sie zu verlieren. Sie hatten mich nett aufgenommen und waren auch für mich da gewesen, aber vollkommen vertrauen konnte ich ihnen ehrlich gesagt nicht. Ich wollte nicht allein dastehen, vor allem jetzt, da es schien, dass ich nicht mehr ganz außen vor war.

Ich betrachtete mich im Spiegel, um sicher zu gehen, dass alles passte und nahm schonmal meinen Rucksack mit in die Küche, wo meine Mutter auch schon mit einer Tasse Kaffee auf mich wartete. Meine Eltern hatten sich fast gleich nach meiner Geburt getrennt, meinen Vater lernte ich also nie kennen. Er schien sich nicht um mich zu scheren, sonst hätte er mich ja wohl kontaktiert oder ausfindig gemacht. Na wie auch immer, ich schenkte mir eine Tasse schwarzen Kaffee ein und setzte mich an den kleinen Tisch gegenüber von ihr.

"Guten Morgen, Mama. Gut geschlafen?", lächelte ich ihr entgegen. Zugegebenermaßen war das Lächeln erzwungen, innerlich fühlte ich mich schrecklich, aber das wollte ich nicht an ihr auslassen.

"Naja, könnte besser sein. Und du, mein Schatz?", antwortete sie mir müde. Meine Mutter arbeitete wirklich sehr viel, um uns diese kleine Wohnung zu finanzieren und dafür zu sorgen, dass wir genug zu essen hatten. Es war nicht leicht für uns, insbesondere da wir komplett auf uns allein gestellt waren. Keiner unterstützte uns und wir waren froh, wenn wir über die Runden kamen. Klar hatte Anna uns bereits finanzielle Hilfe angeboten, aber weder ich noch meine Mutter konnten das annehmen. Wir konnten ihr keine Gegenleistung geben und zurückzahlen konnten wir das wahrscheinlich auch nicht, also verzichteten wir darauf.

"Ganz gut!", log ich ihr vor. Eigentlich sagte ich ja immer gerne meine Meinung, aber ich wollte ihre Stimmung nicht noch weiter runter ziehen. "Hör mal, ich muss jetzt los zur Schule. Hab dich lieb, Mama.", sagte ich, nachdem ich meinen Kaffee ausgetrunken hatte.

"Pass auf dich auf, Liebling!", hörte ich noch, bevor ich auch schon die Haustür hinter mir schloss. Ich schlenderte durch die Straßen Londons und betrachtete meine Umgebung, welche ich schon in und auswendig kannte, während ich dazu meine liebste Musik hörte. An einer kleinen Bäckerei machte ich kurz Halt und kaufte mir für später ein Croissant. Die Kassiererin kannte mich schon und lächelte mir zu, als ich das Gebäude wieder verließ. Ich ging weiter und wurde langsam schneller, da ich mir wieder einmal etwas zu viel Zeit gelassen hatte und ich nicht zu spät zum Unterricht kommen wollte. Außerdem erwarteten mich Anna, Fiona und Ashley bestimmt schon. Andererseits, vielleicht auch nicht. Vielleicht bemerkten sie nicht mal, dass ich fehlte. Ganz in Gedanken versunken bemerkte ich nicht, dass die Ampel bereits auf rot geschaltet hatte und wurde beinahe von einem Auto angefahren.

"Hey, pass doch auf!", brüllte er mir entgegen. Klar, war das gerade meine Schuld gewesen, aber da musste er mich nicht gleich so anschreien. Ich zeigte ihm den Mittelfinger und ging provozierend über die Straße, sodass er noch länger warten musste und mir noch dreimal hinterher hupte. Was für ein Idiot, der konnte mich mal!

You're mine - a kidnapper story ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt